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Band 75

Quarterium-Zyklus

 

Welt der Insektoiden

Alaska Saedelaere erlebt eine düstere Zukunft

 

Roman Schleifer

 

 

Was bisher geschah Hauptpersonen des Romans
Der dorgonische Kaiser Commanus greift Anfang 1305 NGZ mit einer gigantischen Flotte die Föderation Estartu an und überrennt Siom Som. Die Rebellen in Dorgon unter Saraah suchen verzweifelt in Cartwheel nach Hilfe und nehmen mit der IVANHOE II Kontakt auf, worauf ein Großteil der Crew unter Xavier Jeamour mitsamt der IVANHOE II desertiert und zur USO überläuft.

Ein Treffen der Imperatoren im März 1305 NGZ in Moskau bringt nichts. Im Gegenteil: Die Fronten verhärten sich.

Derweil ist Alaska Saedelaere im geheimnisvollen Grünen Universum gestrandet und erlebt auf einer fremden Welt seltsame Abenteuer.

Er ist gefangen auf der WELT DER INSEKTOIDEN …
Cyvho – Der Assistent von Zarrytor bricht mit der Tradition.

Alaska Saedelaere – Der Terraner ist auf der Flucht.

Zarrytor – Der Mundyn der Insekten schikaniert seinen Assistenten.

Fykkar – Der General ist hinter Alaska her.

Denise Joorn, Leopold und Jaques de Funes – Sie sind einem Geheimnis auf der Spur.

Der Assistent Cyvho

Cyvho schreckte hoch.

Verschlafen! Ich habe verschlafen!

Instinktiv hob er seine Fühler, stieg in Luft und schaute auf die Uhr an der Wand. Fünfzig Minuten blieben, um die Untersuchungsergebnisse der Testreihe SO-785 Korrektur zu lesen.

Viel zu wenig Zeit!, schoss ihm durch den Kopf. Zarry macht mich fertig!

Cyvho klackte unrhythmisch mit den Beißzangen und reduzierte den Flügelschlag, während er seinen Bienenkörper in Schräglage brachte. Zwischen den am Boden verstreuten Wissenschaftsbüchern, Zeitschriften und Folien thronte der Stoß mit den Forschungsergebnissen. Fehlerfrei, wie er hoffte. Falls nicht, würde der Mundyn das Manuskript aufschlagen und auf den Fehler zeigen. Einfach so.

Die einzige Fähigkeit, die ihm noch geblieben war!

Cyvho schwenkte nach rechts, ärgerte sich zum wiederholten Mal über sein kleines, fensterloses Arbeitszimmer, lauschte kurz dem Surren des Computers, drehte einen Looping und sank zum Folienstapel nieder. Er las darin, während er ihn ergriff:

»Die von uns erwähnte Isomorphie ergibt sich aus der Tatsache, das sich in gewisser Hinsicht einander entsprechende Abstraktionen und Begriffsmodelle auf verschiedene Phänomene …«

Natürlich ließ ihn Zarrytor warten!

Im Fliegen lauschte Cyvho den Symphonieklängen, die durch die Wände drangen. Mit seiner Last landete er, setzte den Folienstapel ab und machte es sich im Gang bequem. Nach eineinhalb Jahren Assistenz hatte er mit den Marotten des Obersten Wissenschaftlers leben gelernt – zumindest nach außen hin. Innerlich wuchs der Widerstand mit jedem Tag. Doch noch schluckte er alles hinunter.

»Wenn er dir den Stachel zeigt, reiß ihn aus«, pflegte Gineryl, sein Kumpel, in seiner volksnahen Art zu sagen, wenn sich Cyvho bei ihm beklagte. Der gab ihm inhaltlich recht, suchte aber nach an einer unauffälligeren Umsetzung.

Im Raum des Mundyn erreichte die Symphonie den Höhepunkt, ebbte ab und gleichzeitig öffnete sich die Tür. Zarrytor schwebte auf der anderen Seite des Raumes vor der großen Panoramascheibe. Hier hatte man den besten Blick auf den weitläufigen Garten, der den Laborkomplex einschloss. Cyvho hob den Stapel. Kaum im Zimmer, roch Cyvho, dass Zarrytor gereizt war. Die wackelige Flughaltung sagte sowieso mehr als jeder Geruch.

»Was?«, fauchte Zarrytor, ohne sich umzudrehen, und fuhr den Stachel zu einem Viertel aus.

Eine unerhörte Beleidigung. Normalerweise. Nicht jedoch zwischen Zarrytor und seinem Assistenten. Cyvho musste sich solche Demütigungen gefallen lassen. Schließlich war er der Untergebene. Also blieb er ruhig. Wie immer.

»Verehrter Mundyn, ihr wolltet die Ergebnisse der Testreihe SO-785 kontrollieren und …«

»Nenn mir das Resultat in einem Satz!«

Cyvho glaubte sich verhört zu haben. »Verehrter Mundyn, angesichts der Komplexität der Testreihe SO-785, halte ich es für vermessen, das Ergebnis in einem Satz zusammenzufassen. Es empfiehlt sich …«

»Du empfiehlst gar nichts!« Zarrytor wirbelte herum. Seine Fühler zitterten und sein alter Bienenkörper wankte. »Du bist weder in der Lage noch in der Position, etwas zu empfehlen!«

Getragen von dem plötzlich anschwellenden Crescendo der Symphonie flog er zur Arbeitsliege. »Ich frage mich, warum ich dich überhaupt eingestellt habe?« Er seufzte und plumpste auf die Liege.

Cyvho reagierte nicht, auch wenn ihm Gineryl auf der Schulter saß und soufflierte.

Irgendwann, aber nicht heute!, dachte er.

Mit seiner stets wiederkehrenden Kritik konnte ihn der Alte nicht mehr ärgern. Wortlos zeigte Zarrytor auf dem Arbeitstisch. Cyvho verstand, flog zum Tisch und legte den Folienstoß neben den Wissenschaftspreis des aktuellen Jahres. Bewusst langsam nahm er den vorgeschriebenen Respektsabstand zu dem Mundyn wieder ein.

»Was macht unser Volk, wenn es mich nicht mehr gibt?«

Laber, laber, laber!

Zarrytor beugte sich vor, knackte mit den Beißzangen, überflog die erste Folie, die zweite und stockte.

»Willst du mich zerstacheln?« Zarrytor schnellte so plötzlich hoch, dass Cyvho sich unwillkürlich duckte.

»Hier«, brüllte der Alte und schleuderte die Folie von sich, »ist ein Fehler! Muss ich denn alles selber machen?!«

Nachdem er es sich wieder in der Liege bequem gemacht hatte, fetzte er den Folienstapel zu Boden.

Zum Glück sind sie nummeriert, dachte Cyvho und unterdrückte seine aufsteigende Wut. Schnell sammelte er die Folien ein.

Zarrytor drehte ihm den Rücken zu, bog den Unterkörper in seine Richtung und schlug verärgert mit den Flügeln.

»Verschwinde!«

Cyvho flog hinaus. Grußlos.

»Mist!«

Cyvho stoppte seinen Flug, schlug die Handlungsarme zusammen und spuckte in den See. Ein paar nachtaktive Fische glaubten an Nahrung und schnappten nach der Bewegung. Vergebens.

Cyvho fluchte erneut. Diesmal lauter, da ihn niemand hörte. Der Park war um diese späte Zeit wie ausgestorben. Ganz im Gegensatz zum Dianst, seinem Stammlokal, in dem Gineryl auf ihn wartete. Cyvho hörte ihn bereits maulen.

»Bist du irgendwo gegen geflogen? Du lässt mich wegen einer verfluchten Archivkopie eines Wissenschaftsartikels warten?«

Damit hatte er recht.

Was sollte schon passieren, wenn die Kopie nicht pünktlich um acht Uhr morgens auf des Mundyns Arbeitstisch lag? Abgesehen vom wütenden Klacken der Beißzangen, dem ausgefahrenen Stachel, der geballten Hände, dem Monolog über Cyvhos Unfähigkeit und dem Geschrei?

Zarrytor konnte ihm nichts anhaben. Er war nichts anderes als eine alte Biene, die sich in den Erfolgen der Vergangenheit und der Anerkennung des Amtes suhlte.

Warum hatte Cyvho dann nicht den Mut, ihm die Meinung zu sagen? Warum war er so schwach?

»Hau ihm den Stachel zwischen die Augen!«, würde Gineryl sagen. Der hätte Zarrytor bei der ersten Auseinandersetzung verbal massakriert.

Er jedoch schluckte Demütigung um Demütigung, obwohl er dem Mundyn körperlich und geistig überlegen war. Und weil der Alte lange genug mit den Instrumenten der Macht flog, um zu wissen, wie er Cyvho am Boden halten konnte. Also würde er klein beigeben. Schließlich war er nur der Assistent.

Stacheleinzieher, hatte ihn Gineryl einmal genannt.

Egal!

Cyvho blickte auf die Uhr. Retour zum Labor, die Kopie auf den Tisch knallen und ab zur Bar ergab eine Verspätung von einer Stunde.

Nun, Gineryl war kein Kind von Traurigkeit. Er würde umdisponieren und einen anderen Gesprächspartner finden.

Eine Gesprächspartnerin!, korrigierte sich Cyvho.

*

Am Himmel leuchtete die zunehmende Sichel des Mondes Anul. Cyvho spürte es, ohne hinzusehen. Das Licht, das auf seine Haut traf, war härter und kündigte den Beginn des monatlichen Paarungsrhythmus an. Doch er würde nicht dabei sein. Mit der Hinterhältigkeit eines Paarungsunfähigen setzte Zarrytor pünktlich zum Ritualbeginn ein Sonderexperiment an.

Verärgert schoss Cyvho himmelwärts, sauste knapp oberhalb der Baumgipfel weiter, schrie seinen Frust in den grünen Nachthimmel, visierte die Staatsfahne an, die vom Labordach aus in den Himmel ragte und beschleunigte noch mehr. Gleichzeitig drehte er sich immer schneller um die Längsachse und vollführte damit eine der schwierigsten Flugübungen.

Cyvho spürte, dass er lebte. Sein Herz pumpte, sein Körper vibrierte, seine Beißzangen schlugen ungesteuert aneinander und seine Handlungsarme pressten sich gegen den Körper.

Die Fahne kam näher, wurde deutlicher, füllte sein Sehfeld aus und zischte um Flügelbreite an ihm vorbei.

Cyvho atmete aus und bremste. Das wabenförmige Labor, im Nationalgelb gehalten, lag hell beleuchtet unter ihm.

Nur der wahrhaft große Geist vermag alles zu durchdringen!

Der Spruch prangte auf dem Dach und zeigte allen Insekten, dass hier eben jener große Geist residierte und forschte. Der Mundyn der Insekten: Zarrytor.

Und ich, Cyvho, sein von allen beneideter Assistent, habe die Ehre, ihm beizustehen!

Cyvho spuckte, traf den Anfangsbuchstaben des Wortes Geist und ließ sich fallen. Knapp vor der Seitenschleuse setzte er die Flügel wieder ein. Der Computer registrierte seine Impulse und öffnete das Tor.

»Kein Licht!«, rief Cyvho.

Seine im ultravioletten Bereich sehenden Augen ermöglichten ihm den Flug auch ohne künstliches Licht. Er segelte zur Hauptverbindungsröhre, fiel bis in die letzte Etage, schlug wieder mit den Flügen, wandte sich nach rechts, dann geradeaus, zwei Mal nach links und bremste vor der Tür seines Arbeitszimmers. Er stieß sie auf, schnappte sich die Kopie und raste dachwärts, in die heiligen Hallen der wissenschaftlichen Macht. Durch eine graziöse Wurfbewegung glitt die Folie auf Zarrytors Arbeitstisch und er schoss hinaus in den Gang.

»Fertig.« In diesem Moment setzte sein Denken wieder ein. Cyvho stand im Licht, erstarrte und fühlte sich ertappt.

Im selben Moment schalt er sich einen Idioten. Er hatte nichts Unrechtes getan, nur seine Arbeit. Eine Stimme schreckte ihn hoch.

»Er ist im untersten Stockwerk!«

Zarrytors Stimme, ganz eindeutig! Doch warum war er spät in der Nacht zurückgekehrt? Und von wem sprach er?

»Gut abgesichert, oder?«

»Natürlich!«

Außerdem: Mit wem sprach er? Cyvho glaubte die Stimme zu kennen, konnte sie aber nicht eindeutig zuordnen. Und lag tatsächlich so etwas wie Unterwürfigkeit in Zarrytors Stimme? Cyvho musste sich verhört haben.

Langsam, jedes Flügelsurren vermeidend, schwebte er den Sprechern nach.

Cyvho hörte das Knarren einer sich öffnenden und schließenden Türe und erreichte den Grund der Röhre. Seine Arme zitterten. Langsam zählte er bis vier und bog in den Gang. In der untersten Kellerebene befanden sich nur Lagerräume und Archive.

Der Raum am Gangende?

Vorsichtig näherte er sich der Tür und legte seine Fühler dagegen.

Nichts.

Kein Ton drang nach außen, keine Schwingung.

Er musste wissen, mit wem Zarrytor da drin war. Cyvho flog durch den Kellergang zurück und glitt die Röhre nach oben, Er schwebte in der ersten Tiefebene heraus, flog bis zum Ende des Ganges, senkte seine Körpertemperatur und verschmolz mit der Dunkelheit. Das Licht, das die Röhre erhellte, endete weit vor ihm.

Keine Gefahr, dass ich von ihnen gesehen werde!, dachte er und wartete.

Zarrytor und eine Wespe schweben vorbei. Der Moment war zu kurz, er erkannte sie nicht. Cyvho schwebte zur Röhre, starrte in die Dunkelheit und ärgerte sich.

Sollte er seiner Neugier nachgeben? Kurz entschlossen ließ er sich fallen. Wieder war der Gang der untersten Ebene leer, die Tür verschlossen. Natürlich reagierte der Türcomputer nicht auf seine Individualimpulse.

Nicht mit mir, mein Lieber!

Er raste in sein Arbeitszimmer, fuhr den Computer hoch und hämmerte in die Tasten.

Wenig später stand er erneut vor der Tür. Diesmal öffnete sie sich. Gleichzeitig löschte ein von ihm geschriebenes Programm die Eintragungen für Zarrytors Rückkehr.

Das Licht der Neonwabe erleuchtete den Raum, in dessen Mitte ein stählerner Käfig stand. Darin lag ein Mensch.

Was war an dieser intelligenzlosen Kreatur so wichtig, dass sie hier gehalten wurde? Cyvho wedelte verwirrt mit den Fühlern.

»Hallo!«

Cyvho stieg in die Luft, prallte mit dem Kopf gegen die Decke, fiel halb benommen nach unten und fing sich knapp über dem Boden. Der Mensch hatte gesprochen!

»Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken.«

Cyvhos Beißzangen schlossen und öffneten sich. Immer und immer wieder.

»Du …« Cyvho strampelte mit den Hinterbeinen, während seine Vorderbeinen in die Luft schlugen. »Du sprichst?«

Der Mensch verzog die Lippen. Damit drückten sie meistens Belustigung aus.

»Gut beobachtet! Ich bin hier die große Nummer.«

Die Stimme des Menschen klang dünn. Dennoch sprach er Insekto akzentfrei. Woher …? Plötzlich fielen Cyvho die Gerüchte ein.

»Er hat es also doch gewagt!«

»Wer?«

»Zarrytor!«

»Was?«

»Das Genexperiment! Und ich habe es nicht bemerkt! Verdammt!«

Dem Alten war es gelungen, etwas vor ihm zu verheimlichen! Cyvho flog zwei Runden im Zimmer und betrachtete den Menschen.

»Genexperiment?«, tönte es von unten.

Sicher hatte Zarrytor ihm eine fiktive Vergangenheit ins Gehirn gepfropft. Cyvho schwebte näher an den Käfig. Das Experiment hatte sich aufgesetzt und blickte ihn an. Sein blasses Gesicht kontrastierte mit dem schwarzen Kopffell, das glatt an der Haut lag. Obwohl ihn das Geschöpf anstarrte, wusste Cyvho, dass es die Pupillen bewegen konnte. Die Menschen besaßen keine Komplex-, sondern Einzelaugen, und mussten ihren Kopf drehen, um außerhalb ihres schmalen Gesichtsfeldes von ungefähr einhundertsiebzig Grad etwas wahrzunehmen.

»Gefällt dir, was du siehst?«

Cyvho verbeugte sich in Gedanken vor Zarrytor. Das Geschöpf nahm sich selbst wahr und verfügte über selbstkritische Mechanismen. Vermutlich reflektierte es sogar.

»Hast du das Sprechen verlernt?«

»Nein!«, antwortete Cyvho automatisch und wunderte sich. Dem Geschöpf war es gelungen, ihn aus der Reserve zu locken.

»Fein«, sagte es, neigte den Kopf nach links und zeigte Cyvho die offenen Handflächen. »Ich bin Alaska! Wie heißt du?«

»Jetzt reicht es! Auch wenn die letzten Reste von Zarrytors Genialität in dich gefahren sind, treib es nicht zu weit!« Drohend streckte er die Arme aus.

Das Geschöpf verzog nur die Lippen. »Ah, du denkst, ich bin eine Züchtung von Zarrytor.«

»Ein Genexperiment«, präzisierte Cyvho und wackelte mit seinen Fühlern.

Das Geschöpf öffnete den Mund und seltsame Schwingungen trafen Cyvhos Körper. Das Geschöpf lachte. Über ihn?

