Band 121
Die Rhodanmystiker
Kopfgeldjäger auf der Suche nach Perry Rhodans Vermächtnis
Autor: Nils Hirseland
Cover: Gaby Hylla
Innenillustrationen: Gaby Hylla, Stefan Wepil, Raimund Peter
DORGON ist eine nichtkommerzielle Fan-Publikation der PERRY
RHODAN-FanZentrale. Die FanFiktion ist von Fans für Fans der PERRY
RHODAN-Serie geschrieben.
Hauptpersonen des Romans
Nathaniel Creen
Ein Kopfgeldjäger sucht nach Rhodanmystikern und seiner
Vergangenheit
Hunter
Ein Rhodanjäger zeigt seine Brutalität
Kuvad »Tai« Soothorn
Ein obskurer Springer
Eleonore
Die Positronik der NOVA beginnt mit einem Lebensprojekt
Rasha, Wulfar und Otnand
Eine MaMe und ihre Mitarbeiter suchen nach mehr Stalkys
Myka Bilno
Die Assistentin von Kulag Milton lernt neue Freunde kennen
Vopp ter Camperna
Der onyronische Ziehsohn der Ragana
Inhalt
Hauptpersonen des Romans 2
Inhalt 3
Prolog 5
1. Paradise-Isch 9
2. Die SEESTERN 15
3. Die Meinungsmacherin 28
4. Die Rhodanmystiker 37
5. Der Geschmack von Delap 45
6. Die virtuelle Welt 48
7. Das Verhör 57
8. Dem WIDDER auf der Spur 63
Epilog 72
Vorschau 75
Glossar 77
Impressum 81
Was bisher geschah
Wir schreiben das Jahr 2046 Neuer Galaktischer Zeitrechnung, was
dem Jahre 5633 alter terranischer Zeitrechnung entspricht. Ein
Begriff, mit dem die Galaktiker nichts mehr anzufangen wissen. Es
ist die Epoche des Cairanischen Friedens, in der Terra ein Mythos ist
und Perry Rhodan eine Märchengestalt.
Terra ist verschwunden und förmlich aus der Geschichte der
Milchstraße getilgt. Durch den Posizid wurden galaxisweit Daten
von Positroniken gelöscht. Mit der Datensintflut wurden Unmengen
an sich widersprechenden Daten eingespielt.
Das Terranische Odium, eine sechsdimensionale Strahlung,
verhindert, dass Galaktiker an Terra denken können. So ist nach
mehr als 500 Jahren aus der Milchstraße eine Galaxie geworden, in
der das Wirken der Terraner in den vergangenen 3.600 Jahren
vergessen zu sein scheint.
In der Liga Freier Galaktiker wird dank Reginald Bull die
Erinnerung an die Erde und den Mond hochgehalten, doch selbst
nach Perry Rhodans und Atlans Rückkehr ist es schwer, das fehlende
Wissen und Misstrauen zu überbrücken.
In dieser Zeit steht der Kopfgeldjäger Nathaniel Creen in den
Diensten der Camperna Cloud Agency Company. Als Pilot des
Space-Jets NOVA sucht er nach Flüchtigen. Sein Kommandant ist
der harte tefrodische Kopfgeldjäger Hunter.
Sie suchen nach Terranern, nach sogenannten Rhodanmystikern,
jenen, die an die Existenz der Erde glauben.
Die Rhodanjäger Nathaniel Creen und Hunter wollen im Auftrag der
CACC Sorge tragen, dass das Vermächtnis von Perry Rhodan und
den Terranern auch weiterhin in Vergessenheit bleibt. Sie suchen
nach Gruppierungen außerhalb der LFG, welche an die Existenz von
Terra und Rhodan glauben. Diese Gruppen werden als
Verschwörungstheoretiker abgestempelt. Die Rhodanjäger begeben
sich in das Luce-System, auf der Jagd nach diesen Terranern.
Denn diese sind DIE RHODANMYSTIKER…
Prolog
Ich hatte mich an die Einsamkeit gewöhnt, sie vorerst akzeptiert und die
Vergangenheit losgelassen. Ich machte weiter, existierte und behielt den
Auftrag im Auge.
Loslassen, ja!
Vergessen, nein!
Ich würde ihr Gesicht niemals vergessen. Ihr dunkles Haar, ihre
wundervollen braunen Augen, ihr warmes Lächeln und ihre sanfte Stimme.
