Kapitel 12 – Dorgon

Zivilisation. Dieses Wort war vielleicht das bedeutungsvollste für ein Intelligenzwesen. Die Zivilisation verband Wesen verschiedenster Herkunft. Sie war ein Garant für ein Leben in Würde, in Fortschritt und in Sicherheit.

Zivilisation bedeutete Dorgon.

Dorgon stand für Zivilisation. Für Fortschritt, für ein annehmbares Leben eines dorgonischen Bürgers unter den Gesetzen des Reiches, unter der schützenden Hand des Kaisers.

Das Universum war gigantisch. Selbst eine einzige Galaxie, so winzig im kosmischen Vergleich, war beinahe unvorstellbar groß. Die Distanz zwischen den Sonnensystemen war gewaltig. Zwischen den besiedelten Welten lag der dunkle, kalte Weltraum. Leer, einsam, verloren wirkend. Doch wer mit seinem Sternenraumschiff diesen unwirklichen Weg durchquerte und eine Welt des dorgonischen Imperiums erreichte, der durfte sich in Sicherheit wähnen. Der genoss den technologischen und gesellschaftlichen Fortschritt Dorgons. Er erlebte die mächtige, immer währende und moderne dorgonische Zivilisation.

Wo auch nur eine Raumstation des Reiches war, dort galten die Gesetze Dorgons. Dort konnte sich ein Bürger in Sicherheit fühlen.

Dorgon war eine Tradition in Form von Kultur, Muse, Liebe, Militär, Recht und Gerechtigkeit und immer währenden Fortschritts aus Jahrzehntausenden.

Was einst, vor vielen Jahrtausenden, in der ewigen Stadt Dom auf Dorgon seinen kleinen aber beständigen Anfang genommen hatte, erstreckte sich nun über die ganze Galaxis.

Stolz! Ehre! So fühlten echte Dorgonen.

Lasset uns den Stolz unserer Zivilisation weit hinaus ins Universum tragen. So wie es die Götter unter ATUM und DORGON wollten. Lasset uns die Primaten und Barbaren der anderen Sterneninseln kultivieren, auf das sie eines Tages zu mündigen Bürgern des Ewigen Reiches heranwachsen werden.

Hail Dorgon!

Hail dem Kaiser!

Codex A-VII für das kaiserliche Expeditionskorps. Mit dem Zusatz versehen: Lest diese Zeilen und ihr erinnert euch, weshalb ihr fern der Heimat mit Ehre und Stolz die Zivilisation Dorgons im Universum verteilt.

*

Jene Zeilen gehörten vielleicht zu den wichtigsten Informationen, die der camelotische Wissenschaftler Jan Scorbit zusammen mit dem Mausbiber Gucky aus einem Rechner der dorgonischen Konkubine Leslezia hatte erbeuten können.

Denn dieser Codex A-VII sagte viel über die Weltanschauung des Kaiserreiches Dorgon aus.

Doch nun zu einem anderen Thema: Die Mordred war geschlagen. An jenen schicksalhaften Tagen Ende September 1291 NGZ war es den Camelotern, Arkoniden und Ligaterranern gemeinsam gelungen, die gefürchtete Terrororganisation zur Strecke zu bringen.

Dem Terrorkrieg in der Milchstraße war vorerst ein Ende gesetzt. Doch noch immer schwebte die Gefahr durch das geheimnisvolle Kaiserreich Dorgon wie ein Damoklesschwert über uns allen.

Dank Gucky und dem terranischen Wissenschaftler Jan Scorbit wusste man ein wenig mehr über die Dorgonen.

Doch zuerst stand der Silberne Ritter Cauthon Despair im Mittelpunkt. Noch vor einem Jahr hatte Despair als Schrecken, als Geißel der Milchstraße und besonders Camelots gegolten. Nun war er maßgeblich an der Zerschlagung der Mordred beteiligt gewesen.

Was würde nun mit ihm geschehen?

Jaaron Jargon, September 1291 NGZ

Es war eine Ironie des Schicksals. Die Terrororganisation Mordred hatte über Jahre versucht, die Unsterblichenorganisation Camelot zu vernichten und war gescheitert. Ausgerechnet der Begründer selbst, versetzte Camelot Anfang 1292 NGZ den Todesstoß und informierte die übrigen Zellaktivatorträger über die Auflösung Camelots.