»Oh, ich bin mit Sicherheit kein Experiment. Dazu wäre der Alte auch gar nicht mehr fähig, oder?«

Cyvho schlug verwirrt mit den Flügeln. Was erlaubte sich diese unnatürliche Kreatur? Kein Mensch durfte so über den Mundyn reden.

»Ich heiße Alaska, bin ein Terraner und auf einer Welt gestrandet, deren Bewohner die Wörter Gastfreundschaft und Hilfe nicht kennen. Ich passe nicht in euer Schema, das ihr von den Menschen habt, die ihr als Sklaven haltet. Aber, wie gesagt, ich komme von einer anderen Welt und bin daher nicht nach euren Maßstäben zu messen.«

Cyvho stieg in die Luft, drehte sich auf den Rücken und stabilisierte sich. Er musste denken. Und das konnte er am besten in dieser Lage.

»Hey, ich wusste gar nicht, dass Bienen den Rückenflug beherrschen!«

»Du weißt einiges nicht!«

»Wenn du meinst … Wie war doch noch mal dein Name?«

Cyvho wedelte belustigt mit den Fühlern und nannte ihn.

Alaska stand auf und blieb wegen der geringen Käfighöhe gekrümmt stehen.

»Ich grüße dich, Cyvho!«

Cyvho rollte seinen Körper, surrte eine Begrüßungsmelodie und sank zu Boden. Er wusste nicht warum, aber er glaubte Alaskas Geschichte. Denn er glaubte daran, dass es im Weltall andere intelligente Spezies gab als nur Insekten.

Ich weiß es, korrigierte er sich und dachte an seinen Fund.

»Alaska, erzähl mir von deiner Welt!«, verlangte er.

»Nur wenn du mir einige Fragen beantwortest. Nachher.«

Cyvho zeichnete das Dreieck der Zustimmung mit den Fühlern. Nachdem er erkannte, dass Alaska dies nicht verstand, wiederholte er sein »Ja« noch einmal verbal.

»Okay. Wir haben einen Deal!«

»Einen was?«

»Eine Abmachung«, erklärte Alaska. »Mein kompletter Name ist Alaska Saedelaere und ich bin auf dem Planeten Terra geboren. Ich …«

*

Hinter Cyvho fiel die Tür ins Schloss, doch er achtete nicht darauf. Er wusste nicht, wie er es vom Labor hierher geschafft hatte. Er wusste nur, dass ihm die Wohnung vertraut vorkam.

Mit einem Klagelaut plumpste er in die Ruheliege, wippte zweimal nach und lag still. Immer noch rasten seine Gedanken.

… Liga Freier Terraner …

… Zwiebelschalenmodell …

… Superintelligenzen …

… Kosmokraten …

… Thoregon …

… DORGON …

Schnaps! Er brauchte einen Schnaps!

Cyvho stieg in die Höhe, erinnerte sich an den Standort der Bar, schob einige Flaschen beiseite, fand das Gesuchte und nahm einen kräftigen Schluck. Der Honigschnaps rannte durch seinen Körper. Cyvho öffnete den Mund, hechelte und erkannte die Wohnung. Es war seine eigene.

Er nahm einen weiteren Schluck aus der Flasche und sah gleichzeitig die blinkende Leuchte des Anrufbeantworters. Er stellte die Flasche in die Hausbar und flog zu der Anrichte, auf der das kleine Gerät stand.

»Sie haben fünf Nachrichten. Gestern …«

Cyvho starrte abwärts. Fünf?

»Hi, mein Bienenkönig, hier ist deine Mutter. Besuch uns doch …«

Er sprang zur nächsten Nachricht.

»Hey, Cyvho! Hast du mich vergessen? Ich bin im Dianst!«

Vor Schreck flog Cyvho ein Stück nach oben. Er hatte Gineryl komplett vergessen!

Die dritte Nachricht.

»Cyvho!« Gineryls Stimme klang nun gereizt. »Verdammt, wo bleibst du? Ich werde langsam sauer! Du weißt doch, heute … Ich hoffe für dich, du kommst!«

Verzweifelt kramte Cyvho in seinem Gedächtnis. Was war heute …?

»Cyvho!«, brüllte Gineryl im nächsten Anruf, um gegen die Musik im Hintergrund zu gewinnen. »Setz deine verdammten Flügel in Bewegung und flieg hierher! Die Tussi von ISDST ist gerade angekommen!«

ISDST!

Cyvho erinnerte sich. Seit einer Woche gab es bei ISDST – Insektoidia sucht den Superstar – eine Siegerin. Sie tingelte durch die angesagtesten Lokale, schrieb Autogramme und sang ihr Siegerlied.

Wen zur Juiot interessierte dieser künstlich geschaffene Superstar mit einer Halbwertszeit von nicht einmal einem Jahr? Cyvho jedenfalls nicht. Er weigerte sich, bei dieser Volksverblödung mitzumachen. Er hatte sich schon gegen die Containershow verwehrt. Wie hieß die noch gleich? Richtig, Big Insektia. Warum sahen sich die …

»Okay, Cyvho, du hast sie verpasst! Dein Problem! Ich amüsiere mich jetzt! Und Cyvho, ich will eine verflucht gute Ausrede hören! Sonst reiß’ ich dir die Flügel aus!«

Cyvho blickte auf die Uhr und wählte Gineryls Nummer. »Hi, ich …«

»Alter, wo zum Juiot warst du?«, unterbrach ihn Gineryl. »Mirkosia hat die Masse zum Kochen gebracht! Das ist eine heiße Biene, sag ich dir. Wow!«

»Krieg dich wieder ein! Bist du noch im Dianst?«

»Na klar!«

»Bleib wo du bist, ich muss mit dir reden!«

*

Das Dianst zu verfehlen war unmöglich. Der blaue Strahl, der vom Dach aus in den Himmel schoss, gehörte mittlerweile zu Insektoidia wie der Grünstich zur Nacht. Was als Werbegag des Besitzers begonnen hatte, war zu einem der Wahrzeichen der Stadt geworden. Cyvho erinnerte sich daran, wie Gineryl ihn vor fünf Jahren in das gerade erst eröffnete Dianst gezogen hatte und dann im Laufe des Abends mit dem Besitzer um die Wette gesoffen und prompt gewonnen hatte. Seit damals besaß Gineryl eine Loge im Dianst, inmitten der Reichen und Schönen von Insektoidia. Und da er durch seine Bucherfolge ohnehin bekannt war, flog er problemlos an ihrer Seite. Ganz im Gegensatz zu Cyvho, dem das Getue gehörig auf die Nerven ging. Aber Gineryl und er waren gemeinsam aufgewachsen und er vertraute ihm. Das zählte. Nicht sein Umgang.

Cyvho schwenkte erdwärts und wählte den unteren Eingang. Aus Erfahrung wusste er, dass er dort schneller ins Lokal kam. Und er hatte recht. Im Vorbeischweben winkte er dem Türsteher, einem Käfer, mit dem rechten Fühler zu und war in einer anderen Welt.

Die Musik durchdrang seinen Körper, verbog seine Fühler und bremste seinen Flug. Vor ihm wiegte sich die Menge im Rhythmus. Die Flügelwesen in der Luft, alle anderen am Boden. Cyvho wunderte sich nicht über den Andrang, es war Wochenende.

Und dennoch war es nicht schwer, seinen Kumpel in der Galerie zu finden. Zwei Möglichkeiten gab es, um dorthin zu gelangen: entweder knapp unterhalb der Decke oder im schmalen Korridor zwischen den Flügelwesen und den Erdgebundenen. Cyvho entschied sich für Letzteres.

Er legte Arme, Beine und Fühler an den Körper, um sich nicht zu verletzen und durchquerte den Raum. Der Bodyguard ließ ihn anstandslos vorbei. Man kannte ihn hier. Genauso wie Gineryl.

»Mädels«, sagte Gineryl, an den sich zwei Bienen schmiegten, und deutete mit den Fühlern auf ihn. »Das ist mein Kumpel …«

»Lass das! Mir ist heute nicht danach!«

Cyvho griff den Arm seines Freundes und zerrte daran.

»Hey, was zum Juiot … Moment! Ich kenne diese Fühlerhaltung.« Gineryl schwebte auf Cyvho zu. »Was ist los?«

»Nicht hier!«

Ohne auf den Freund zu achten, raste Cyvho davon. Er wusste, dass Gineryl ihm folgen würde. Vor einer unscheinbaren Tür knapp unterhalb der Decke blieb er stehen, tippte den Code in den Öffnungsmechanismus und flog in den Raum. Er warf sich in eine der Liegen, während Gineryl hinter ihm in der Bar kramte. Als er sich neben Cyvho wuchtete, hielt er ein volles Glas in der Hand. »Du hast getrunken!«

Cyvho reagierte nicht, sondern starrte durch die Scheibe. Im Club drängten sich die Insekten auf der Tanzfläche und bildeten eine undurchdringbare Masse. Ohne Musik – der Raum war schalldicht – wirkte es gespenstisch.

»Cyvho, ich sehe das an dem dezenten Längsstreifen, der an deiner Duftdüse beginnt.« Gineryl leerte das halbe Glas in einem Zug. »Und wenn du mal trinkst, legt Zarrytor freiwillig sein Amt nieder!«

»Ich bin Künstler!«

Gineryl hustete. Offenbar hatte er sich verschluckt. »Geh nicht mit meinen Sprüchen hausieren!«, sagte er und zeigte Cyvho den Giftstachel. »Erzähl mir lieber, was los ist!«

»Bist du bereit«, begann Cyvho, stieg von der Liege auf, krümmte seinen Körper und sah Gineryl an, »für etwas Unglaubliches?«

»Jetzt wird er auch noch melodramatisch. Junge, ich bin der Schriftsteller und du bist der nüchterne Wissenschaftler!«

»Ich frage dich noch mal: Bist du bereit?«

»Lass die Sprüche und fang an!«

»Zarrytor verheimlicht unserem Volk eine wichtige Entdeckung!«

Gineryl zeichnete mit seinen Fühlern den Quader des Desinteresses.

»Einen Außerirdischen!«

»Aha.«

Cyvho richtete sich abrupt auf. »Ist das alles, was du dazu zu sagen hast? Aha?«

»Es ist um einen Windhauch interessanter als diese unzähligen Verschwörungstheorien. Wie du dich vielleicht erinnerst, habe ich einen höchst erfolgreichen Roman über dieses Thema geschrieben!«

»Verdammt, Gineryl, es stimmt!«

»Warte, sag nichts. Als Nächstes erzählst du mir, die Menschen seien intelligent und verstellen sich nur.«

»Fast!«

Gineryl legte Cyvho einen Handlungsarm auf die Schulter. »Alter, du hast Alkoholverbot!«

Verärgert schüttelte Cyvho die Hand ab. »Hör mir zu! Zarrytor hält einen intelligenten Außerirdischen im Labor fest. Er ist ein Terraner, was so viel wie Mensch bedeutet. Dieser Terraner ist mindestens so intelligent wie ich und …«

»… also nicht sehr!«, witzelte Gineryl.

»Wir haben uns unter anderen über die Quanten-Chromodynamik unterhalten!«

»Die was?«

»Weißt du, wie viele Leute sich damit auskennen?«

Gineryl schrieb das kreisende »Nein« in die Luft.

»Vier Insekten auf diesem verdammten Planeten! Mich eingeschlossen!«

»Okay, okay. Beruhige dich! Wie ist dieser Außerirdische nach Insektoidia gekommen?«

»Simpel. Er ist mit seinem Schiff abgestürzt. In der Wüste.«

Gineryl kratzte sich unterhalb der Augen. »Gut, das erklärt, warum es niemand bemerkt! Wie haben sie ihn erwischt?«

»Er ist uns mehr oder weniger in die Arme gelaufen. Zarrytor hat ihn sich unter die Arme gerissen, untersucht und befragt ihn laufend.«

Gineryl stand auf und füllte sein leeres Glas. »Bis jetzt klingt das nach einer guten Buchidee. Außerirdischer baut eine Notlandung auf unserem Planeten, wird von einem Wissenschaftler gefangen genommen …«

»Hör auf!«, brüllte Cyvho und surrte verzweifelt mit den Flügeln. »Außerdem fliegt Zarrytor unter irgendjemanden.«

»Zarrytor?« Ein Eiswürfel plumpste in eine hellgelbe Flüssigkeit in Gineryls Glas. »Der nahezu gottgleiche Mundyn ordnet sich einem anderen unter?«

»Ja. Leider habe ich ihn nicht gut genug gesehen, aber ich habe ihn gerochen! Außerdem kenne ich seinen Flügelschlag. Und wenn ich die Daten aus dem Aufzeichnungsgerät analysiere …«

»Aufzeichnungsgerät?«

»Ich habe in Zarrytors Arbeitszimmer einen Spion installiert!«

»Du hast …« Gineryl richtete seinen Hinterkörper auf und brachte ihn bis über den Kopf. »Irre! Das hätte selbst ich dir nicht zugetraut!«

Die Tür schwang auf. Adencihon, der Besitzer des Lokals, schwebte in Begleitung einer Wespe hinein.

Cyvho schnellte erschrocken nach oben, während Gineryl auf Adencihon zuflog.

»Cihon, mein Bester!«

Ihre Fühler berührten sich als Zeichen der Freundschaft. Cyvho blieb in der Luft und grüßte mit einem Surren.

»General Fykkar«, sagte Adencihon und deutete nach links. Mehr war auch gar nicht nötig. Man kannte den General.

Fykkar malte einen Begrüßungsstern und flog ein Stück in den Raum hinein.

Cyvho erschrak. Er kannte die Geräusche der Flügel. Und den Geruch, vor allem den Geruch.

»Gineryl, der berühmte Autor! Meine Nichte wünscht sich ein Autogramm von dir!«

Mit einem freudigen Surren zückte Gineryl eine Karte samt Konterfei aus dem Brustsack, presste seine Duftspur darauf und reichte sie dem General.

»Und du bist …?«

Cyvho brachte kein Wort heraus. Krampfhaft bemühte er sich nicht davonzurasen, sondern an derselben Stelle zu schweben.

»Cyvho, der Assistent des Mundyns«, half ihm Gineryl. »Er ist immer so schüchtern, wenn er jemanden noch nicht kennt!«

Alle außer Cyvho lachten.

»Ich … muss …«

»Ich auch!«, setzte Gineryl fort. Cyvho dankte seinem Freund in Gedanken, dass er sein Verhalten richtig interpretierte. »General, Adencihon, wir machen sum sum und werfen uns wieder ins Gewühl da unten!«

Cyvho folgte seinem Freund, so schnell es ging. Er musste aus dem Raum hinaus. Weg von dem General.

So als würde Gineryl seine Gedanken lesen, hielt er erst außerhalb des Lokals. »Du hast eben unseren allseits beliebten, weil berüchtigten General Fykkar gesehen.«

»Ja! Er war mit Zarrytor …«

»Ich weiß!«

»Du weißt …? Woher?«

»Ich habe ein kleines Geheimnis, aber nur mehr bis morgen! Gib mir vierundzwanzig Stunden!«

Cyvho surrte verwirrt mit den Flügeln, als sein Kumpel mit einem kurzen Gruß davon zischte.

Natürlich hatte sich Gineryl eine seltsame Uhrzeit für das Treffen ausgesucht. Cyvho wusste wahrlich Besseres, als morgens um Vier in einem heruntergekommenen Vorort von Insektoidia auf seinen Kumpel zu warten. Noch dazu, wo er sich wie üblich verspätete. Irgendwann würde er ihm dafür die Flügel ausreißen. Wobei, er konnte es auch sofort machen, da Gineryl gerade um die Ecke bog.

»Cyvho, du bist schon hier! Folge mir unauffällig!« Mit diesem Gruß flog er an Cyvho vorbei, hielt auf eines der halb verfallenen Gebäude zu, drehte sich vor der Tür um und sagte: »Bevor ich es vergesse: Sei einfach mein Schatten, lausche und lerne!«

Cyvho seufzte und folgte seinem Freund durch die Tür. Es ging nach rechts, bis der Gang links abbog und Gineryl verschwand. In der Mauer.

Cyvho bremste. »Äh …«

»Na, was ist?«, drang es durch die Mauer.

»Wie … wo …?«

Gineryl steckte den Kopf durch den Beton. »Warum sind Wissenschaftler immer so erstaunt, wenn sie etwas sehen, was sie nicht kennen? Komm schon! Du wirst dir deine süßen Fühler nicht anstoßen! Die Wand ist eine Projektion!«

Und weg war er. Cyvho surrte verärgert. Typisch Gineryl. Anstatt ihn zu warnen, stellte er ihn vor vollendete Tatsachen.

»Wo bleibst du?«

Cyvho schoss durch die Wand und schwebte in einem Schacht. Er stellte seine Flügel auf und fiel hinter Gineryl nach unten. Nach vierzig Flugsekunden stoppte sein Freund, obwohl er das Ende des Schachts noch nicht erreicht hatte. Wieder glitt Gineryl durch die Wand. Cyvho seufzte und tat es seinem Kumpel gleich.

»… habe nein gesagt! Warum ist er hier?«

Cyvho wechselte aus dem Schacht in eine goldgelbe Wabe und sah sich vier Bienen gegenüber, drei jüngeren und einer älteren. Die auf ihn gerichteten Waffenläufe irritierten ihn mehr als die Aufregung, die sein Erscheinen ausgelöst hatte.

»Entspann dich, Byykoy! Er ist mein bester Kumpel!«

»Uninteressant! Er ist der Assistent des Mundyns! Ihn einzuweihen ist Verrat!«, fauchte die Biene mit der Tätowierung auf dem Unterbauch.