Den Frieden und die Geborgenheit, die ich in ihrer Gegenwart gefühlt hatte.
So lebendig war ich gewesen.
Und nun war ich zwar nicht tot, doch ich fühlte mich so. Schon seit langer,
langer Zeit.
Ich durchstreifte die Tiefe des Chaos.
Eine surreale Welt, in der die Physik ihre Gesetze verloren hatte.
Unwirtliche Planeten – wie Ketten aneinandergereiht – durchzogen diese
Hölle. Zeit und Raum kollidierten, verschmolzen miteinander, eröffneten
Zeitlinien und Zeitportale. Milliarden von Seelen wanderten auf den
Protowelten umher. Sie hatten im Schleier der Lethe ihre ursprüngliche
Existenz vergessen, und auch ich rang immer wieder mit den Wirkungen
dieser Psychose. Was war real und was bildete ich mir ein? Welche
Erinnerungen waren trügerisch und welche nur Wunschgedanken? Wie
lange war ich schon in der Tiefe des Chaos? Jahre? Jahrhunderte?
Osiris Segen war auch ein Fluch gewesen und doch die einzige
Möglichkeit, die Dinge in Ordnung zu bringen.
Mein silbernes, pfeilförmiges Raumschiff war mir seit jener Zeit in der
Tiefe des Chaos ein Zuhause gewesen. Einen Namen hatte das Schiff nicht.
Es war eines der acht Kosmogenen Segler.
Mein einziger treuer Begleiter in dieser Zeit war Bencho, ein positronisch-
biologischer Hund. Ein Posbi. Die Lebenserwartung des Posbi-Hundes war
natürlich weitaus höher als die eines gewöhnlichen Tieres. Bencho musste
schon alt sein.
Das Zeitgefühl war verloren gegangen.
Ich blickte in die braunen Augen des Posbi-Hundes und streichelte sein
weiß-braunes Fell. Bencho hatte einen ausgeprägten Kiefer und eine
Kniehöhe von 50 Zentimetern. Er verstand weitaus mehr als ein normales
Tier, was ich sagte, jedoch vermochte er nicht mit mir zu kommunizieren.
Mein Raumschiff passierte einen blauen Gasriesen. Wilde Stürme zischten
über die Oberfläche und wirbelten die Methanatmosphäre auf. Nur 350.000
Kilometer weiter erreichte das Schiff die nächste Welt. Sie war von
Lavaströmen übersät. Die schwarze Oberfläche wurde von zahlreichen
feuerroten Flüssen durchzogen. Dieser Planet war deutlich kleiner als der
blaue Riese. Nach normalen physikalischen Gesetzen hätte die
Anziehungskraft der Gaswelt die Lavawelt anziehen müssen, doch er blieb
in seiner Bahn, besser gesagt, in der Linie. In drei Millionen Kilometern
Entfernung schien eine gelbe Sonne. Die Sonnen in der Tiefe des Chaos
waren in einer separaten Linie angeordnet, exakt mit einem Abstand
zwischen drei und sieben Millionen Kilometern. Dahinter verbarg sich ein
Nebel, der Schleier der Lethe. Dort war die Tiefe des Chaos zu Ende. Die
Tiefe war wie eine Doppelhelix geformt. Sie hatte einen Durchmesser von
zehn Millionen Kilometern und schien endlos zu sein.
Es gab einige hundert Lücken in der Planetenkette, und manche Welten
waren nicht in Reih und Glied. Oft entstanden an dieser Stelle Anker,
temporale Anomalien, die ein Portal ins Normaluniversum bildeten.
Die Tiefe des Chaos erschien mir wie eine komprimierte
Aneinanderreihung eines Universums. Als würde der Weltraum zwischen
den Gestirnen nicht mehr existieren. Die Gravitation all dieser Planeten,
Sonnen und Monde machte diese Konstellation physikalisch unmöglich,
und doch existierte sie. Ich musste an einen altklugen Trivid-
Wissenschaftler denken, der wortgewandt und flapsig das Universum
erklärt hatte. Der hatte immer gewusst, was unmöglich gewesen war. Er
hätte diese Tiefe des Chaos kategorisch ausgeschlossen und müde belächelt.