Am 16. Dezember 1291 NGZ war Perry Rhodan zum Terranischen Residenten gewählt worden, während Maurenzi Curtiz das Amt des Ersten Terraners übernahm. Nun war Rhodan wieder dort, wo ihn sich viele gewünscht hatten: An der politischen Spitze der Liga Freier Terraner. So sah er keine Notwendigkeit mehr für die Geheimorganisation und löste sie auf. Doch nicht jeder begrüßte diese Entscheidung. Monkey und Homer G. Adams waren entsetzt und schmiedeten ihre eigenen Pläne. Sie zogen Material und gut ausgebildete Männer und Frauen ab. Wohin auch immer. Niemand wusste es, doch musste man auch nicht wirklich besorgt sein. Was auch immer die Zellaktivatorträger planten, es war zum Wohl der Milchstraße. Dass sich die relativ Unsterblichen im Laufe der 3.000 Jahre auch mal stritten und für eine Weile ihre eigenen Wege gingen, das war nichts Besonderes.

Jedenfalls verschwand fast die Hälfte der camelotischen Mitarbeiter in den ersten Novembertagen mitsamt den Anlagen. Selbst die zurückkehrende GILGAMESH verließ Camelot mit unbekanntem Ziel. Rhodan ließ sie gewähren.

Wyll Nordment quittierte in diesen Tagen seinen Dienst und zog sich mit seiner Frau Rosan Orbanashol-Nordment vorerst von den Abenteuern zurück. Sie kauften sich eine kleine aber feine Villa in Chippewa Falls im beschaulichen Bundesstaat Wisconsin. Es gab Gerüchte, wonach die beiden mehr über den Verbleib von Homer G. Adams wussten. Ausgedehnte Urlaubsreisen quer durch die Milchstraße gaben diesen Gerüchten Nährboden.

Mir altem, armen Mann sagte man jedenfalls nicht, wo sich mein Freund Adams verbarg. Ab und an meldete sich der alte Kauz bei mir. Doch die Standartantwort auf meine bohrende Frage lautete: »Du schreibst das sowieso in deine Chronik und jeder weiß es sofort. Versprochen, eines Tages erfährst du es und wirst darüber exklusiv berichten können.«

Damit endete das Kapitel Camelot. Ein Teil der Unsterblichenriege befand sich wieder auf ihrer Heimat, der Erde. Julian Tifflor bekleidete fortan den Posten des Residenz-Ministers für LFT-Außenpolitik. Auch Reginald Bull und Gucky kehrten zurück.

Michael Rhodan lag in einem künstlichen Koma auf Mimas. Die anderen Zellaktivatorträger befanden sich in den Weiten des Kosmos. Atlan, Icho Tolot, Myles Kantor, Ronald Tekener und Dao-Lin-H’ay reisten mit der SOL fernen Galaxien entgegen.

Die Wahl Rhodans zum Terranischen Residenten war nicht überall auf Gegenliebe gestoßen. Die einen sprachen von der Renaissance des Faschismus, die anderen verteufelten Rhodan als pazifistischen Kommunisten. Wie auch immer, es war schwer, es jedem recht zu machen.

Jedenfalls versprach Rhodan den LFT-Bürgern und sich selbst, die kommenden Jahre dafür zu nutzen, sich voll und ganz der LFT zu widmen und einen starken wenngleich auch friedlichen Gegenpol zum Kristallimperium aufzubauen.

Freilich, er fand auch Befürworter. Joak Cascal und Sandal Tolk stellten sich mit der TAKVORIAN in den Dienst der LFT. Ebenso Xavier Jeamour geschlossen mit der gesamten Crew der IVANHOE. Der terranische Wissenschaftler Jan Scorbit hingegen, welcher zusammen mit Gucky auf dem dorgonischen Adlerraumschiff HESOPHIA wichtige Erkenntnisse über die Dorgonen erlangt hatte, schloss sich Monkey und Adams an.

So trennten sich die Wege vieler. Und einer profitierte von der Auflösung Camelots besonders: Cauthon Despair. Wo kein Kläger, da keine Klage.

Der galaktische Gerichtshof auf Mirkandol lehnte eine Anklage gegen Despair ab, da es offiziell nicht in der Gerichtsbarkeit lag. Despair hätte seine Verbrechen vornehmlich gegen Einrichtungen Camelots begangen, so sei es der Justiz von Phoenix überlassen, Anklage einzureichen oder zu erheben. Doch da Camelot sich auflöste, kümmerte sich niemand um Despair.