Für Cyvho erfreulicherweise schwenkten zwei der drei Bienen die Waffen in Gineryls Richtung. Der ignorierte das und äffte Byykoy mit einigen Flügelschlägen nach.

»Erstens habe ich ihn noch nicht eingeweiht und zweitens werdet ihr mich für den Rest eures Lebens mit Honig zuschütten, nachdem ihr gehört habt, was er euch berichten wird.«

Byykoy schwieg. Offenbar dachte er nach. »Er hat exakt eine Minute. Danach …«

»… sind wir tot!«, führte Gineryl den Satz des Anführers fort. »Ich habe die Sicherheitsrichtlinien mitentwickelt, Byykoy! Schon vergessen?«

Byykoy richtete beide Fühler auf Cyvho und forderte ihn damit zum Sprechen auf.

»Wenn ich die Unterhaltung richtig verstanden habe, repräsentiere ich hier die Seite des Bösen. Wie komme ich zu der Ehre?«

»Fünfzig Sekunden!«

Cyvho lachte. »Glaubst du, ich lasse mich dadurch einschüchtern? Den Assistenten des Mundyn zu töten ist ein Staatsverbrechen! Ihr wäret nirgends mehr sicher!«

Die Gelegenheiten, in denen Cyvho seine hohe Position ausgenutzt hatte, ließen sich an den Streifen auf seinem Kopf abzählen. Jetzt jedoch … er glaubte nicht, dass die Bienen ernst machen würden.

»Vierzig!«

Cyvho blickte auf die Uhr und gähnte demonstrativ.

»Dreißig!«

»Cyvho!«, rief Gineryl und klopfte ihm auf den Unterkörper.

»Nein! Ich verrate keine Interna an Insekten, die ich nicht kenne!«

»Zwanzig!«

Cyvho ignorierte das Durchladen der Waffen und zeichnete das Trapez der Sturheit in die Luft.

»Zehn!«

»Zarrytor hält einen abgestürzten Außerirdischen gefangen!«

Verwundert blickte Cyvho auf Gineryl. Er glaubte nicht, dass ihm sein Freund soeben in den Rücken gefallen war.

»Sie hätten dich getötet«, gab der als Entschuldigung.

»Einen Außerirdischen?« Byykoys Fühler flatterten.

»Cyvho, bitte!«

»Was Gineryl gesagt hat, stimmt!« Die Bienen senkten die Waffen. »In Zarrytors Labor sitzt ein Außerirdischer, der wie ein Mensch aussieht. Er spricht unsere Sprache.«

»Hast du ihn gesehen, Gineryl?«, fragte Byykoy.

»Nein!«

»Woher willst du wissen, dass dein Kumpel die Wahrheit sagt?«

»Weil er Zarrytor in Begleitung von Fykkar gesehen hat!«

Cyvho wunderte sich darüber, dass Byykoy nicht überrascht war. Offiziell waren der oberste Militär und der oberste Wissenschaftler nämlich verfeindet. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit ätzten sie übereinander. Cyvho konnte immer noch nicht glauben, dass sie in trauter Einigkeit im Labor gewesen waren.

»Was ist daran ungewöhnlich? Immerhin ist er der Assistent des Mundyn!«, sagte Byykoy.

»Frage ihn, was er von Mundyn hält!«

»Jetzt reicht es!«, platzte Cyvho heraus. »Hört auf, über mich zu reden, als wäre ich nicht hier!« Alle richteten die Fühler auf ihn. »Im Klartext: Zarrytor hält in seinem Labor einen Außerirdischen mit Namen Alaska gefangen. Er stammt von der uns weit überlegenen Spezies der Terraner ab. Und er behauptet, dass die Götterboten ebenfalls Außerirdische sind. Er nennt sie Cantaro.«

Das hatte gesessen. Selbst Gineryl verlor an Höhe und setzte sich schließlich auf den Boden.

»Caaaantaro?«

»Exakt! Er bezeichnet sie als Cyborgs, weil sie ihre Körper mit Computerteilen aufrüsten und optimieren.«

Die Waffen zeigten erdwärts.

»Wir müssen diesen Außerirdischen haben! Bring uns in Zarrytors Labor!«, verlangte Byykoy.

»Langsam, langsam! Jetzt will ich auch einmal wissen, was ihr für ein Verein seid! Gineryl?«

»Wir gehören zur Untergrundbewegung! Unser langfristiges Ziel ist es, die Schattenmacht zu stürzen, um wieder eine richtige Demokratie zu errichten!«

Cyvho verstand ihn nicht. »Aber wir haben doch eine …«

»Glaubst du!«, unterbrach ihn Byykoy. »Alles ist nur eine Farce! Tatsächlich werden wir von sechs Insekten regiert, die versteckt agieren, darunter Fykkar und Zarrytor. Unser komplettes Leben wird kontrolliert. Egal, ob du auf der Straße, im Job oder über das Telefon mit jemandem sprichst, es wird aufgezeichnet. Und verwendest du eines der Schlüsselwörter, gibt es einen Akteneintrag und du wirst genauer unter die Lupe genommen.«

Cyvho drehte sich einmal um seine Achse vor Unglauben. »Falls ihr das beweisen könnt, warum geht ihr damit nicht an die Öffentlichkeit?«

»Das ist es ja! Sie würden alles hinweg fegen. Zuerst die Beweise, dann uns!«

»Oder umgekehrt«, ergänzte Gineryl die Worte von Byykoy. »Cyvho, bring uns zu Alaska!«

»Okay! Überzeugt mich, dass ihr die Wahrheit sprecht. Dann holen wir Alaska aus dem Gefängnis und befreien mit seiner Hilfe Insektoidia!«

*

Finsternis.

Für Menschen.

Nicht für seine Augen, da er im Ultraviolett-Bereich des Lichts sehen konnte. Also flog er sicher durch die Gänge. Der Türcomputer hielt ihn längst nicht mehr auf. Kurz blendete ihn das Licht.

»Hallo, Alaska!«

Cyvho landete vor dem Käfig. Er war leer!

Cyvho drehte einen Looping. Es änderte nichts. Alaska blieb verschwunden. Cyvho umrundete den Käfig. Das Schloss war ordnungsgemäß geöffnet, also musste Zarrytor den intelligenten Menschen herausgelassen haben.

Wozu? Was hatte der Alte mit Alaska vor?

Cyvho befürchtete das Schlimmste. Er drehte sich um und raste in sein Arbeitszimmer. Dort aktivierte er den Computer, begleitete den Programmstart von »Dohwin YB« mit einem Klacken seiner Beißzangen und schlug mit dem Hinterkörper ein paar Mal auf den Boden. Die Neuversion benötigte noch mehr Speicherplatz als die Altversion und war daher langsamer. Endlich erschien die Arbeitsoberfläche vor ihm. Er rief ein Programm auf und blickte in Zarrytors Arbeitszimmer. Die Minikamera aus eigener Produktion steckte in der letztjährigen Wissenschaftstrophäe. Seit einem halben Jahr beobachtete er seinen Vorgesetzten, wann immer er Informationen benötigte.

Mit wenigen Handgriffen rief er eine Aufnahme ab, sprang eine Woche in die Vergangenheit. Auf dem Bildschirm flimmerten Zarrytors Tagesbeschäftigungen im Schnelldurchlauf. Cyvho stoppte zwei Tage vor der Gegenwart, als Zarrytor seltsam verkrümmt vor dem Bildsprechgerät saß.

Zarrytor (beschwörend): »Ich sage dir, er ist eine Gefahr für uns!«

Fykkar (militärisch exakt): »Dann entsorgen wir ihn!«

Zarrytor (entsetzt): »Ich … ich kann ihn doch nicht … Nein!«

Fykkar (lacht): »Das fällt in meine Zuständigkeit!«

Zarrytor (unsicher): »Sollten wir ihn nicht melden?«

Fykkar: »Warum sollen wir Larshol damit belästigen? Morgen veranstalten wir Zielschießen und zufälligerweise fehlen uns noch bewegliche Ziele!«

Zarrytor: »Ich gebe das fehlgeschlagene Experiment für militärische Zwecke frei. In zwei Tagen gehört er dir!«

Cyvho schlug mit der Faust gegen den Arbeitstisch. Dieser Mistkerl hatte es tatsächlich getan!

Ein paar Tastendrucke später sah Cyvho in Gineryls Gesicht.

»Was tut sich?«

»Gineryl! Sie haben Alaska weggeschafft!«

»Wen?«

»Alaska, den Außerirdischen!«, wiederholte er. »Stell dich nicht so!«

Gineryl reagierte mit einem Seufzer. »Alter, ich weiß nicht, welches Zeug du gestern eingeworfen hast, aber offenbar wirkt es länger, als du gedacht hast. Ich habe heute ausnahmsweise keine Zeit für deine heitere Ader. Auch, wenn ich dich enttäuschen muss: Es gibt keine Außerirdischen! Wir sehen uns!«

Der Bildschirm vor Cyvho wurde schwarz und ihm heiß. Er wusste, warum sein Freund so kurz und distanziert angebunden war. Und er wusste auch, dass er mitten in einem Hurrikan flog.

»Cyvho! Komm sofort zu mir!«

Er blickte zum Bildschirm hoch. Zarrytor sah nicht so aus, als wollte er ihn zu einem Schwätzchen einladen. Also, war es so weit. Sie hatten das Telefonat abgehört und nun würden sie ihn sich vorknöpfen. Vermutlich empfingen sie ihn mit feuerbereiten Waffen. Eine Flucht konnte er vergessen. Sicher hatten sie alle Ausgänge mit Soldaten abgeriegelt.

»Cyvho!«

Wenn sie ihm schon die Flügel ausreißen wollten, dann sollten sie ihn gefälligst auch holen! Was hatte er schon zu verlieren.

»Gleich!«

Zarrytors Fühler zeichnete den Oktaeder der Ungeduld, während er den Hinterkörper hob. Sein Körper hing jetzt nicht mehr durch, sondern bildete eine Linie. »Ich sagte sofort!«

Cyvho streckte sich nun ebenfalls. »Darf ich euch an die Wichtigkeit der Testreihe QCD 873 erinnern?«

»Es ist mir egal, woran du arbeitest!«, brüllte Zarrytor, näherte sich der Aufnahmeoptik und surrte drohend.

Cyvho beschloss, dieses Geräusch zu ignorieren.

»Möglicherweise habe ich mich jetzt verhört. Weil ich kann nicht glauben, dass ihr, verehrter Mundyn, den 37. Erlass unseres Parlaments mit einem erniedrigenden Wort belegt.«

»Du hast dich nicht verhört! Und du bist in einer Minute in meinem Büro!«

Der Bildschirm wurde schwarz und Cyvho betrachtete sein Spiegelbild. Nun gut, er würde zu ihnen kommen. Langsam stand er auf, sicherte die Datei und schwebte gemächlich aus dem Zimmer. Immerhin hatte er eine ganze Minute Zeit.

*

»Cyvho«, begrüßte ihn Zarrytor, nachdem er eingeflogen war.

Verwundert blickte zu dem Mundyn hinauf, der alleine mitten im Raum schwebte. Er hatte Soldaten erwartet, die mit den Waffen auf ihn zeigten oder sich auf ihn stürzten. Nichts dergleichen geschah.

»Wie geht es dir?«, fragte Zarrytor unterlegt mit freundlichem Surren.

Diese falsche Schlange, dachte Cyvho. Nichts an Zarrytor zeigte, dass er eben noch getobt und geschrien hatte.

Aber auch Cyvho konnte sich verstellen. Er wippte zustimmend mit den Fühlern und flog in die Höhe, um bewusst gegen das Protokoll zu verstoßen. Es war undenkbar, dass ein Assistent die gleiche Flughöhe wie der Mundyn einnahm.

Zarrytor schien es nicht zu stören. »Hast du etwas an mir als Vorgesetzten auszusetzen?«

Cyvho zögerte. Sollte er antworten, was er wirklich dachte? Er zeichnete das Viereck der Verneinung.

»Dann erklär mir das!«

In Zarrytors rechten Handlungsarm lag ein kleines viereckiges Plättchen. Cyvho erkannte es. Es stammte von ihm. Dennoch kam er neugierig näher.

Mit einer schnellen Bewegung warf es ihm Zarrytor zu. Automatisch fing Cyvho. Er betrachtete es ausgiebig, surrte nachdenklich mit den Flügeln und sah zu dem Mundyn.

»Und?«

»Du leugnest?«

Cyvho grinste innerlich. Zarrytors Verwunderung war nicht gespielt. Dazu flatterten seine Fühler zu unkoordiniert.

»Verehrter Mundyn, ich diene euch nun seit eineinhalb Jahren. Wenn ich auch nichts Fachliches in dieser Zeit dazugelernt habe, so habe ich doch eines begriffen. Zuhören ist nicht eure beste Eigenschaft. Deswegen wiederhole ich mich: Und?«

Zarrytor bebte. Bestimmt hatte noch nie jemand so mit ihm gesprochen. Aber es war Cyvho egal.

»Du wagst es …?«

Cyvho warf die Wanze hinter sich und näherte sich Zarrytor.

»So verkalkt seid ihr also doch nicht. Und ich befürchtete schon, es euch … dir erklären zu müssen.«

»Was fällt dir …«

»Einiges!« Cyvho hatte jeden Respekt, den er vor dem Mundyn gehabt hatte, abgelegt. Es war der Tag der Abrechnung. Zu viel hatte sich in all den Jahren angesammelt. Und es musste hinaus.

»Du verstachelst unser Volk! Du spielst den weltmännischen Gönner, doch in Wahrheit bist du ein Ausbeuter! Du bist ein alter Sack, der Freude daran hat, seinen Assistenten zu erniedrigen. Dabei glauben alle, es sei eine Ehre, für dich zu arbeiten!« Cyvho spuckte Zarrytor an, verfehlte ihn bewusst und schwebte weiter auf ihn zu.

»Das wagst …«

»Exakt! Was wird wohl von dir übrig bleiben, wenn sie mit dir fertig sind? Was werden sie zu deinen perversen Spielchen sagen? Was dazu, dass du zu der Schattenmacht gehörst?«

»Schattenmacht?«

»Jene Gruppe an Insekten, die diesen Staat und die Gesellschaft in Wahrheit lenken und kontrollieren!«

Als Zarrytor erschrocken in die Höhe stieg, jubelte Cyvho.

Treffer!

»Lüge!«, kreischte der Mundyn.

»Was werden sie sagen«, fuhr Cyvho erbarmungslos fort, »wenn sie hören, was der ehrwürdige Mundyn in den vielen einsamen Nächten mit den Steuergeldern macht? Glaubst du, dass sie deine abartigen Neigungen tolerieren werden? Glaubst du das, Mundyn?«

Cyvho folgte Zarrytor. Er schwebte ihm gegenüber.

»Und was werden sie zu dem abgestürzten Außerirdischen sagen?«

»Du … ich …«

Mehr brachte der Mundyn nicht heraus. Er zitterte am ganzen Leib. Seine Fühler hüpften, als dirigiere er ein imaginäres Orchester. Seine Arme und Beine zuckten. Langsam und unregelmäßig trudelte er abwärts.

Cyvho empfand keine Genugtuung, keine Befriedigung. Er erschrak sogar über sich selbst.

»Du kleine Mistbiene wirst überhaupt nichts machen!«

Das hörte sich ganz und gar nicht nach einer gebrochenen Biene an. Verwundert blickte Cyvho auf Zarrytor und sah in die Abstrahlmündung einer Strahlenwaffe. Er zuckte zurück. Woher hatte der Mundyn diese nur gerüchteweise existierende Waffe?

»Na, wo ist der Aufdecker von vorhin?« Zarrytor lachte. »Hat er jetzt Angst?«

Zarrytor gab Cyvho keine Chance zu antworten. Er schoss.

Cyvho fiel, während der Strahl an ihm vorbeifuhr, fegte die Waffe mit einem gezielten Schlag aus Zarrytors Händen, tauchte unter dem Mundyn durch und stieß mit den Armen zu. Es knackte in Zarrytors Brust, dann fiel er zu Boden.

Cyvho starrte auf den reglosen Körper.

Luft! Er brauchte frische Luft und zwar dringend!

Hinter dem Eingang stoppte er und atmete tief durch.

War ich das? War ich das wirklich?

Er zitterte. In Gedanken hörte er es in Zarrytors Brust knacken. Erneut schlug der Körper am Boden auf.

Ich habe ihn getötet! Den Mundyn!

Er schalt sich einen Narren. Es war Notwehr! Doch wer würde ihm glauben?

*

Cyvho kehrte in den Labortrakt zurück. Vorbei an den Untersuchungsräumen, den Labors, hinauf in der Hauptröhre. Er warf einen Blick in das Zimmer des Mundyn. Zarrytor lag immer noch dort, wo er zu Boden gegangen war: zwischen Arbeitstisch und Liege, ein Bein unnatürlich abgewinkelt. Sobald sie den Mundyn entdeckten, würden sie ihn wegen Mordes jagen. Er raste in sein Arbeitszimmer, wählte Gineryls Nummer und sah Sekunden später in dessen Gesicht.

»Cyvho, du Vollidiot …«, begann sein Freund, doch Cyvho unterbrach ihn: »Es wird noch besser! Ich hau von hier ab. Den Grund zeigen sie bald in den Nachrichten! Alles Gute und grüß meine Eltern!« Er unterbrach die Verbindung und machte, dass er davonkam.

Area 15

Das Geheimversteck, offiziell eine Nahrungsmittelfabrik.