Doch was wussten wir schon? Wir konnten doch nur Vermutungen äußern,
basierend auf unserem Wissens. Und wir waren nicht allwissend. Das
Universum war voller Wunder und Geheimnisse, die für normale
Lebewesen unbegreiflich waren. Je mehr wir glaubten, wir hätten den
Kosmos ergründet, desto mehr stellten wir fest, dass unser Wissen begrenzt
war.
Was vermochte ich schon zu wissen? Ich war noch jung im Vergleich zu
einem Perry Rhodan oder Atlan. Und sie waren Küken, betrachtete man
Osiris oder Eorthors, den Alysker.
Ich steuerte das Raumschiff an zwei kargen Monden mit rotem Sand und
Gestein vorbei und tauchte in den Ring eines gelben Riesen ein. Feinste
Staub- und Eispartikel prasselten auf die Außenhülle meines Schiffes. Sie
waren harmlos und konnten der Legierung nichts anhaben. Ich musste nicht
einmal den Schutzschirm aktivieren.
Ich erkannte ein blasses Leuchten in 4.000 Kilometern Entfernung und
steuerte das Raumschiff dorthin. Die Abtastung funktionierte nur bedingt.
Es gab hier auch nichts zu orten. Was ich sah, war das verschwommene,
längst vergangene Zerrbild eines Raumschiffes, ein Hauch aus der
Vergangenheit. Diese Geisterschiffe waren regelmäßig in der Tiefe des
Chaos anzutreffen. Das Schiff war modular gebaut. Der kastenförmige
Rumpf war um kugelförmige und zylinderförmige Module ergänzt. Ich flog
vorbei und sah, wie zwei Schatten an der Außenwand des Geisterschiffs
tanzten. Sie waren in etwa humanoid, hielten sich an den Händen, als
wollten sie verhindern, dass sie in die Tiefen des Alls abdrifteten. Waren es
Abbilder der Crew dieses Raumers? War das ein Hinweis auf ihr Schicksal?
Möglich, dass der Rumpf beschädigt worden war und die
Besatzungsmitglieder in den Weltraum geschleudert worden waren. Wie
lange mochte das her sein? Jahrhunderte? Jahrtausende?
Ich erhöhte den Gegenschub und verringerte die Geschwindigkeit meines
Raumschiffes, so dass es langsam an diesem Weltraumgrab vorbei glitt. Im
Zentrum des Kubus war ein Riss zu erkennen, ein leichtes Schimmern
formte den Umriss des Lochs. Wie hinter einem Schleier erkannte ich das
Innere des Schiffes.
Ein Geist im Weltraum. © Gaby Hylla
Was war das? Die Form eines Objektes ließ auf ein humanoides Wesen
schließen. Ich vergrößerte den Zoom der Außenkamera. Ein kalter Schauer
lief mir über den Rücken. Die Leiche hätte Saggittonin, Terranerin sein
können. Sie trug ein weißes Kleid, das ihr bis zu den Knien reichte.
Möglich, dass es sich um ein Nachthemd handelte. War sie im Schlaf vom
Tod überrascht worden? Das helle Haar war zu einer ungebändigten Mähne
aufgebaut. Die Haut war bleich, die hellblauen Augen in Entsetzen weit
aufgerissen, so wie der Mund, als ob sie noch nach Luft ringen würde. Der
rechte Arm ausgestreckt, die Hand geöffnet. Sie schien noch im Tode nach
einer helfenden Hand greifen zu wollen.
Entgegen aller Vernunft steuerte ich das Raumschiff direkt zum
Geisterschemen. Ich war nun nahe genug, um in den Einfluss dieses Echos
aus der Vergangenheit zu kommen. Genauer gesagt, um es zu spüren. Ich
zuckte kurz zusammen, als ich Schreie in meinem Kopf vernahm: Die
Raumfahrer gerieten in einen Meteoritenschauer und waren überrascht und
überfordert. Die Meteoriten zerstörten die Hülle. Alles ging schnell. Das
Liebespaar umarmte sich, hielt sich verzweifelt an den Händen. Der einzige
Wunsch war, im Tode vereint zu sein und nicht alleine im kalten, dunklen
Weltraum zu schweben. Sie wurden hinausgezogen. Die weiße Frau war
jedoch allein, hatte keinen Dienst gehabt und geschlafen. Der Krach hatte
sie geweckt, da war die Katastrophe schon unabwendbar gewesen. Sie rang
nach Luft, hielt sich im Raumschiff fest und erstickte, nachdem der
Sauerstoff in das Weltall gedrückt worden war. Ihr letzter Gedanke hatte
den verpassten Gelegenheiten in ihrem Leben gegolten. Der verpassten
Liebe, der verpassten Familie – für einen Ausflug in den Weltraum. Sie
hatte sich Erleuchtung im Kosmos erhofft und war nicht einmal bis zum
Nachbarplaneten ihrer Heimatwelt gekommen.