Im Gegenteil: In der Liga Freier Terraner und im Kristallimperium gab es jede Menge Fans des Silbernen Ritters, die seine Freilassung forderten. Despair wurde als Gefangener nun auf Terra eingebuchtet. Allerdings wurde er offiziell nur in Sicherungsverwahrung genommen, bis geprüft wurde, ob er an Verbrechen gegen die LFT beteiligt war. Das Desinteresse an einer Anklage gegen Despair war ungeheuerlich. Es wunderte mich doch sehr und immer wieder fragte ich mich, ob System dahinter steckte, während ich diese Zeilen in meinem Wintergarten in Siena schrieb. Draußen schneite es mal wieder.

Meine Nichte Nataly war zu Besuch. Sie war zu einer hübschen, jungen Frau herangewachsen. Doch ich schweife vom Thema ab. Es wurde gemunkelt, dass die LFT versuchte, Despair vor einer Verurteilung zu bewahren, da man durchaus Verwendung für ihn hatte. Perry Rhodan selbst hätte sich für Despair eingesetzt, nachdem das Galaktikum eine Anklage abgelehnt hatte.

Doch Cauthon Despair schien weitere, mächtige Verbündete zu besitzen. Eine Lobby aus einflussreichen Industriellen, allen voran Michael Shorne, und Militärs setzte sich für Despair ein. Waren sie vielleicht mit der Mordred eng verstrickt gewesen?

Jedenfalls hieß es unter verdeckter Hand, dass den Überlebenden von Sverigor, sofern sie Despair beim Galaktikum anklagen wollten, ebenso eine Anklage drohte und sie erst einmal beweisen mussten, dass sie nicht zur Korrektheitsbehörde gehörten. Meine Kontakte berichteten, dass mächtige Anwälte dahinter steckten, die einerseits von der Shorne Industry-Gesellschaft und auf der arkonidischen Seite von Uwahn Jenmuhs bezahlt wurden.

Es erschien im Februar 1292 NGZ immer unwahrscheinlicher, dass Despair jemals angeklagt wurde. Niemand schien sich noch großartig um die zwei Milliarden Opfer von Sverigor zu scheren. Im Gegenteil: Das arkonidische Kristallimperium hatte die Sverigen aufgrund ihrer Korrektheitsbehörde posthum als Imperiumsfeinde deklariert. In der LFT wurde zwar der Opfer gedacht und immer wieder über die Tragödie berichtet, doch die Schuld sahen die Terraner bei Wirsal Cell, den Dorgonen und der sverigischen Korrektheitsbehörde.

Mir war nicht wohl bei dem Gedanken, dass der angeblich geläuterte Cauthon Despair ohne Bestrafung frei kommen würde. Auch missfiel es mir alten linguidischen, terranischen und arkonidischen Narren, dass Perry Rhodan offenbar plante, mit Despair zusammenzuarbeiten, ihm eine zweite Chance zu geben.

Im März kam es dann doch zu einer Anklage vor dem Liga-Gerichtshof in New York. Despair wurde der Mittäterschaft für die Entführung der LONDON angeklagt. Ebenso wurde er für Vernichtungen auf Plophos, Imart und Olymp verantwortlich gemacht, die im Rahmen des Krieges gegen Camelot entstanden waren.

Ein Staranwaltsteam der Shorne Industries-Gesellschaft verteidigte Despair. Zwar wurde der Silberne Ritter im April für schuldig befunden, doch aufgrund seiner tragischen Jugend und seiner Bereitschaft zur Besserung, als auch seiner Hilfe bei der Zerschlagung der Mordred wurde er zu 50 Jahren Gefängnis auf Bewährung sowie Reparationszahlungen von 27 Milliarden Galax an die Geschädigten verurteilt.

Die SIG richtete auf Shornes Geheiß hin, einen Fonds für Despair ein und übernahm die Schadensersatzzahlungen. Der Name Michael Shorne war nun wieder in aller Munde. Die Medien fragten sich, wieso Shorne sich so für Despair einsetzte. Dabei inszenierte sich Shorne als Wohltäter, der jedem eine zweite Chance geben würde.

Abseits davon wurden acht Raumschiffe der NOVA-Klasse bereits seit September letzten Jahres für eine nahende Expedition in die Galaxie M100, Dorgon, vorbereitet.

Mit der Ankunft der SAGRITON Ende Mai 1292 NGZ nahmen die Dinge ihren Lauf…

Jaaron Jargon, Mai 1292 NGZ