In Wahrheit liefen hier die Fäden der Kontrolle zusammen. Von diesem Gebäudekomplex aus wurde Insektoidia Tag und Nacht überwacht. Jedes Telefonat, jedes Gespräch wurde abgehört und mitgeschnitten, jeder Brief gelesen. Jedes verdächtige Wort löste eine Reihe von Recherchen über das Insekt aus, dass es gesagt, gezischt, gesurrt oder sonst irgendwie von sich gegeben hatte.

Gesteuert wurde diese nicht existierende Institution von sechs Insekten, die alle in Spitzenpositionen des Staates tätig waren.

Fykkar stoppte vor dem inoffiziellen Hintereingang, wartete, bis der Computer seine Individualimpulse erkannt hatte und ließ die Nachmittagshitze Insektoidias hinter sich. Die zahlreichen Kontrollen bis zu seinem endgültigen Ziel – einem abhörsicheren Zimmer in der Tiefebene IX – ließ er mit der Gelassenheit des Erfahrenen über sich ergehen.

Auf Tiefebene IX flog er aus dem Lift. Der Gang mündete in zwei Zimmer – er würde das rechte nehmen. Die Schleimspur am Boden zeigte ihm, dass zumindest einer der Mitwisser bereits eingetroffen war. Gemächlich schwebte er zur Tür, die nach Prüfung seiner Impulse aufschwang.

Alle vollständig angetreten, bis auf einen! Und sie waren – wie üblich, wenn sich der Götterbote angesagt hatte – nervös. Fykkar verstand nicht, warum sie jedes Mal in diese Haltung verfielen. Die Anspannung übertrug sich sogar auf die Luft und drückte gegen seine Flügel.

Idioten!

Er surrte eine Begrüßung und suchte sich aus Höflichkeit vor den Erdwesen einen Platz am Boden. Hier spürte er ihre Nervosität sogar noch stärker.

Tobihgo, der Käfer, trippelte auf und ab, während Racvelt, die Spinne, aus ihrem Körper ein paar Fäden absonderte. Cannsoc, die Kakerlake, schlug mit dem rechten Fuß gegen die Fliesen und Heifphong, die Schnecke, schleimte.

Fehlte nur noch der Götterbote.

Und Zarrytor.

Fykkar wunderte sich über den Mundyn. Normalerweise war er die Pünktlichkeit in Person. Der Mensch … Alaska! … galt nicht als Ausrede. Er befand sich nicht mehr in Zarrytors Gewahrsam. Der Mensch hätte tot sein müssen, aber er war auf wundersame Weise aus dem militärischen Sperrgebiet entkommen. Ärger stieg in ihm hoch. Im ersten Zorn hatte er den verantwortlichen Sicherheitschef hinrichten lassen. Ohne Verfahren, ohne Anhörung. Einfach so. Weil ihm danach gewesen war.

Die Tür ging auf. Der groß gewachsene Humanoide bückte sich, um durch den Türrahmen zu passen.

»Zarrytor fehlt!« Seine weiche Stimme passte nicht zu seinem Aussehen. Am meisten irritierten Fykkar die Kameralinsen anstelle der Augen. Daran würde er sich wohl nie gewöhnen.

Niemand antwortete.

»Fykkar?«

»Er hat sich heute noch nicht gemeldet!«, antwortete er militärisch zackig.

»Verzichten wir einstweilen auf den Mundyn!« Lorsahl zuckte mit den Schultern. »Irgendwelche Besonderheiten?«

Jetzt zu antworten, wäre einem Todesurteil gleichgekommen. Also hüllten sich alle in Schweigen.

»Tobihgo!« Der Käfer bewegte sich nicht. »Was macht Projekt Jirtil?«

Fykkar hörte nicht zu. Erstens konnte er alles im Protokoll nachlesen und zweitens sorgte er sich um Zarrytor. Er erinnerte sich an ihr gestriges Gespräch. Zarrytor hatte angedeutet, dass er mit seinem Assistenten, dessen Name Fykkar regelmäßig entfiel, ein ernstes Wörtchen zu reden hatte. In Anbetracht der Verspätung ärgerte sich der General, nicht nachgefragt zu haben.

»General Fykkar, war die militärische Übung ein Erfolg?« Der Götterbote richtete seine mechanische Blicke auf ihn. Fykkar wusste nicht, wo er hinsehen sollte. In die Kameralinsen, auf den Körper oder einfach an ihm vorbei.

»Der Testlauf des neuen XD327 verlief zu unserer vollsten Zufriedenheit!« Das mit dem Menschen musste er dem Götterboten nicht auf die Nase binden.

Lorsahl wandte sich an Heifphong. Teilnahmslos hörte Fykkar seinen Erklärungen zu. Die restlichen Gruppenmitglieder berichteten – wie gewohnt – minimalistisch. Der Cantaro nickte zufrieden.

Und er bewegt sich doch!

Laut hätte Fykkar das niemals gesagt. Zumindest nicht vor Lorsahl.

Demonstrativ sah Lorsahl zuerst auf das Chronometer, dann in die Runde und sagte: »Was ist mit Zarrytor?«

Alle schwiegen.

»Im Labor meldet sich niemand«, stellte der Cantaro fest.

»Wir könnten den Hauscomputer kontaktieren«, schlug Fykkar vor.

»Bereits geschehen! Zarrytor wurde von seinem Assistenten bewusstlos geschlagen.« Lorsahl klang, als ginge es ihn nichts an.

»Bewusstlos geschlagen? Vom Assistenten?« Verwundert surrte Fykkar mit den Flügeln.

Statt einer Antwort projizierte Lorsahl ein Hologramm in die Mitte des Raumes. Der Mundyn lag mit unnatürlich abgewinkeltem rechten Hinterbein zwischen Liege und Arbeitstisch.

»Wie?«

Das Hologramm wechselte und zeigte das Geschehen. Cyvho schwebte in den Raum und Zarrytor warf ihm etwas zu. Lorsahl fror das Bild ein, zoomte den Gegenstand heran.

»Eine Wanze«, stellte er trocken fest.

Das Holo bewegte sich weiter. Cyvho fing die Wanze auf, betrachtete sie und warf sie zu Boden.

Fykkar glaubte sich versehen zu haben. Cyvho drohte dem Mundyn! Ungeheuerlich!

Er staunte noch mehr, als Cyvho von einer Schattenmacht sprach, die alles kontrollierte. Woher zur Juiot hatte diese Mistbiene ihre Informationen?

Die Bilder standen still. Lorsahl fixierte bedächtig jeden Einzelnen. Fykkar fröstelte. Er spürte, wie verärgert der Cantaro war. Und Fykkar bezweifelte, dass es Schlimmeres als einen wütenden Cantaro gab.

»Es gibt ein Leck!«

Keiner widersprach ihm.

»Findet es!«, sagte Lorsahl. Seine Stimme klang nun alles andere als weich.

Das Hologramm bewegte sich.

Kurz.

»Abgestürzter Außerirdischer?«

Jetzt war der Cantaro richtig zornig. Kein Zweifel. Fykkar spürte es. Am liebsten wäre er davon geflogen. Nein, gerast. Mühsam unterdrückte er seine Furcht, klackte mit den Beißzangen und erklärte, was es mit Alaska auf sich hatte. Tobihgo, Racvelt, Cannsoc und Heifphong verhielten sich ruhig. Auch sie hatten nichts von dem Terraner gewusst.

»Zarrytor und ich wollten euch nicht mit derartigen Kleinigkeiten belasten!«

Fykkar schluckte, als Lorsahl einen Schritt auf ihn zukam.

»Denke nie wieder für mich!«

Schnell stimmte Fykkar mit den Fühlern zu.

»Wo ist dieser Terraner?«

Verwundert sah Fykkar den Cantaro an. Warum sprach er das Wort Terraner wie einen Fluch aus? Lorsahl war noch nie emotional geworden. Warum jetzt?

»Wir … nun, er ist entkommen!«

Fykkar röchelte, als sich Lorsahls Finger um seinen Hals legten. Verzweifelt schlug er mit den Flügeln. Doch der Götterbote war stärker. Fykkar glaubte, in einen Schraubstock geraten zu sein.

»Hast du eine Spur von ihm?«

Fykkar schloss mit seinem Leben ab und verneinte mit den Fühlern. Lorsahl holte ihn so nah an sich heran, dass er glaubte, die Kameraaugen klicken zu hören.

»Finde ihn! Du hast zwei Tage!«

Lorsahl bewegte den Arm, öffnete die Hand und Fykkar prallte gegen die Wand. Ein heftiger Schmerz raste, von seinen Flügeln beginnend, durch den Körper. Er rutschte die Wand hinunter und landete auf dem Boden. Den Cantaro sah er nur mehr von hinten. Die Fragen seiner Mitverschwörer beantwortete er nicht. Er hatte keine Zeit für diese Idioten.

*

Heißer Wind schmiegte sich an Cyvhos Körper, hievte ihn von Windbahn zu Windbahn und stemmte ihn himmelwärts. Längst waren die Landschaftsdetails einer einzigen gelben Sandfläche gewichen.

»Herrlich!«

Viel zu lange hatte er, von Zarrytors Dienstplan gegängelt, auf diese Momente der Entspannung verzichtet. Ein kleiner Schwenk mit dem Unterkörper und schon tanzte er in noch höheren Sphären, die Sonne und die Wolken als einzige Zeugen. Er bog nach links, drehte sich um seine Achse und segelte kurz auf dem Rücken. Kopfüber sauste er nach unten, fing sich knapp oberhalb des Bodens, zog mit den Beinen zwei gerade Bahnen in den Sand und schraubte sich wieder aufwärts. Er bremste und hob den rechten Fühler.

Kein Zweifel, der goldig honigsüße Geruch strömte aus nordöstlicher Richtung an ihm vorbei.

Cyvho erinnerte sich an Alaskas Stirnrunzeln, als er ihm vom dreidimensionalen Riechsinn erzählt hatte. Wie konnten die Terraner leben, ohne zu wissen, aus welcher Richtung der Geruch kam? Aber es waren die Unterschiede zwischen den Rassen, die das Leben interessant machten!

Cyvho visierte die Dünenspitze an, bremste ab und landete knapp unterhalb der Kuppe im Sand. Ein, zwei Schritte und er sah das wabenförmig angelegte Nest, das zwischen vier Sanddünen eingebettet war. Vor wenigen Monaten hatte er es zufällig bei einem seiner Ausflüge entdeckt und fragte sich seither, welche Bienen dort lebten. Offiziell existierte die Kolonie nämlich nicht.

Wie auch immer – seine Einwohner produzierten ihren Honig mit einem speziellen Duft. Normalerweise mengte man zum Wachs und Propolis noch Pheromonspuren der Königin. Die hier lebenden Bienen mischten noch einen anderen Stoff hinzu. Trotz seines feinen Geruchssinns kam Cyvho nicht auf die Substanz. Verärgert schlug er mit einem Handlungsarm in den Sand.

Er duckte sich. Ein Schwall Bienen – vermutlich Arbeiter – raste aus der Schleuse in den Himmel. Erleichtert spürte er in den Fühlern, dass sie sich in westliche Richtung wandten. Er lugte wieder über die Dünenkuppe.

Etwas traf ihn im Nacken und es wurde schwarz um ihn.

»Cyvho!«

Die Stimme klang überrascht, doch er wollte seine Ruhe und kuschelte sich in die Liege.

»Cyvho!«

Etwas stach in seinen Unterleib. Er wälzte sich nach links. Sein Nacken schmerzte. Warum?

»Cyvho!«

Mit der Helligkeit krochen die Erinnerungen aus seinem Unterbewusstsein. Der Sand unter seinen Beinen war einer harten Oberfläche gewichen. Cyvho streckte sich und stieß mit den Beinen gegen etwas Metallisches. Gitterstäbe!

Abrupt richtete er sich auf und bereute es. Der Nackenschmerz strömte über seinen Rücken bis in die Duftdrüse und wieder retour. Verärgert surrte er mit den Flügeln.

»Cyvho!«

»Ja«, giftete er zurück. Erst jetzt nahm er links hinten zwei Personen wahr.

»Alaska!«

»Und Ydira«, ergänzte der Terraner. »So sieht man sich wieder.«

Cyvho hörte eine verzehrte Abfolge von Tönen. Alaska lachte und verbeugte sich gleichzeitig. Ydira winkte ihm zu. Sie hockte rechts von Alaska am Boden.

Neben ihren Gefängnissen standen drei weitere Käfige in dem fensterlosen Raum. Die Eintrittstür lag genau hinter Alaska. Cyvho griff nach den Gitterstäben und rüttelte daran.

»Sinnlos, das habe ich schon hinter mir!«

Alaska hatte recht. Die Stäbe bewegten sich keinen Millimeter. Cyvho ging zum Schloss und untersuchte es.

»Massives Eisen. Ohne Schlüssel oder entsprechendes Werkzeug haben wir keine Chance.«

Als Cyvho wieder zurücktrippelte und sich niedersetzte, ging die Türe auf. Eine bullige Biene glitt herein, ignorierte jeden Versuch der Kontaktaufnahme, schob je eine Schüssel in beide Gefängnisse und verließ den Raum wieder.

»Gesprächig sind die hier nicht.«

»Schnellmerker!«

Verständnislos wedelte Cyvho mit den Fühlern. Doch Alaska reagierte nicht. Also hieß es fragen.

Alaska tunkte einen Finger in die Schüssel und schleckte ihn ab. »Lecker! Als Schnellmerker bezeichnen wir jemanden, der schnell eine neue Situation erfasst«, erklärte der Terraner und löffelte weiter.

Mit den Fühlern zeichnete Cyvho ein Danke in die Luft und zog ebenfalls den Napf an sich.

Honig, kein Zweifel. Versetzt mit diesem unbestimmten Zusatz. Er wälzte die zähflüssige Substanz im Mund und ärgerte sich, dass er die Beimischung nicht erkannte. Egal, es schmeckte.

»Wie bist du entkommen?«, fragte Cyvho, bevor er erneut an dem Honig saugte.

Fasziniert lauschte er Alaskas plastischen Schilderungen. Der Terraner hatte der Spezialeinheit ein Schnippchen geschlagen, indem er die Wärmestrahlung seines Körpers mit Schlamm bedeckt hatte.

»Alles nur eine Frage des Erfahrungsschatzes«, spielte Alaska sein Können herunter. »Was treibt dich in die Wüste?«

Durch einen leichten Schubs schlitterte die Honigschüssel über den Boden. »Zarrytor hat bemerkt, dass ich ihn bespitzelt habe und daraufhin hatten wir einen kleinen Disput«.

Er wurde traurig.

»Ich habe ihn getötet!«, gestand er zerknirscht.

»Wie?«

»Er hat mit einem Strahler an mir vorbeigeschossen und im Handgemenge habe ich ihm die Brustplatten gebrochen. Es war Notwehr!«

Die Tür glitt auf und Cyvho sparte sich eine Antwort. Eine grazil wirkende Biene schwebte in den Raum, begleitetet von zwei Wächtern. Ihre stämmigen Körper und das tiefe Brummen ihrer Flügel ließ keinen anderen Schluss zu. Sie ignorierten Alaska, flogen über seinen Käfig direkt zu Cyvho und blieben in der Luft stehen.

»Nur damit das klar ist«, sagte die mittlere Biene, »ich rede mit dir, weil der Rat dich nicht ohne Gespräch hinrichten will!«

Cyvho reagierte nicht. Hatte er wirklich »hinrichten« gehört?

»Name?«

Seine Gedanken wirbelten um die angekündigte Hinrichtung. Schön langsam wurde das zur Gewohnheit!

»Name?«, wiederholte die grazile Biene. Sie schwebte rechts über ihm und surrte ungeduldig.

So nicht!, dachte Cyvho und verschränkte die Arme vor der Brust. Er hatte schon einmal um sein Leben gekämpft, er würde es wieder tun.

Er protestierte mit drei Flügelschlägen und hob verärgert die Fühler. »Gibt es fernab der Zivilisation wirklich so wenig Manieren?«

»Du bist der Verweichlichte, der Frevler!«

»Das ist mir neu … und außerdem bin ich es gewohnt, dass man den Namen seines Gegenübers kennt. Ich heiße Cyvho!«

»Arcyd!«

»Fein. Du hast zuerst etwas von Hinrichten gesagt. Da kann ich mich wohl nur verhört haben …«

»Nein! Der Beschluss des Rates ist eindeutig.«

»Was hat er verbrochen?« Die Stimme Alaska hallte durch den Raum.

»Eine gute Frage! Beantworte sie!«, verlangte Cyvho, stieg in die Luft und drehte sich auf den Rücken. Er war die unbequeme Position leid.

»Du hat uns gefunden! Das genügt!«

Belustigt schlug Cyvho mit den Flügeln. »Was ist daran schlimm?«

»Vor Äonen hat eine Gruppe von Naturverbundenen der technisierten Welt den Rücken gekehrt«, begann Arcyd, während er sich auf die Gitterstäbe setzte. »Hier innerhalb einer der verbotenen Zone haben sie ihr Nest erbaut, um so wie die Ahnen zu leben. Fernab der Verweichlichten. Geheim und unerkannt!«

»Unerkannt ist längst Geschichte. Und mit eurem Frieden ist es auch bald vorbei!«

Arcyds stieg erschrocken die Luft. Die Leibwächter folgten ihm.

»Was?« Panisch. Arcyds Stimme war panisch.

»Cyvho, wann musst du zurück sein?«

Jetzt reagierte Arcyd auf Alaska.

»Schweig!« Seine Hände öffneten und schlossen sich, während seine Fühler anklagend auf den Terraner zeigten. Auch die Leibwächter surrten bedrohlicher. Es sah so aus, als wollten sie sich auf den Terraner werfen, ungeachtet der Gitterstäbe.