Ich erfuhr nicht, um welche Welt oder Spezies es sich handelte. Oder
welche technischen Möglichkeiten sie einst gehabt hatten. Es waren drei
Raumfahrer gewesen, die zu den Sternen aufgebrochen und an den
Gefahren gescheitert waren. Sie waren vor Jahrtausenden gestorben. Ich
fühlte ihr Leid und ihre Verzweiflung im Todeskampf. Ich schloss die
Augen, spürte Benchos Kopf an meinen Beinen. Er versuchte mich zu
trösten. Ich tätschelte den Kopf des Hundes, dann öffnete ich wieder die
Augen, warf einen letzten Blick auf den traurigen, beklemmenden Anblick
des Geisterschiffes und verließ diesen Sektor.
Ich verdrängte den Gedanken an die einsame Leiche im weißen
Nachthemd.
Vor mir lag eine Welt mit kargen, dunklen Landschaften, die von einer
dichten, toxischen Wolkendecke verdeckt wurden. Sie trug den
eigentümlichen Namen 321-Rückwärts. Es war einer der devolutionierten
Planeten, die aus dem Normaluniversum durch Temporale Anomalien aus
dem Normaluniversum gerissen worden waren.
Zum einen benötigte ich neue Vorräte, Nahrung und Wasser, denn die
nächste Terra-Station war zu weit entfernt, und zum anderen suchte ich den
richtigen Ausgang aus der Tiefe des Chaos. Es gab Lebensformen auf der
Welt und darunter auch Händler.
Das Raumschiff tauchte in die Atmosphäre ein und wurde automatisch
durch die Reibung abgebremst. Der Rumpf glühte, weil die kinetische
Energie in Wärme umgewandelt wurde. Das Schiff durchflog eine dichte
Wolkendecke. Es war dunkel auf der gesamten Welt. Es war ein tristes
Grau, denn die Wolken ließen nur wenig Licht der Sonnen durch. Ein
ständiger Sturm aus Asche und Sand peitschte über die Oberfläche. Es war
ein Bild, das sich mir schon oft auf den bewohnten Planeten in der Tiefe des
Chaos geboten hatte.
Es gab viele Portale – und sie mündeten in anderen Zeiten und
unterschiedlichen Zeitlinien. Man konnte sich darin verlieren und niemals
mehr in die eigene Zeitlinie zurückfinden. Die Tiefe des Chaos war übersät
mit wilden, ungebändigten temporalen Anomalien. Sie verursachten
Hyperstürme, dort, wo sich Zeitlinien überlappten und um die Vorherrschaft
kämpften. In der einen Zeitlinie verging eine Welt, in einer anderen wurde
sie erschaffen – oder sie landete in der Tiefe des Chaos. Ob alle
aneinandergereihten Planeten aus unterschiedlichen Zeitlinien stammten?
Eine Frage, die ich mir stellte, seitdem ich hier war. Wie lange das auch sein
mochte.
Der Schleier der Lethe trübte meine Erinnerungen und mein Zeitgefühl.
Eines wusste ich jedoch: dass ich ein Gefangener in der Tiefe des Chaos
war und einen Ausweg finden musste, denn sonst war ich verloren.
1. Paradise-Isch
7. Februar 2046 NGZ
Taris VI – Paradise-Isch
Myka Bilno
Das warme Wasser umspülte sanft ihre Beine. Eyilon-Delap stand bis zu
den Knien in den Fluten und blickte auf den türkisfarbenen Ozean, der vor
ihr lag. Es war paradiesisch. Nicht ohne Grund trug dieser Planet den
markanten Namen Paradise-Isch. Zweifellos das gekonnte Wortspiel eines
genialen Marketingstrategen. Sie bewunderte solche Lebewesen, die sich so
eloquent ausdrücken konnten. Sie selbst war im Herzen ebenfalls eine
Künstlerin, doch im wahren Leben die Sekretärin des einflussreichen
Raumschiffhändlers Kulag Milton. Auch Milton war jemand, der es
verstand, sich gut auszudrücken. Seine Sprache faszinierte sie immer
wieder. Eyilon-Delap verstand nicht, wieso sie ausgerechnet jetzt in ihrem
Urlaub an Milton denken musste. Es war wohl seine erotische, männliche
Ausstrahlung. Ihr wurde unbehaglich, und ihre Ängste griffen nach ihr. Sie
befürchtete eine Panikattacke und zwang sich, an etwas Schönes zu denken.