»Arcyd, mit eurer Ruhe ist es bald vorbei!«, nahm Cyvho den Ball auf, den Alaska ihm zugeworfen hatte. »Truppen mit Feuerwaffen werden kommen und Tod und Verdammnis über euch bringen.«

Arcyds Fühler zitterten.

»Außer den Grundmauern wird nicht viel übrigbleiben«, malte Cyvho das Bild des Schreckens weiter.

»Tanri wird uns beschützen! Der Rat hatte recht! Ihr seid Ungläubige, die es nicht wert sind, sich in die Lüfte zu erheben!«

Arcyd drehte sich um und schwebte zur Türe, die Leibwächter im Schlepptau.

»Morgen werdet ihr sterben. Alle drei!«

Er schlug die Tür zu und sie waren alleine.

»Schöne Aussichten!«

»Bei der siebenundvierzigsten Todesdrohung gegen mich habe ich zu zählen aufgehört.«

Mit zwei Flügelschlägen stellte Cyvho seinen Körper auf und landete. Um sich zu beruhigen, nahm er einen Schluck Honig und schob die Schüssel halb voll beiseite. Aus der Ecke des Käfigs fischte er seinen Bauchsack. Nichts fehlte. Er zog ein paar Kleidungsstücke heraus und warf sie in den anderen Käfig.

Alaska fing sie geschickt auf. »Meine Kombination!«

Schnell entledigte sich der Terraner seiner sackähnlichen Kleidung und ignorierte, dass Ydira neben ihm am Boden saß. Vermutlich hatten sie sich bereits mehrmals gepaart und kannten sich daher nackt. Menschen waren nicht an eine spezielle Paarungszeit gebunden, dafür war das Weibchen nur innerhalb eines bestimmten Zeitraumes fruchtbar. Ein evolutionärer Vorteil: Die Menschen hätten in kürzester Zeit die Vorherrschaft über den Planeten übernommen, falls ihre Intelligenz in gleichem Maße gestiegen wäre wie die der Insekten.

»Es gibt einen Ausspruch eines berühmten Terraners: Wir haben keine Chance, aber wir nutzen sie.« Alaska schmunzelte, als er die Kombination anzog. »Wollen wir doch mal sehen, was dem Mundyn alles entgangen ist.« Seine Hände verschwanden in den Hosentaschen, kramten herum und kamen wieder zum Vorschein.

Leer.

Der Terraner tastete in die Oberschenkeltaschen und zerrte einen länglichen Gegenstand heraus. Es klickte. Eine blauweiße, handflächenlange Flamme schoss aus dem Gerät.

»Unser Schlüssel!«, kommentierte Alaska. »Noch nicht!«

Die Flamme erlosch, das Gerät verschwand in Alaskas Kombination. Cyvho war froh, dass er sie aus dem Labor mitgenommen hatte.

»In der Nacht haben wir die besseren Chancen!«, erklärte er dem Terraner.

*

Es war einfach gewesen!

Gegen Mitternacht hatte Alaska das Schloss durchtrennt, ihn befreit und dann waren sie hinaus geschlichen. Mit jedem Meter, den sie zurücklegten, hatten die Fundamentalisten weniger Chancen, sie zu finden. Bald hatte sie die Wüste verschluckt.

Aus Rücksicht auf Alaska und Ydira ging Cyvho, statt zu fliegen. Auch wenn es ihn gehörig anstrengte, obwohl er mit seinen vier Beine weniger tief in den Sand einsank als die beiden Terraner.

Zum Glück transpirierte er nicht wie seine Gefährten. Während ihnen das Wasser regelrecht vom Körper tropfte, blieb er trocken. Seine Hauttemperatur war sogar um einige Grad kühler als die Lufttemperatur. Anstelle von Schweißdrüsen besaß er eine durch Sonnenlicht und chemische Reaktionen betriebene Wärmepumpe. Die Mediziner benutzen ein anderes Wort, doch der Vergleich passte. Zusätzlich wurde die Hitze durch blutähnliche Hämolymphe abgeführt. Diese aus Plasma und Blutzellen bestehende Flüssigkeit erfüllte mehrere Funktionen innerhalb des Bienenkörpers. Neben dem Temperaturausgleich transportierte sie Nährstoffe, balancierte Schwankungen des physikalisch-chemischen Gleichgewichts aus, verschloss Wunden und synthetisierte Abwehrstoffe gegen Krankheitserreger. Cyvho war stolz auf seinen Körper.

Er stieg in die Luft und kontrollierte, ob sie die Richtung einhielten. Angesichts der endlosen Sandfläche bot sich nur die Sonne, die im Nordosten stand, als Orientierungshilfe. An ihr mussten sie – unwissenschaftlich ausgedrückt – rechts vorbei. Cyvho schätzte, dass sie noch zwei Tagesmärsche von ihrem Ziel entfernt waren. Morgen um dieselbe Zeit würden sie bereits den Beginn der Steinwüste sehen, um am späten Nachmittag über die ersten Felsen zu klettern. Doch zuvor wartete auf Alaska noch eine Überraschung. Er war auf seine Reaktion gespannt. Von oben sah er bereits, wie es das Sonnenlicht reflektierte.

»Da!«

Ydira deute nach vorne. Cyvhos Facettenaugen erkannten nichts. Sicherheitshalber landete er, um mit ihr auf einer Ebene zu sein. Auch Alaska folgte ihrem ausgestreckten Arm, kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf.

»Watser! Peume!«, rief Ydira mit einem fürchterlichen Akzent. Cyvho musste sich konzentrieren, um sie zu verstehen.

»Wasser, Bäume«, korrigierte Alaska und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Dort vorne ist nichts! Du siehst eine Fata Morgana.«

»Morgen Vater?«

Cyvho lachte.

»… Luftspieglung. Die Dichte der Luft nimmt mit der Höhe zu.« Alaska untermalte seinen Erklärungsversuch mit den Händen.

Cyvho zweifelte an der Wirksamkeit. Der Sprachschatz der jungen Frau war zu gering, um derart komplexe Dinge zu verstehen.

»Die Luft ist unten wärmer und damit weniger dicht als in der Höhe.« Angesichts des verzweifelten Gesichts Ydiras versuchte der Terraner es anders. »Du siehst Wolken!«

»Wolken?«

»Wolken.« Alaska zeigte nach oben. »Himmel: blau. Wolken: Weiß!«

Ydira nickte eifrig.

»Hihmel: pau. Wolken: veiß!«

»Himmel, blau, Wolken, weiß«, wiederholte Alaska zweimal langsam.

»Himmel, plau, Wolken weiß!«

»Blau.«

»Blau.«

Zufrieden tätschelte Alaska ihren Rücken. Cyvho klackte mit den Beißzangen. Er hoffte, dass die Menschen den freudigen Ton erfassen konnten.

»Himmel blau, Wolken weiß! Wolken weiß, Himmel blau.« Stolz leierte Ydira die neu gelernten Worte hinunter. »Alaska blau, Cyvho weiß! Wolken, Himmel.«

Sie stapften weiter.

*

Heiß!

Alaska schätzte die Temperatur auf etwa vierzig Grad. Während ihm die Kombination am Leib klebte, schien Cyvho keinerlei Schwierigkeiten mit der Hitze zu haben. Er trippelte oder flog neben ihm und Ydira. Doch zum Glück berührte die Sonne hinter ihnen bereits den Horizont und bald würde es dämmern. Der grüne, sternenlose Nachthimmel vertrieb zwar die Hitze, drohte jedoch die verschwitzten Körper auszukühlen. Also mussten sie sich eine Unterkunft suchen.

Alaska sah sich um und stutzte. Er blieb so abrupt stehen, dass Cyvho an ihm vorbei schwebte. Auch Ydira wankte noch zwei Schritte weiter, bevor ihr auffiel, dass Alaska nicht mehr an ihrer Seite war. Sie drehte sich um, während die Biene dank ihres nahezu dreihundertsechzig Grad-Blickfeldes nur leicht den Kopf neigen musste.

Alaska hatte sich nicht getäuscht. Links vor ihm, ungefähr einen halben Kilometer entfernt, blitzte etwas.

»Wir gehen absichtlich hier lang, oder?«

Cyvho bejahte.

Mit zwei Schritten hatte ihn Alaska eingeholt. »Weißt du, worum es sich handelt?«

»Es stammt nicht von Insektenhand und … du hast mir diese Buchstabenkombination gesagt: LFT!«

Der Wettergott erhöhte schlagartig die Temperatur um fünfzig Grad. Zumindest kam es Alaska so vor.

»Gehen wir näher ran, bevor ich eine falsche Vermutung äußere«, verlangte er.

Bald darauf warf seine hagere Gestalt einen Schatten, der auf die Space-Jet wies. Der obere Teil ragte bis zum Ende der Panzerplastkuppel steil aus dem Sand, der Rest war begraben. Er streckte sich, verfehlte die Frontschnauze jedoch knapp mit den Fingern.

»LFT! Kein Zweifel«, murmelte Alaska und ging links an der Jet vorbei, bis er an die Stelle kam, an der sie im Sand verschwand. Mit der Hand legte er das orangefarbene Abzeichen mit der Aufschrift 11 Th Tec Rec Wings frei. Er klopfte auf das bläulich schimmernde Material und fuhr einen schwarzen Streifen entlang, der einen Meter über der Oberfläche verlief.

»Ynkelonium-Terkonit mit Beimengungen von Super-Atronital-Composite. Schmelztemperatur 60.000 Kelvin.«

Er erinnerte sich noch an die Pressekonferenz der beiden Konstrukteure Paulmann und Peter in Terrania. Vor ihnen drehte sich das holografische Modell der neuesten Space-Jet. Der Name der Firma fiel Alaska gerade nicht ein.

»Wir präsentieren mit der CORBIN-Jet ein Schiff«, hatte Gregor Paulmann erklärt, der jüngere der zwei Konstrukteure, »das perfekt die Bedingungen der Flottenausschreibung hinsichtlich Aufklärung, bewaffneter Kurierdienst und Kampfeinsatz erfüllt. Auch wenn die Jet hauptsächlich im Weltall eingesetzt wird, orientiert sich ihr Design an einer horizontalen Flugrichtung. Die Kritiker sollen ruhig darüber schimpfen, es hört sie im All ohnehin keiner!«

»Bei der Entwicklung des Rumpfdesigns«, fuhr der vollbärtige, weißhaarige Raimund Peter fort, »haben wir bereits an die Installation des bald in Serie gehenden Hyperkon-Antriebes gedacht. Einigen von euch wird er auch als DaSceer-Antrieb bekannt sein. Das Kernstück passt problemlos in die Frontnase, wo auch der Grigoroff-Projektor montiert ist.«

»Der Flugantrieb selbst«, spann Paulmann den Faden weiter, »ist im gut geschützten Flügelbereich untergebracht. Um Fragen vorzubeugen, erinnere ich daran, dass der DaSceer-Antrieb ein Feldtriebwerk ist!«

Der holografische Diskus raste zum anderen Ende des Raumes und kehrte wieder vor die Journalisten zurück.

»Mit dem verbesserten Gravo-Jet erreicht das Schiff sowohl im Vakuum als auch in jedweder Atmosphäre seine Maximalbeschleunigung von 1.280 Kilometer in der Quadratsekunde. Beachtet bitte den neuen halbkreisförmigen, von Flügel zu Flügel gehenden Waffenbogen.«

Im Hologramm hatte sich der Bogen vom Schiff gelöst und war größer geworden.

»In ihm stecken neben den MHV-Geschützen die Transformkanone und auch alle Defensiveinrichtungen.«

Die Fachfragen der Journalisten und die Antworten der Konstrukteure waren Alaska größtenteils noch präsent. Ihn interessierte jetzt Praktischeres. Alaska kletterte auf den scheibenförmigen Rumpf und stand nach zwei Schritten vor der Panzerplastkuppel. Er kniete vor dem Außenöffnungssensor der Kuppel, der grünes Licht zeigte, als er ihn antippte. Geräuschlos schwang die Kuppel auf.

Ydira warf sich zu Boden und murmelte panikerfüllt ein paar Worte. Ihrer Handhaltung nach zu schließen betete sie. Cyvho, der im ersten Reflex zurückgezuckt war, näherte sich wieder.

Mühelos kletterte Alaska in das Cockpit und ließ sich in den Sessel fallen. Sofort glich der Computer die Schräglage der Sitzgelegenheit aus. Gleichzeitig verhinderte Alaska mit ein paar Sensorkombinationen das Zugleiten der Kuppel und wandte sich den Instrumentenpulten zu. Obwohl sich die Energieanzeige knapp oberhalb von Null bewegte, zeigten die Sensoren kaum Fehlermeldungen. Nur das Feld für den herkömmlichen Antrieb flackerte und erlosch. Alaska schüttelte resigniert den Kopf.

»Das ist die neueste Errungenschaft terranischer Technik, die Space-Jet der CORBIN-Klasse. Erdacht und geplant von den Konstrukteuren Paulmann und Peter.«

Cyvho schwebte wortlos auf Kopfhöhe mit ihm.

»Wir müssten die Jet ausbuddeln, damit du ihre Form siehst. Offenbar hat sie sich rücklings in den Sand gebohrt. Unter dem Cockpit versteckt sich ein diskusförmiger Körper, an dessen Seiten zwei Triebwerksgondeln angeflanscht sind. Abgerundet wird die Konstruktion durch eine überrollbügelförmige Fly-Bridge, auf der die linsenförmige Waffenkuppel montiert ist.«

»Aha«, kommentierte Cyvho.

Alaska zuckte mit den Achseln und wandte sich den Anzeigen zu.

»Wenn ihr Menschen die Stirn runzelt, bedrückt euch etwas.«

Die Biene war ein guter Beobachter.

»Ich kenne die Jet nur aus Hologrammen. Als ich von Terra wegflog, war der Prototyp erst in der Planung«, erklärte er seinem Weggefährten. »Dieses Schiff sieht nicht nach einem Prototyp aus.«

Der Sessel kippte nach hinten, während sich gleichzeitig die Kuppel schloss. Reflexartig ergriff Alaska die Lehnen, hielt sich fest und hing mit dem Kopf nach unten. Er drehte sich nach rechts und rutschte kontrolliert über den Boden, bis ihn die Wand auffing. Dort richtete er sich auf und sah direkt in Cyvhos Gesicht. Die Biene trommelte mit den Fäusten gegen die Panzerplastkuppel. Alaska zeigte ihm den erhobenen Daumen, was nichts an Cyvhos Verhalten änderte. Erst als Alaska mit den Händen wackelte, verstand er.

Alaska rief sich die Konstruktionsunterlagen der Jet ins Gedächtnis. Er suchte nach Verschraubungen und wurde fündig. Wenn er die Wandverkleidung abnahm, konnte er vielleicht …

Alaska fluchte und hieb sich gegen die Stirn. Es gab eine manuelle Öffnungsmöglichkeit unterhalb des Pilotensitzes. Doch der war vier Meter über ihm. Er griff nach der Rückenlehne des Funkoffiziers, zog sich hinauf, hangelte sich zum Pilotensitz weiter und setzte sich auf die Innenseite der Lehne. Mit dem Brustkorb lehnte er sich gegen die Sitzfläche. Falls er sich nicht täuschte, steckte in der Sockelverkleidung der Notfallhebel. Er tastete nach einer fingergroßen Einkerbung, fand sie und zog daran. Es klickte und sie ging auf. Achtlos warf Alaska die Abdeckung beiseite. Ein dumpfes Geräusch ertönte, als sie die Rückwand traf. Währenddessen griff er nach dem Hebel. Ein Ruck und er war frei.

Nichts geschah.

Alaska riss noch einmal an dem Hebel, doch die Kuppel blieb geschlossen.

Er fluchte. Blieb nur mehr Plan B.

»Verschwindet!«, schrie Alaska.

Weder Cyvho noch Ydira reagierten. Die Biene schwebte rechts von ihm, während die Frau vor der Jet stand.

Die Kuppel war nahezu schalldicht. Viel mehr als ein Säuseln war außerhalb sicher nicht zu hören. Er versuchte es mit verscheuchenden Armbewegungen. Das wirkte. Beide zogen sich von der Space-Jet zurück.

Er tastete sich zum Griff, machte sich kleiner und drückte ihn. Sprengstoff explodierte. Die Kuppel wurde nach hinten geschleudert und landete im Sand. Das Dröhnen in seinen Ohren verschwand und links von ihm surrte es.

»Alles in Ordnung?« Cyvho war näher gekommen.

Alaska hob den linken Arm und zeigte ihm den erhobenen Daumen. Danach erklärte er dem Wissenschaftler die Bedeutung dieses terranischen Zeichens. Cyvho verstaute die Medikamente wieder in seinem Brustsack.

Zügig kletterte Alaska aus dem Kleinraumschiff, half Ydira vom Boden auf, beruhigte sie und drehte sich zur Jet um.

»Hast du noch so etwas auf Lager?«, fragte er Cyvho.

»Reden wir in zwei Tagen weiter!«

*

Fykkar bremste, richtete sich in der Luft auf und schwebte ein Stück über die Dünenkuppe. Damit stand er über der verbotenen Zone. Auch wenn sich an der Landschaft – karge, bis zum Horizont reichende Steppenlandschaft – nichts änderte, brach Fykkar ein Tabu.

Geflüsterte Wortfetzen drangen zu ihm hinauf. Er wusste, warum seine Leute tuschelten. Seit Äonen existierten auf der Landkarte der Insekten weiße Flecken. Sie begannen jenseits der Hauptstadt irgendwo in der Wüste und endeten genauso unmotiviert, wie sie in den Karten verzeichnet waren. Die Insekten akzeptierten diese Zonen, ohne zu wissen warum. Das Verbot, sie zu betreten oder zu durchfliegen, war tief in ihnen verwurzelt.

Selbst Fykkar musste sich auf die Legenden und Mythen seines Volkes verlassen, die so gut wie nicht aussagekräftig waren und sich gegenseitig widersprachen. Er vermutete, dass sich Stützpunkte der Cantaro in ihnen verbargen. Lorsahl verlor kein Wort über die Zonen und weder Fykkar noch einer seiner Mitverschwörer hatten je um Aufklärung gebeten.

Als er weiter in das verbotene Gebiet eindrang, fühlte er eine tief verwurzelte Angst in sich aufsteigen.

Er fluchte.

Wäre doch gelacht, wenn er, General Fykkar, diese Prägung nicht überwinden konnte!

Fykkar drehte sich am Stand und sah zu seinen Soldaten. Sie verharrten hinter ihm, ängstlich.

»Dort«, sagte er und deutete in das Tal, »finden wir den Verräter! Er ist in die verbotene Zone eingedrungen! Ich erwarte von euch, dass ihr mindestens so stark seid, wie er! Er, diese kleine Mistbiene, hat seine Angst besiegt. Ihr seid die Elite! Ihr schafft das ebenso!«

Sie zögerten! Fykkar erkannte es an ihrer Körperhaltung.

»Folgt mir!«

Er schwebte ein paar Körperlängen in das Tal hinein und drehte sich um. Einige folgten ihm, einige bewegten sich nicht.

»Kommt her!«, wiederholte er.

Keiner der Zögernden reagierte.

Fykkar riss die Waffe aus dem Holster, entschied sich wahllos für einen Soldaten und schoss. Der Körper flammte auf und stürzte ab. Sand verschluckte den Aufprall des tödlich Getroffenen. Noch während er den Strahler verstaute, setzten sich die restlichen Soldaten in Bewegung. Folgsam surrten sie an seiner Seite.

Bevor sie weiterflogen, kontrollierte Fykkar die Flugroute. Das handflächengroße Display des Peilsenders zeigte ihm, wo sich Cyvho befand. Alle Insekten in Schlüsselpositionen – und dazu gehörte auch Zarrytors Assistent – trugen ohne ihr Wissen einen implantierten Sender.

»Weiter!«, befahl er und flog nach Nordosten.

*

»Da durch?«

Cyvho bejahte mit einem gezeichneten Dreieck. Mittlerweile verstand Alaska bereits ein paar grundlegende Fühlerstellungen. Auch manches Surren interpretierte er richtig. Tiefes Surren bedeutete Ablehnung, helles Zustimmung. Dennoch runzelte Alaska die Stirn. Sie standen am Fuße eines Berges. Knapp oberhalb des Bodens ragte eine dunkle Röhre aus dem Gestein, die eindeutig künstlichen Ursprungs war. Alaska fühlte sich an Abluft- oder Abwasserkanäle der präatomaren Ära erinnert.

»Du kannst darin nicht fliegen!«

Cyvho landete, ging an ihm vorbei und kroch in die Finsternis. Alaska zuckte mit den Schultern und folgte auf allen Vieren. Vor ihm wackelte Cyvhos Hinterteil bei jedem Schritt, als vollführe er eine Art Tanz. Fehlte nur noch, dass die Biene den Stachel ausfuhr und er hinein lief.

Die Taschenlampe, mit der Cyvho den Weg ausleuchtete, zeigte ihnen bald das Ende ihres Weges. Ein Felsbrocken, der die Röhre aufgerissen hatte, blockierte jedes Weiterkommen. Cyvho stieg auf und Alaska streckte sich. Licht kam heran, blendete ihn, glitt weiter und gab seinen Augen die Chance, sich an das Halbdunkel zu gewöhnen.

Sie standen in einer Art Wartungsschacht, der ihnen knapp zwei Meter Bewegungsfreiheit ließ.

»Dorthin!«

Cyvhos Handlungsarm zeigte in die ursprüngliche Kriechrichtung.

Alaska half Ydira aus der Röhre und es ging weiter. Der Lichtkegel hüpfte mit Cyvhos wackeligen Gang zwischen Wand und Boden hin und her.

»Stopp!«

Die Biene erstarrte. Alaska trat an sie heran, nahm ihr die Taschenlampe ab und leuchtete an der Mauer entlang. Der Lichtkegel folgte einem roten Pfeil rückwärts, der mit dem Wort »Exit« begann.

»Cyvho, wo sind wir?«

»Das musst du mir sagen, Alaska!«

»Ich tippe auf einen Wartungsschacht!«

Cyvho klackte mit den Beißzangen. »Später wirst du es mir genauer sagen können!«

»Genauer?«

Mit einem schnellen Griff brachte er die Lampe wieder in seine Hände und ließ die beiden Terraner in der Dunkelheit stehen. »Viel genauer!«

Alaska knurrte und folgte ihm. Die Schrift war in Interkosmo verfasst, also mussten sie sich innerhalb der Milchstraße befinden. Damit hatte er seinen ersten Anhaltspunkt seit der Bruchlandung auf diesem Planeten.

Auch wenn er als kosmischer Vagabund das ganze Universum sein eigen nannte, fühlte er sich erleichtert. In der Milchstraße war für ihn vieles einfacher. Gut, der Insektenplanet gehörte zu keiner der galaktischen Machtgruppen und lag offenbar abseits der Handelsrouten, aber sobald er sich im Weltall befand, würde er schnell an die galaktische Zivilisation Anschluss finden.

Blieben nur noch die Cantaro, die absolut nicht ins Bild passten. Nach Monos’ Tod im Jahre 1147 NGZ hatten sie sich aus der Milchstraße zurückgezogen. Zurückgelassen hatten sie geknechtete und erniedrigte Völker. Selbst zwei Jahrhunderte nach Ende ihrer Schreckensherrschaft war manch schlimme Wunde immer noch nicht vernarbt. Alaska durfte gar nicht daran denken, welche Verbrechen gegen die Menschlichkeit sie begangen hatten.

Nach ihrem Abgang aus der Milchstraße wurde in den intellektuellen Zirkeln der Galaxis diskutiert, ob die Cantaro als Erfüllungsgehilfen Monos für ihre Taten verantwortlich waren. Er hielt diese Gedanken für müßig. Sah man sich ihre Opferbilanz an, gab es nur eine einzige Antwort.

»Wir müssen in diese Röhre!«

Alaska schmunzelte. Nein, so lautete die Antwort garantiert nicht.

Sie standen vor einem dunklen Loch. Das Licht der Lampe versiegte irgendwo in der Tiefe.

»Ich hoffe, in deinem Brustsack befindet ein sehr langes Seil!«

»Nein!«, antwortete Cyvho und kratzte sich am Unterleib. »Soll ich euch tragen?«, fragte er, stellte sich senkrecht, breitete die Arme aus und flog auf Alaska zu.

Unwillkürlich ging er einen Schritt nach hinten. »Ich bin zu schwer!«

Cyvho bremste und brachte sich wieder in die Waagrechte.

»Wir könnten …« Alaska schätzte den Durchmesser des Loches. Eineinhalb Meter, wenn überhaupt. Er setzte sich an den Rand, stützte sich mit den Händen ab und schob sich nach vorne. Nachdem seine Beine Halt gefunden hatten, rutschte er vorsichtig weiter.

Es funktionierte. Seinen Rücken und Beine fest an die Wand gepresst, kletterte er zwei Meter nach unten.

»Ah, praktisch!«, rief Cyvho über ihm. Mit der Lampe leuchtete er zwischen Alaskas Beine. »Wenn du wieder zurückkommst, kann ich vorfliegen und dich notfalls abstützen, falls du dich ausruhen möchtest!«

Die Idee gefiel Alaska. Er hievte sich über die Kante.

»Ydira, hast du gesehen, wie ich es gemacht habe?«

Sie nickte, während Cyvho im Loch verschwand. Der Strahl der Lampe schoss aus der Röhre, dahinter sah Alaska gerade noch den Schemen der Biene. Er rutschte in den Schacht und kletterte zügig nach unten, den Lichtstrahl zwischen den Bienen. Ydira folgte ihm.

»Die letzten zweieinhalb Meter müsst ihr springen!«

Erstaunt sah Alaska hinunter. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie das Schachtende so schnell erreichten. Doch er verließ sich auf Cyvho, zog die Beine an den Oberkörper, fiel und landete sicher am Boden. Schnell räumte er den Platz für Ydira.

*

»Es werde Licht!«

Nachdem sich Alaskas Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten, schnaufte er. Sie standen am hinteren Ende einer Halle. Die Decke war teilweise eingebrochen. Dennoch erkannte er, wozu die Halle einst gedient hatte. Maschinen und Fließbänder ließen nur einen Schluss zu.

»Erinnerst du dich an meine Frage, Alaska?«

»Eine Fertigungshalle!« Er stampfte zu einer der Maschinen. »Eine vollautomatische Fertigungshalle für Space-Jets, um genau zu sein. Eine davon haben wir in der Wüste gefunden! Siehst du, dort vorne wird der ›Überrollbügel‹ produziert.«

Cyvho gab sich mit der Antwort zufrieden. Alaska jedoch nicht. Er erinnerte sich daran, dass diese neuartigen Space-Jets von einer Firma … Ha! TIBURON SHIPYARDS … auf Plophos hergestellt wurden. Und nur dort!

Doch Plophos war keine Wüstenwelt wie diese hier! Sie war erdähnlich!

Andererseits, er hatte noch nicht viel von Insektoidia gesehen. Wäre er ohne Kenntnis von Terra in der Wüste Gobi gelandet, hätte er Terra auch für eine Wüstenwelt gehalten.

Die Sonne Insektoidias half ihm auch nicht weiter. Sie war, genau wie jene von Plophos, Sol ähnlich. Blieben als Anhaltspunkt nur die halbintelligenten Menschen, die man ihm selbst unter Alkohol- und Drogeneinfluss nicht als Plophoser verkaufen konnte. Und natürlich die massenweise produzierten Space-Jets, die zum Zeitpunkt seines Abfluges nur im Syntron der Herstellerfirma existierten.

Wo zur Hölle war er also gelandet? Und wann?

»Wir sollten verschwinden!«

»Abgelehnt!«

Vermutlich hatte Cyvho Recht. Doch Alaska war noch nicht bereit aufzugeben. Noch lange nicht.

*

Seit zwei Tagen schuftete er an einem der Computerterminals, um die Syntronik zum Leben zu erwecken. Grundsätzlich wurden die Daten in Hyperfelder abgespeichert, die nach Abschalten der Energie irgendwann instabil wurden und erloschen. Aus Sicherheitsgründen erfolgte eine Redundanzspeicherung in Hyperkristallen, die bekanntlich ewig und noch einen Tag länger hielten.

Acht verdammte Stunden hatte er nach ihnen gesucht und war schließlich fündig geworden. Doch sie alleine nutzten ihm nichts. Er benötigte ein Lesegerät. Und daran mangelte es. Alaska hatte sogar Cyvho und Ydira für die Suche eingespannt. Bis jetzt vergebens.

»Ich will wissen, welches Jahr wir schreiben! Nein, nicht eures«, würgte Alaska Cyvhos Antwort ab.

»Das ist doch egal! Wenn du in der Zukunft gelandet bist, gibt es ohnehin kein Zurück!«

Alaska lachte. »Mein junger Freund, es gibt immer eine Lösung! Für jedes Problem!«

»Wie willst …«

Cyvho hob beide Fühler und richtete sie an Alaska vorbei.

Alaska drehte sich um. Dort war niemand. »Was …?«

»Still!« Cyvhos Tonfall gefiel Alaska ganz und gar nicht. Er deutete Ydira, leise zu sein, winkte sie zu sich und lauschte.

»Sie kommen!«

Jetzt hörte Alaska auch das Surren. Zwei Bienen schwebten in die Halle, dann drei, vier … eine ganze Gruppe. Alle bewaffnet.

Ydira griff nach Alaska linken Arm und presste sich an ihn.

»General Fykkar!«

»Sieh an! Cyvho und dieser Mensch!« Der General flog näher, die Waffe im Anschlag.

»Nur fürs Protokoll: Ich bin Alaska!«

»Schweig!« Fykkar schwenkte die Waffe auf Alaska. »Dich knöpfe ich mir später vor! Nachdem du mir erzählt hast, wie du vom Militärgelände entkommen bist!«

»Das war leicht. Eure Wachen sind wenig effizient!«

Fykkar hob den Strahler und schoss. Alaska stieß Ydira von sich, hechtete nach vorne, tauchte unter den Strahlen durch, rollte sich über die Schulter ab und stieß mit der zur Faust geballten Hand zu. Er traf und rollte weiter. Kaum kam er am Boden auf, brach die Hölle los.

Strahlschüsse rasten durch die Luft, zerschnitten Körper, zerschmolzen Aggregate, heizten die Luft auf und überlagerten mit ihrem Zischen das Surren der Insekten. Schreie vergrößerten das Chaos. Dann war es plötzlich vorbei. Gespenstische Stille breitete sich aus.

Vorsichtig lugte Alaska hinter seiner Deckung hervor. Überall qualmte es. Rechts lagen mehrere Bienenkörper am Boden, die meisten zerstückelt. Schnell zählte er die Leichen. Ein paar mussten entkommen sein, darunter auch Fykkar. Alaska schwang sich über die Maschine.

»Cyvho!«

Sein Gefährte hing über einem Fließband. Mit zwei Schritten war er bei ihm.

»Cyvho, alles klar?«, fragte Alaska und berührte ihn an der Schulter.

Ein Ächzen war die Antwort. Cyvho richtete sich mühsam auf. Alaska stützte ihn. Jetzt erst sah er, dass ein Energiestrahl Cyvhos komplette rechte Körperhälfte aufgerissen hatte. Es war ein Wunder, dass er noch lebte. Alaska stieß einen Fluch aus.

»Was …«, Cyvhos hustete, »war das?«

Vorsichtig glitt er mit der Biene zu Boden. Er drehte Cyvhos Körper so, dass er auf der unverletzten Seite zu liegen kam.

»Ich tippe auf automatische Abwehrvorrichtungen mit eigener Energieversorgung, die leider nicht zwischen Freund und Feind unterscheiden. Allerdings haben sie erst geschossen, nachdem General Fykkar gefeuert hat.«

Ydira trat heran und setzte sich zu ihnen. Sanft strich sie über Cyvhos Gesicht.

»Du werden wieder gut!«

»Das werde ich, Ydira.« Cyvho klackte mit den Beißzangen.

Es klang bei weitem nicht mehr so kraftvoll, wie Alaska es gewohnt war.

»Alaska, du … ihr müsst weiter!« Cyvho hielt inne. Offenbar kosteten ihn diese wenigen Worte enorme Kraft. »Hinter diesem Gebirge findest du deine Vergangenheit!« Cyvhos Körper schüttelte sich. »Haben wir sie besiegt?«

Alaska nickte.

»Gut! Auch … Fykkar?«

Wieder nickte Alaska. Es fiel ihm leicht zu lügen.

Cyvho ballte beide rechte Handlungsarme zu Fäusten. Öffnen konnte er seine Finger nicht mehr. Kraftlos fielen die Arme auf seine Brust und die Fühler senkten sich.

Ydira streichelte Cyvhos Kopf und begann zu weinen. Alaska sah ihr mit gespielter Teilnahmslosigkeit zu. Er fühlte sich müde. Unendlich müde.

»Mögest du dort weiterleben, wo du es dir zu Lebzeiten gewünscht hast!«

Was hätte er auch anderes sagen können? Für eine Grabrede kannte er Cyvho zu wenig. Und selbst wenn, eine längere Rede hätte keinen Sinn gemacht. Außer Ydira hörte ihn niemand.

Alaska griff unter Cyvhos Arme und zog ihn nach draußen, wo genug Steine lagen, um einen Hügel über die Leiche aufzuschichten. Als er fertig war, stieß er mit dem Fuß gegen Cyvhos letzte Ruhestätte. Es klackte, als einer der Steine auf einen anderen rutschte. Doch der aufgeschüttete Grabdeckel hielt. Ein Wanderer hätte ihn für einen der vielen Steinhaufen in der Steppe gehalten, ohne zu wissen, dass sich darunter eine Geschichte verbarg.

Alaska legte die Hand auf Ydiras Schulter und spürte seine Blasen. Sie würden ihn die nächsten Tage daran erinnern, wie lange er für das Grab geschuftet hatte. Doch im Vergleich zu Cyvhos Schicksal war das ein zu vernachlässigendes Handicap.

»Cyvho guter Mann, auch wenn nicht kommen wieder!«

Alaska nickte und drückte sie an sich.

»Wir müssen weiter!«, sagte er abschließend.

Fykkar blieb ihnen garantiert auf den Fersen. Individuen von seiner Art, egal ob Humanoide oder Insekt, gaben nicht auf, sondern kamen mit Verstärkung zurück.

Also mussten er und Ydira ihren Zeitvorsprung nützen. Mit einem letzten Blick auf Cyvhos Grab verabschiedete er sich von dem Gefährten.

»Alaska, hinter diesem Gebirge findest du deine Vergangenheit!«

Die Worte Cyvhos klangen in seinen Ohren. Sie trieben ihn weiter. Immer weiter.