Das Meer.
Das warme Wasser.
Sie hob ihr Bein: das Nass perlte von ihrem rechten Fuß. Dabei
betrachtete sie ihre Tätowierung. Die goldene Sternschnuppe zog sich von
ihrem Knöchel über den Fußrücken bis kurz vor ihre Zehen. Hatte es an
Farbe verloren? Sie musterte es nachdenklich, verlor aber langsam die
Balance und senkte den Fuß wieder auf festen Grund.
Sollte sie weitergehen? Noch tiefer? Aber was war, wenn es gefräßige
Fische gab? Nein, so war es sicher. Nur ein Stück weiter bis zur Hüfte. Sie
zuckte kurz. Das Wasser war kühler als gedacht. Sie kicherte und sah sich
um. Vor ihr lag nur das hellblaue Wasser. Vereinzelt schwebten Gleiter in
weiter Ferne vorbei. Hinter ihr lag der weiße Strand mit den grünen
Palmen, dahinter die ausladende Strandbar, die jetzt nur spärlich besucht
war. Dann begann der ausgedehnte Wald, der sie an den dichten Dschungel
auf der Welt Benjamin, dem zweiten Planeten ihres Heimatsystems
Ephelegon, erinnerte.
Einzig bedrückend, ja nahezu beängstigend war das CACC-Resort
SEESTERN. Langsam hob Eyilon-Delap den Blick in den Himmel.
Bedrohlich schwebte das 500 Meter durchmessende, diskusförmige
Raumschiff-Hotel über ihrem Kopf. Sie fühlte sich eingeengt, so als würde
das Raumschiff jeden Moment herunterstürzen und sie zerquetschen.
Die SEESTERN beherbergte an diesem Tag mehr als 3.000 Passagiere
und hatte auf Taris-VI, so der eigentliche Name von Paradise-Isch, für fünf
Tage Station bezogen, damit die Urlauber sich auf dieser Welt vergnügen
konnten. Bald würde es nach Rudyn zurückkehren, 2.217 Lichtjahre vom
Taris-System entfernt. Bald war ihr Urlaub vorbei. Sie atmete tief durch,
war wieder betrübt. Ach, die zwei Sonnen schienen so hell und lieblich. Ihr
Herz jauchzte, doch im nächsten Moment war es so, als würde es ihr
jemand herausreißen. Was Kulag jetzt wohl machte? Vermutlich vergnügte
er sich mit der alten Sagreta. Das tat so weh.
Eyilon-Delap ballte die Hände zu Fäusten. Sie musste gegen ihre
Depressionen ankämpfen. Sie schloss die Augen und spürte die Lichtwesen
durch sie strömen, damit sie ihre DNS reparieren würden. Nichts anderes
war Urlaub als die Neustrukturierung der DNS, um sie von dem Übel und
den Schadstofffrequenzen des Alltags zu befreien. Der Kosmos war voll
von schädlichen Frequenzen. Sternenstaub, Hyperfunk – die Liste war
endlos, doch sie war tapfer und musste da durch. Jetzt einmal abschalten
und blaumachen. Blaumachen von der Arbeit, von den quälenden Gedanken
an die Milton Company. Nur wenn ihr Geist frei war, konnten die
Lichtwesen ihre DNS reinigen. Auf Taris-VI schien oft die Sonne. Das half
ihr, denn die Sonnenstrahlen bestärkten sie in ihrem Tun. Die gehörlose
Resonanz, auf denen die Lichtwesen sendeten, spendete ihr Vitamine und
Energie. Nach dem Urlaub in Paradise-Isch war sie gesund, und ihr
Immunsystem so stark wie nie zuvor. Mutig tauchte sie in das kühle Nass
ein und schwamm einige Meter. Sie beobachtete kugelförmige, silberne
Springfische, die fast einen halben Meter aus dem Wasser hüpften und
wieder hineinplatschten.