Menschen

»Heute, Roan! Heute!«

Roan hob die rechte Augenbraue und betrachtete seine Gefährtin. Ihre braunen Augen funkelten im Schein der Lampe besonders geheimnisvoll im sommersprossigen Gesicht. Obwohl er sie sein ganzes Leben lang kannte, hatte er diesen Gesichtsausdruck noch nie gesehen.

»Moment! Wir wollten doch …«

Vronka wischte seinen Einwand mit einer Handbewegung zur Seite.

»Weiß ich!«

»Und weswegen …?«

Vronka seufzte. »Es fühlt sich jetzt einfach richtig an!«, antwortete sie und strich über ihre schulterlangen, roten Haare.

»Heute?«

Anstelle einer Antwort schnappte sie seine linke Hand und zog ihn heran. Automatisch schmiegten sie sich aneinander. Roan senkte den Kopf und ihre Lippen trafen sich. Kurz spielten ihre Zungen miteinander.

»Gut, ich gebe mich geschlagen!«

Vronka lächelte und drehte sich um. Geführt vom Licht ihrer Taschenlampen drangen sie tiefer in die Finsternis des Stollens ein. Mit jedem Schritt vergrößerten sie die Distanz zur Innenwelt. Und damit zu ihren Familien, ihren Freunden, ihrem Volk und dessen Regeln. Und mit jedem Schritt verstießen sie gegen die oberste Regel der Terrans: Die Außenwelt ist tabu!

»Wir sind Entdecker!«, hatte Vronka zu ihm gesagt. »Entdecker lassen sich von nichts und niemanden aufhalten – schon gar nicht von uralten Gesetzen, deren Herkunft höchstens noch der Ewige Hüter kennt!«

Roan, der Rationale, hatte sich von ihrem Elan und ihrem Enthusiasmus mitreißen lassen. Anfangs war er skeptisch gewesen, doch sie hatte all seine Argumente entkräftet – mit Worten und mit Verführung.

Nun ging er neben seiner Freundin und Seelenverwandten durch einen abseits der Innenwelt liegenden Stollen, in der Hoffnung, zur Außenwelt zu gelangen.

Was tut man nicht alles aus Liebe!?

Roan konzentrierte sich auf die vor ihm zuckenden Lichtkegel. Sie zeigten ihm nicht nur den Weg, sondern auch, dass auf dem Boden eine dicke Staubschicht lag. Wie lange war dieser Gang schon unbenutzt?

Einhundert Jahre oder länger?

»Da!«

Vronka blieb stehen. Der Strahl ihrer Taschenlampe glitt über einen Riss im Beton, erhellte eine eingestürzte Wand und enthüllte ein Loch unterhalb der Decke.

»Dahinter verbirgt sich hundertprozentig ein Gang!« vermutete sie.

Roan legte die Stirn in Falten.

»Ob ich da durchkomme?«

»Klar! Du schaffst das, mein Mäuschen«, beruhigte sie ihn und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange.

Roan stellte sich an die Wand und suchte nach Kletterhilfen. Er klemmte die Lampe zwischen die Zähne, griff in Kopfhöhe mit der rechten Hand nach einem Vorsprung, streckte die linke Hand und erreichte mit Mühe die Einkerbung. Auch mit dem rechten Fuß fand er eine Stelle, an der er sich abstützen konnte.

Mit einem Ruck zog er sich nach oben und hing über dem Boden. Vier Kletterzüge später spähte er in den rechtwinkelig von der Wand abzweigenden Spalt. Die Taschenlampe war zu schwach, um ihn bis ans Ende zu erhellen. Unter sich hörte er, dass sich Vronka ebenfalls an der Wand versuchte. Roan kletterte in den Spalt und robbte vorwärts. Links und rechts hatte er genug Platz, nur über ihm haperte es. Ihm blieben maximal fünfzehn Zentimeter.

»Zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel«, murmelte er und rutschte ein Stück nach rechts, da ein Stein in seine Rippen drückte. Nachdem er einen halbwegs bequemen Platz gefunden hatte, spürte er, wie ihm Vronka auf die Wade klopfte. Sie schob sich über die Trümmer, bis sie Seite an Seite lagen.

»Was wird uns am Ende erwarten?«, fragte sie leise.

Roan lachte. »Das, was du immer schon sehen wolltest, mein Schatz: Die Außenwelt!«

»Ich wünschte, wir wären schon dort!«

Wortlos drückte er ihre rechte Hand.

»Hey, wir schaffen das! Wir schaffen das, weil wir uns lieben! Und weil wir Entdecker sind!« Er brachte sie zum Lächeln. »Und Entdecker«, fuhr er fort, »lassen sich von nichts und niemandem aufhalten – schon gar nicht von ein bisschen Dunkelheit und Ungewissheit!«

Vronka zog seine Hand zu ihrem Gesicht und küsste sie. »Danke!«

»Lass uns weitermachen«, sagte Roan. Sie schoben sich nach vorne, wichen den gefährlichen Stellen aus und er verlor irgendwann sein Zeitgefühl.

»Riechst du das?«

Vronkas Hand an Roans rechten Oberarm stoppte ihn. Er schnupperte.

»Was?«

»Die Luft! Sie hat sich verändert!«

Roan roch nichts.

»Los, komm! Wir müssen bald da sein!«

Vronka kroch weiter, während Roan die Nasenflügel blähte und Luft einzog.

»Hey, warte …«

Roan wälzte seinen Körper herum, bis er mit den Füßen die Steinwand berührte.

»Mach schon«, drängte ihn Vronka.

Er winkelte seine Beine an und stieß zu. Es klatschte dumpf, als seine Sohlen das Trümmerstück trafen. Er spürte, wie es unter seinem Tritt zitterte. Erneut zog er die Beine an und ließ sie nach vorne schnellen.

»Ja«, rief Vronka, »es hat sich bewegt!« Vor Aufregung überschlug sich ihre Stimme. »Weiter! Du hast es gleich geschafft.«

Zwei weitere Tritte folgten. Beim Dritten fuhren seine Beine ins Leere. Roan schloss die Augen, als das Licht auf ihn zuschoss. Er war sicher, dass sich Vronka, die mit dem Gesicht zur Öffnung lag, genauso verhielt.

»Wir sind durch! Wir sind durch!«

Roan öffnete die Augenlider und blinzelte, da er exakt im Lichtstrahl lag. Nachdem sich seine Pupillen an die Helligkeit gewöhnt hatten, sah er, wie Vronka mit bloßen Händen gegen die Steine drosch, um die Öffnung für ihren Körper zu vergrößern. Er griff mit der linken Hand an ihr rechtes Bein.

»Mäuschen!«, rief Roan. »Verletze dich nicht! Bitte! Alles ist in Ordnung!«

Erleichtert merkte er, wie sie sich entspannte. Sie rutschte beiseite und machte seinen Beinen Platz. Mit vier wuchtigen Stößen verbreiterte er die Öffnung, so dass sie beide gleichzeitig hindurch passten. Ächzend wendete er seinen Körper, während Vronka nach außen verschwand. Ohne zu überlegen brachte er seinen Kopf in die Außenwelt.

Vronka stand auf einem kleinen Plateau, das einen halben Meter unter ihm lag. Hinter ihr erstreckte sich eine Wüste, halb Stein, halb Sand. Durchbrochen wurde sie durch Gebilde, die Ähnlichkeiten mit Türmen und Riesenblöcken hatte. Roan winkelte die Beine an und hüpfte nach draußen.

Ohne sich umzusehen trat er zu Vronka, legte seine Hände an ihre Hüften und schmiegte sich an sie.

»Ist das …?«

»Ja, mein Schatz«, Roans Kinn grub sich sanft in ihre Schulter, während er seine rechte Wange an die ihre legte, »das ist die Sonne!«

Vronka fasste nach seinen Händen und zog sie zu ihrem Bauch.

»Sie ist schön!«

»Fast so schön wie du! Und fast so schön, wie diesen Augenblick mit dir zu erleben. Vronka, ich bin so dankbar, dass es dich in meinem Leben gibt!«

»Danke! Ich hab dich lieb!«

Sie pressten sich aneinander und schwiegen. Jetzt erst merkte Roan, dass ihn die Luft in der Nase kitzelte. Vronka hatte recht: Es roch … anders! Er überlegte und fand das passende Wort: würziger.

»Es ist wärmer«, murmelte Vronka.

Roan stimmte ihr zu. Er schätzte, dass die Temperatur um fünf bis acht Grad höher lag, als sie es gewohnt waren.

Jetzt erst betrachtete er die nähere Umgebung. Unter dem Plateau erstreckte sich ein kleines Tal. Quer in diesem Tal lag eine löchrige kegelförmige Konstruktion, dessen obere Hälfte von Ausbuchtungen geprägt war. Sie musste künstlichen Ursprung sein.

»Erinnert mich an eine Blume«, sagte Vronka, während Roans Blick bereits weitergewandert war.

»Runter!«, zischte er und riss seine Freundin mit sich. Im Fallen drehte er sich so, dass Vronka auf ihn stürzte.

Kaum waren sie am Boden gelandet, deutete er auf das Plateau unter sich. Jedes Geräusch vermeidend robbten sie zur Kante und spähten über den Rand. Unter ihnen stand ein hagerer Mann, für dessen Körperhaltung Roan nur ein Wort fand: Starre.

Er blieb bewegungslos. Vronka fuchtelte mit den Armen.

»Wer … wer ist das?«, flüsterte sie.

»Frag mich etwas Leichteres!«

Totes Terra

Alaska starrte in das Tal.

In das Tal, das keines war.

Alaska starrte auf die Station.

Auf die Station, die keine war.

Ruckartig setzte er einen Fuß vor den anderen. Gleichzeitig schüttelte er Ydiras ab, die ihn zurückhalten wollte. Er brauchte sie nicht.

Er, Alaska Saedelaere, hatte nie jemanden gebraucht.

Etwas in ihm widersprach, doch er unterdrückte die Erinnerung an Liv Andaman, die einzige Frau, mit der er jemals zusammenleben wollte. Damals, als er noch keine Maske getragen hatte. Damals, als er noch nicht mitten im kosmischen Geschehen stand. Damals, als …

Er rief sich zur Ordnung. Das alles war Geschichte. So wie das orchideenartige Gebilde in dem Tal, das er fassungslos anstarrte.

Was zum Teufel hatte er getan, dass ihn das Schicksal derart verarschte?

Seine Gedanken kehrten zum Dezember des Jahres 3581 alter Zeitrechnung zurück. Vor ihm ragten die Steinskulpturen aus dem Boden, die zum Sonnentor von Tiahuanaco gehörten und ihn an jene von Derogwanien erinnerten.

Der Zeitbrunnen hatte ihn auf Terra ausgespuckt. Auf einem verlassenen Terra, wo der Wind über das karge Land heulte und den rotkörnigen Sand in Böen heranpeitschte.

Und nun, Generationen später, hatte ihn das Schicksal oder sonst irgendeine perverse kosmische Macht erneut zur Erde geführt. Wieder war Terra verlassen. Wieder war er der einzige intelligente Mensch, falls es nach dem Absturz der WITMAE keine anderen Überlebenden gegeben hatte.

Alaska weigerte sich, Ydira und ihre Artgenossen als intelligente Menschen anzusehen. Eine gewisse Grundintelligenz hatten sie, sicher, aber sie waren kaum mehr als bessere Affen.

»Warum?«

Er schrie seine Wut in die Welt hinaus. In die Welt, auf der er geboren wurde. In die Welt, auf der er geliebt hatte. Er schrie in eine Welt, auf der er die einzige Frau verloren hatte, die ihm je etwas bedeutet hatte. Und er schrie in eine Welt, in der er früher oder später wohl auch sterben würde.

Etwas brannte auf seinen Lippen.

Salz!

Verwundert kostete er mit der Zunge. Er hatte sich nicht getäuscht. Vergebens versuchte er sich daran zu erinnern, wann er das letzte Mal geweint hatte. Hatte er überhaupt jemals geweint?

Er wusste es nicht. Er wusste es genau so wenig, wie er wusste, was er jetzt tun sollte.

Bin ich etwa verzweifelt?

Ungläubig horchte er in sich hinein. Durfte sich ein Unsterblicher solche Gefühle erlauben? Musste er nicht wie Perry Rhodan sein? Ein ewiger Fels in der Brandung, durch nichts zu erschüttern? Musste er ein Vorbild für alle Menschen sein?

Alaska kicherte. Auf Terra existierten keine Menschen mehr. Niemand, der von Perry Rhodan, der Liga Freier Terraner oder ihm, dem ehemaligen Mann mit der Maske, etwas gehört hatte.

Alaska unterdrückte den Wunsch, mit dem Fuß in die Luft zu treten, weil er sich damit über den Rand des Plateaus befördert hätte. Und dann wäre er, der letzte Unsterbliche auf Terra, am Fuße der Solaren Residenz auf dem Boden zerschmettert worden.

Niemand wäre damit gedient gewesen.

Sein Blick klärte sich. Der Wind pfiff ihm entgegen, während die Sonnenstrahlen auf seiner Haut brannten. Wenigstens Sol hatte sich nicht verändert. Er winkte in Richtung der Sonne, als handle es sich um eine alte Gefährtin, dann trat er mehrere Schritte zurück.

»Ich finde heraus, was passiert ist!«, schwor er sich.

Er wandte sich ab und prallte mit Ydira zusammen. Sie legte die Arme um seine Schultern und drückte sich an ihn. Er wartete schweigend, bis sie sich von ihm löste und marschierte in Richtung Grotte.

*

Roan kratzte sich am Hinterkopf, während der Mann und die Frau vom Felsengewirr verschluckt wurden.

»Der Mann spricht unsere Sprache«, sagte er und erhob sich. Seine Gefährtin tat es ihm gleich. Mit ein paar Handbewegungen wischte sie den Staub von der Kleidung.

»Dann müssen Terrans in der Außenwelt überlebt haben!«

»Hm«, brummte Roan. »Wieso war er so überrascht, als er dieses … dieses … Ding gesehen hat?« Mit dem rechten Daumen deutete er ins Tal.

Vronka zuckte mit den Achseln. »Sehen wir uns dieses Gebilde näher an!«, verlangte sie.

Roan schüttelte den Kopf. »Wir müssen zurück!«

»Schade!«

Ihr Blick ging nach oben.

»Wir kommen wieder!«

Mit diesen Worten verabschiedete sie sich von der im Zenit stehenden Sonne.

Die verwelkte Orchidee

Alaska stand erneut an der Kante und starrte in das Tal. Selbst einen ganzen Tag später, nachdem er den Tatsachen ins Auge geblickt hatte, konnte es ein Teil von ihm nicht fassen.

Er breitete die Arme aus und ballte seine Hände zu Fäusten. Langsam und bewusst holte er Luft und beugte dabei seine Arme. Gleichzeitig spannte er die Muskeln. Als er ausatmete, streckte er die Arme durch und entspannte sich.

Alaska schloss die Augen und konzentrierte sich auf die Umgebung. In der Luft lag der typische Wüstengeruch, während die Sonne auf sein Gesicht brannte, als wollte sie ihn austrocknen. Die Kleinausgabe der Insekten, die Mücken, umschwirrten ihn. Sie waren eine richtige Plage, da sie es auf seine Gesichtsöffnungen abgesehen hatten.

Alaska öffnete die Augenlider und verscheuchte sie mit einer Handbewegung. Dann widmete er sich der künstlichen Orchidee. Heute kannte niemand mehr ihren Namen, doch es gab eine Zeit, da sprachen die Menschen voller Ehrfurcht von ihr. Sie war das Sinnbild für den Widerstand der Menschen und dafür, dass sich die Menschheit nicht unterkriegen ließ. Von niemandem.

Diese Aussage hatte in Form einer Orchidee direkt über den Köpfen der Terraner gethront. Tag und Nacht hatte die Solare Residenz die Menschen daran erinnert, wie zäh sie alle waren. Doch nun lag die Residenz, das Symbol der Menschheit, zerschossen und zerstört unter ihm. Von seinem Plateau aus wirkte sie wie das Werkzeug eines Riesen. Ein nutzloser und vergessener Zeuge einer glorreichen Vergangenheit.

Es ist dunkler, wenn ein Stern erlischt, als wenn er nie geleuchtet hätte.

Alaska glaubte die schnarrende Stimme von Torra zu hören. Mit zwölf Jahren hatte er den Roboter auf einem Schrottplatz gefunden und von ihm die Geschichte der EX-847 erfahren. Das Zitat selbst stammte von Reginald Bull, der für elf Monate das Kommando über den Explorer übernommen hatte. Trotz der Distanz von mehreren Jahrtausenden faszinierte ihn dieser Satz, da er auf jede Gelegenheit anwendbar war.

Ohne zu überlegen, sprang er fünf Meter in die Tiefe. Leichtfüßig kam er im Sand auf, rollte sich ab und kullerte ein paar Meter weiter. Nachdem er sich erhoben hatte, marschierte er nach unten. Mit etwas Glück schaffte er die Strecke über die Düne und die zwei Plateaus in knapp einer halben Stunde.

*

Siebenundzwanzig Minuten später lehnte er an der Residenz – mit durchgeschwitzter Kombination und am Körper klebender Unterwäsche. Andächtig glitten seine Finger über die Außenhaut. Trotz der Hitze des Tages fühlte sie sich kühl an.

Er wandte sich nach rechts und ging an der Außenwand entlang. Nach vier Metern stand er vor dem ersten Einschussloch. Alaska schaute durch den Spalt. Es dauerte eine Sekunde, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnten. Dennoch sah er nichts.

Zurück im Freien ging er den Bauplan der Residenz durch. Die wichtigsten Räume befanden sich am oberen Ende der Residenz. Wenn, dann würde er dort fündig werden. Alaska starrte nach vorne. Weitere hundert Meter lagen vor ihm.