Dann machte sie kehrt, ließ sich langsam von den sanften Wellen zum
Strand treiben, bis sie aufstehen musste und den Rest zu Fuß zurücklegte.
Der alte Mann an der Strandbar winkte ihr zu. Die Einheimischen und
Touristen nannten Obglarch den „Alten“. Der Tariser hatte einen kahlen,
kegelförmigen Kopf, und sein Spitzbart reichte bis an seinen Bauchnabel.
Er trug sein buntes Hemd offen, so dass sie auch genau sah, bis wohin der
Bart reichte. Die idyllische Bar im Holzstil mit dem Reetdach war noch
leer. Aber es duftete bereits nach frischem Kaffee und Friteusenfett.
Ich will Pommes, setzte sie sich jetzt in den Kopf. Pommes mit
Minzesauce und dazu einen entkoffeinierten herz- und magenschonenden
Kaffee.
»Talutscho-Tarsi, junge Frau Bilno«, grüßte Obglarch.
Sie winkte ab.
»Ach, meine Freunde nennen mich Myka oder Eyilon-Delap.«
Der Barmann lachte.
»Weil du im arkonidischen Monat Eyilon geboren wurdest und süß wie
eine Delap bist?«
Sie kicherte. Wie herzlich und nett er doch war.
Obglarch hustete kurz und bereitete Myka Bilno einen Kaffee zu.
»Schwach wie ein Swoon im Armdrücken gegen einen Oxtorner. Bitte
sehr, kleine Lady.«
Sie stellte sich vor, wie so ein kleiner, gurkenförmiger Swoon mit seinen
winzigen Ärmchen gegen einen massiven, kräftigen kahlköpfigen Oxtorner
armdrücken würde. Das war eher Fingerhakeln, denn die Swoon waren
gerade einmal durchschnittlich 30 Zentimeter groß und berühmt für ihre
Arbeit in der Mikrotechnologie. Die Oxtorner waren durch die
Umwelteinflüsse auf ihrem Heimatplaneten kräftig und besaßen eine harte,
panzerartige Haut. Nein, der Wettbewerb würde nicht gut ausgehen.
Sie bedankte sich, nahm einen Schluck, stellte den Kaffee auf den Tresen
und fächelte sich mit der Hand Luft zu. Der war aber stark. Hoffentlich
würde sie keinen Herzkasper bekommen.
Fünf Meter weiter saßen die Shoehes. Ein älteres Ehepaar, dem eine Suite
auf dem CACC-Resort über ihnen gehörte. Einmal im Jahr reisten die
Rudyner mit der SEESTERN selber mit, anstatt ihre Kabine an Urlauber zu
vermieten. Myka konnte es ihnen nicht verdenken. Wenn sie eine Suite
hätte, würde sie die auch benutzen wollen. Aber bei ihrem Gehalt war das
schwer vorstellbar, es sei denn, der liebe Kulag würde sie unterstützen,
denn der hatte ja Geld wie Sand am Meer.
Bufra Shoehe winkte ihr zu, und sie ging zu dem Ehepaar. Alfredo Shoehe
schlürfte mürrisch eine kalte Cocktail-Suppe, während Bufra mit ihrem
ebenso betagten, graufelligen Hund sprach, der unter der Hitze litt und
hechelte.
»Wie geht es euch?«, fragte Myka brav.
»Ach«, die alte Frau winkte ab. »In unserem Alter tut alles weh. Mein
Mann hat Ekzeme am Hinterteil.«
»Du sollst doch nicht darüber mit anderen reden«, fuhr Alfredo sie an und
wischte sich mit dem Ärmel den Mund ab.
Seine Frau versuchte ihrem Hund vergeblich dazu zu bringen, Pfötchen zu
geben. Alfredo nieste zweimal hintereinander auf den Tisch. Dann wischte
er sich mit dem Ärmel den Rest des Essens vom Gesicht. Myka wurde ganz
übel davon.
»Aua«, machte Bufra Shoehe. »Da hat mich was gestochen«, sagte sie und
begutachtete ihren Oberarm. Sie zeigte auf einen kleinen roten Punkt
zwischen den dicken Adern. »Da, siehst du?«