*

Verärgert schlug Alaska mit der Faust gegen die Wand. Der Schmerz in seinen Knöcheln brachte ihn zur Besinnung. Seit dreieinhalb Stunden kämpfte er sich durch ein Gewirr aus Metallgerippen, Plastik und halb verrotteten Einrichtungsgegenständen. Falls ihn sein Gedächtnis nicht täuschte, befand er sich bereits in der Nähe der Administrationsbüros und des Rechenzentrums. Sie lagen am Kopf der Residenz, in greifbarer Nähe zum öffentlichen Bereich. Dennoch hatte er bislang in den halb zerstörten Räumen außer einem Paralysator nichts von Interesse gefunden.

Alaska verlagerte das Gewicht auf den anderen Fuß. Das rechte Bein war abgewinkelt und nach hinten gerichtet, während er den linken Fuß nach vorne streckte. So glich er den Höhenunterschied zwischen den geborstenen Metallteilen aus, auf denen er balancierte. Seine Schultern zog er ein und neigte leicht den Kopf. Links von ihm schränkte ein herabgestürzter Deckenträger seine Beweglichkeit zusätzlich ein.

Doch das alles war nebensächlich. Er musste den Spalt in der Wand vor ihm verbreitern. Nur so kam er weiter. Er hatte es satt, ständig zurück zu klettern und nach einem Umweg zu suchen. Zu oft hatte ihn der Widerstand des Materials in den letzten Stunden dazu gezwungen.

Mit einer schnellen Bewegung wischte er sich den Schweiß von der Stirn und hob die fallen gelassene Stange auf. Seine Finger umschlossen sie am unteren Drittel. Er hob sie und zog sie mit beiden Armen über die rechte Schulter. Dann stieß er zu.

Klonk.

Der Ton bestätigte Alaskas Vermutung: Das Material war nicht allzu dick. Erneut drosch er gegen die Wand. Diesmal stieß die Stange ins Leere. Der Schwung seines Stoßes riss ihn vorwärts, direkt auf einen Metallzacken zu. Blitzschnell ließ er los und die Stange folgte der Schwerkraft. Er streckte seinen Arm aus, während er den rechten Fuß verkantete. Dumpf und schmerzhaft klatschte seine Handfläche auf die Wand und stoppte die Vorwärtsbewegung.

Alaska atmete lautstark aus. Knapp drei Zentimeter trennten ihn von der scharfen Kante. Langsam zog er den rechten Fuß aus der Vertiefung und setzte über den Metallzacken hinweg.

»Du befindest dich im Sicherheitsbereich Alpha II-1! Identifiziere dich!«

Alaska bewegte sich nicht. Die rot glühende Abstrahlmündung am Waffenarm des Kampfroboters vertrieb jeden Zweifel an der Ernsthaftigkeit der Situation.

Solare Residenz. Ehemalige Solare Residenz, korrigierte er sich und rief sich im selben Moment zur Ordnung. Er hatte keine Zeit für semantische Spielchen.

»Ich wiederhole: Identifiziere dich!«, verlangte der offenbar ungeduldig werdende kegelförmige Roboter.

Alaska blendete die rasenden Gedanken aus und konzentrierte sich. Sekunden später ratschte er seinen zuletzt gültigen Code hinunter. Gebannt blickte er auf die Abstrahlmündung. Sie erlosch.

»Kennung akzeptiert! Guten Tag, Alaska Saedelaere.«

Als wäre nichts geschehen, senkte der Kampfroboter – Typ Tara-V-UH – seinen Waffenarm und Alaska trat tiefer in den Raum. Er gehörte zum Rechenzentrum. Auch wenn viel zerstört war, musste hier irgendetwas zu finden sein. Ein paar Schritte von ihm entfernt entdeckte er eine komplett erhaltene Eingabekonsole zu LAOTSE, dem syntronisch-biopositronischen Rechner der Solaren Residenz. Alaska verzichtete auf akustische Befehle und hämmerte mit seinen Fingern auf die Sensoren. Das Schwarz der Konsole wich in einem zwanzig auf zwanzig Zentimeter großen Bereich einem Farbdisplay. Eine Übersicht über die Verzeichniseinträge des Zentralspeichers erschien.

Alaskas Finger erstarrten und seine Augen wurden groß. Der Dateiname – Terra – Aufstieg und Niedergang – verhieß nichts Gutes. Auch dass diese Datei von Maurenzi Curtiz erstellt worden war, beruhigte ihn nicht. Und das Datum sah er sich lieber noch nicht an.

Sein rechter Zeigefinger verharrte über dem Sensor, der die Datei aktivieren würde. Alaska schloss die Augen.

»Es ist dunkler, wenn ein Stern erlischt, als wenn er nie geleuchtet hätte«, murmelte er, als sein Finger den Sensor berührte …

Vergangene Gegenwart I

Mustine atmete langsam aus. Gleichzeitig drückte er die Lendenwirbelsäule mit den Händen nach vorne, ächzte und dehnte seinen Brustkorb. Seufzend presste der Kommandant der RATTLEHEAD seinen Rücken wieder gegen die Sessellehne.

Ein Blick überzeugte den Terraner, dass alle Sensoren auf seinem Schaltpult grün leuchteten. Das Hologramm zu seiner Rechten zeigte ihm eine Übersicht des zu überwachenden Sektors. Die RATTLEHEAD war eines von mehreren tausend Schiffen, die die terranische Außengrenze gegen überraschende Aktionen der Arkoniden sicherten. Auch wenn sich Bostich seit dem Sieg gegen die Truppen aus Tradom ruhig verhielt, gingen die Verantwortlichen in der Solaren Residenz – allen voran Reginald Bull – auf Nummer Sicher. Bostich hatte sich schon zu oft als unberechenbar erwiesen.

Ein herzhaftes Gähnen drang an Mustines Ohren. Da es von links kam, konnte es nur von Ellevson stammen, dem Ortungsoffizier.

»Müde?«

»Gelangweilt«, antwortete der brünette Terraner.

In seiner legeren Art hatte er die Füße auf das Pult gelegt und die Hände hinter dem Kopf verschränkt.

»Ich bin geneigt, dir zuzustimmen, aber …«

»Treffer!«

Während Mustine den Kopf nach rechts drehte, warf er einen Sicherheitsblick auf das Überwachungsholo. Es war schwarz.

Sein fragender Blick traf Menca, den Feuerleitoffizier. Der räusperte sich verlegen und schwieg.

»Was ist, Schwarzlocke«, wollte Ellevson wissen. Er spielte auf Mencas lange Haare an.

»Was soll sein?«

»Na, was brüllst du herum?«

»Ich habe den Computer geschlagen, mit einem High Score!«

Ellevson lachte und klatschte mit der flachen Hand auf den Oberschenkel. »Schiffe versenken! Nick, du bist echt zum Schießen!«

»Du mich auch«, kam es von Menca.

Mustine grinste. Er sparte sich einen Ordnungsruf. Die Zentralbesatzung der RATTLEHEAD kannte sich lange genug, um sich gefahrlos gegenseitig aufzuziehen. Niemand nahm es dem anderen übel, wenn er verarscht wurde.

Der Kommandant streckte sich erneut. Er überlegte, was ihm mehr zusetzte: In Krisenzeiten dem Tod ins Auge zu sehen oder die Langeweile auf Patrouillenflügen zu ertragen.

Das Schicksal in Form der Ortungssirene enthob ihn einer Antwort. Schlagartig änderte sich die Stimmung in der Zentrale: Ausgelassene Heiterkeit wich der Konzentration, Langeweile der Neugier.

Mustine richtete sich im Sessel auf, während seine Finger über die Sensoren glitten. Quasi nebenbei registrierte er die Meldungen der Syntronik.

»Hyperraumaustritt von 12.133 Raumschiffen. Tendenz steigend.«

Mit einem Sensordruck aktivierte Mustine die Alarmsirene. Binnen Sekunden war es mit der Ruhe im Inneren des Schiffes vorbei. Die Frauen und Männer der Freischichten hasteten in kontrolliertem Chaos auf ihre Posten und bestätigten damit die Effizienz des Trockentrainings.

»Ellevson, Meldung an Terra! Menca, du schießt nur auf mein Kommando!«

Die Syntronik zeigte ihm, dass alle Besatzungsmitglieder dort saßen und standen, wo sie im Gefechtszustand zu sein hatten.

»Mustine an alle! Derzeit materialisiert in unserem Sektor eine sehr große Flotte unbekannter Herkunft. Wir beobachten und greifen nicht ein. Im Notfall ziehen wir uns zurück!«

Im Ortungsholo gruppierten sich die roten Punkte, von denen jeder für einen Fremdraumer stand, zu einer Kugel.

»Zehn Schiffe kommen auf uns zu! Schussdistanz in einer Minute!«, rief Ellevson. Seine Stimme klang angespannt.

Mustine fackelte nicht lange. Er tippte mit seinem Zeigefinger auf einen Sensor. Sofort sprangen die Maschinen des Schweren Kreuzers von Leerlauf auf Hochlast. Die Impulstriebwerke sorgten für den Rückstoß. Rein optisch betrachtet sprang die RATTLEHEAD von den anfliegenden Raumern weg. Doch es war zu wenig für einen Abgang. Zuerst musste sich der Metagrav-Vortex aufbauen, um das Schiff in den Hyperraum zu reißen.

»Funkspruch raus!«, befahl Mustine.

»Erledigt!«

Träge verstrichen die Sekunden.

»Keine Reaktion!«

Skeptisch blickte Mustine in sein Kommandantenhologramm. Zwei Ziffern zählten gleichzeitig rückwärts. Links die Zeit bis zum Hyperraumeintritt und rechts, bis die Fremdraumer die Kernschussdistanz erreichen würde. Die beiden Zahlen ließen nur einen Schluss zu: Es würde sich für die RATTELHEAD nicht gut ausgehen!

Damit ergab sich Mustines nächster Schritt von selbst. Er aktivierte den Paratronschutzschirm. Dessen rote Auslastungsanzeige lag derzeit unterhalb von einem Prozent, doch das würde sich in einem Gefecht rasch ändern.

»Kernschussdistanz!«

Kaum hatte Ellevson geendet, schlugen die ersten Strahlen im Paratron ein. Der Balken der Belastungsanzeige schoss auf siebenundneunzig Prozent empor, obwohl die Syntronik zusätzliche Energien in die Aggregate zur Schutzschirmerzeugung leitete. Gleichzeitig wurde das helle Licht der Zentrale von Rotlicht abgelöst.

»Uns fehlen zwanzig Sekunden, verdammt!«, murmelte Mustine, während er gleichzeitig Ausweichmanöver flog.

Die RATTLEHEAD ruckte. Wieder hatten die Strahlenschüsse der fremden Raumer getroffen. Mustine erkannte an einer Hochrechnung, dass das Schiff keinen weiteren Treffer überstehen würde. Jetzt hieß es alles oder nichts.

»Alle verfügbaren Energien in den Antrieb!«

Der blau leuchtende Paratronschirm erlosch und wich dem grünlichen, weniger starken Hochüberladungsschirm. Die RATTLEHEAD musste noch fünf Sekunden überstehen.

»Vier, drei …«

Die »Zwei« erreichte das Unterbewusstsein von Mustine, die »Eins« hörte er nicht mehr. Niemand an Bord der RATTLEHEAD hörte sie.

Die fremden Raumer bremsten ihren Flug nicht einmal ab, als sie durch die Explosionswolke rasten.

Vergangene Gegenwart II

Die Wörter verschwammen. Instinktiv ließ Maurenzi Curtiz seinen Schreibstift fallen, während er sich im Sessel zurücklehnte. Mit beiden Händen rieb er sich die Augenbrauen und streichelte danach seufzend seinen weißen Vollbart.

Vor ihm auf dem Tisch lag der Notizzettel, auf dem er unter der Überschrift »Zweite Durchführungsverordnung zum Sicherheitspolizeigesetz« einige Stichwörter notiert hatte.

Da Maurenzi Curtiz mit einer hitzigen Debatte im Residenz-Parlament rechnete, ging er alle Pro- und Kontraargumente für die Verabschiedung des Gesetzes durch. Es würde nicht leicht werden, die Abgeordneten zu überzeugen. Bereits im Vorfeld hatte die Opposition Widerstand gegen das neue, liberalere Gesetz angekündigt. Auch von einzelnen Abgeordneten des Senats, der die Interessen der Einzelwelten vertrat, kamen Gegenstimmen.

Zum Glück stützte sich die Regierung des Ersten Terraners auf eine breite Mehrheit. Dennoch musste er sich auf die Parlamentsdebatte vorbereiten. Es gab nichts Peinlicheres, als in einer öffentlich übertragenen Debatte sein Gesicht zu verlieren. Er, die lebendig gewordene Vaterfigur, durfte sich keine Blöße geben; das war er schon seinen Wählern schuldig.

Als seine linke Hand den Schreibstift aufhob, ertönte ein Signal. Er sah, wie rechts oben auf seinem Tisch ein Lichtsensor blinkte. Curtiz lehnte sich vor und bestätigte. Sofort baute sich über dem Schreibtisch ein Hologramm auf. NATHANs Erkennungslogo entstand und wich sofort dem Weltraum, in dem es von Raumern nur so wimmelte.

»Seit wenigen Minuten«, hörte Curtiz die wohlmodulierte Stimme der Mondsyntronik, »materialisieren im Sektor Evenstar Raumschiffe unbekannter Herkunft. Die derzeitige Anzahl liegt bei 38.749 und noch ist kein Ende abzusehen!«

Der Erste Terraner schluckte, während auf seinem Schreibtisch ein weiterer Sensor aufleuchtete. »Solarer Resident« stand mit blauer Schrift darunter. Ohne zu überlegen, hieb Curtiz darauf.

Erneut aktivierte sich ein Hologramm. Perry Rhodans Gesicht war ausdruckslos, nur seine grauen Augen zeigten Anspannung. »Unsere Flotte ist unterwegs!«

Curtiz wunderte sich nicht, dass Rhodan bereits gehandelt hatte. Der Unsterbliche war für seine Pragmatik bekannt.

»Hört das nie auf?«

Rhodan zuckte mit den Achseln und schwieg.

»Knapp zwölftausend Raumer sind soeben aus Sektor Evenstar verschwunden«, meldete NATHAN. »Aufgrund der Hochrechnung des Kursvektors ergeben sich zwei Zielsysteme: Kreit und Boscyks Stern.«

»Ertrus und Olymp! Verdammt, was wollen die dort?«

Rhodan schwieg. Er wirkte entspannt, während Curtiz versuchte, seine Aufregung zu unterdrücken. Er kam nicht dazu.

NATHAN blendete in zwei weiteren Hologrammen die beiden Systeme ein. Raumschiffe rasten in Alarmstarts von den Planeten in den Himmel und formierten sich.

Weder Curtiz noch Rhodan sprachen etwas. Sie starrten in die Hologramme und warteten. Curtiz ertappte sich dabei, wie er alle fünf Sekunden auf die Uhr blickte. Verärgert bedeckte er das Anzeigefeld schließlich mit seinem Hemdärmel.

Als er sich wieder dem Hologramm widmete, hatte sich das Bild verändert. Die fremden Flotten standen wie aus dem Nichts kommend in den Systemen. Ohne Funkspruch eröffneten sie das Feuer. Die Antwort der Verteidiger kam postwendend: Die Wachforts und Kugelraumer schossen zurück. Unterschiedlich leuchtende Strahlen zuckten durch den Weltraum und verwandelten ihn in einen Ort des Chaos, so dass Curtiz die Orientierung verlor.

Er blickte nicht mehr zwischen den Systemen hin und her, sondern konzentrierte sich auf das Kreit-System. Als die Gegner den vierten Planeten erreicht hatten, materialisierten siebentausend Kugelraumer in ihrer Nähe. Die terranische Flotte kam ihren Freunden zu Hilfe! Quasi von hinten stürzten sie sich auf die Angreifer. Die fremde Flotte teilte sich und kämpfte gegen den neuen Gegner.

»82.000 Schiffe in Sektor Evenstar!«

Curtiz hörte NATHAN nur nebenbei. Er konnte sich nicht vom Anblick des Holos losreißen. Als der Angriff der Fremden durch den Zweifrontenkrieg ins Stocken geriet, erhielten sie Verstärkung von weiteren siebzehntausend Raumern.

»NATHAN!«

Rhodans Stimme ließ Curtiz zusammenzucken, so gefangen war er von den Bildern.

»Generalmobilmachung! Schick zehntausend Schiffe in die angegriffenen Systeme!«

»Mein Gott!« Curtiz merkte nicht, dass er laut aufgeschrien hatte.

Die ersten Feindschiffe hatten Ertrus erreicht und beschossen die Planetenoberfläche. Auf Baretus, die Hauptstadt von Ertrus, fielen die ersten Bomben. Waffenstrahlen zerschnitten die Straßen, halbierten Hochhäuser und verdampften startende Gleiter. Binnen Minuten entstand ein Flammenmeer. Doch die Kameradrohne kannte keine Gnade und zoomte das Grauen näher heran. Curtiz schüttelte sich, als er sah, wie Ertruser aus brennenden Hochhäusern sprangen. Wie verzweifelt mussten sie sein, um den »rettenden« Sprung in die Tiefe anzutreten?

Für einige Sekunden wünschte sich Maurenzi Curtiz, eine schlechte Hollywood-Produktion vor sich zu haben. Doch die Bilder entsprachen der Realität. Einer grauenvollen Realität.

»Die Schiffe wurden identifiziert! Es handelt sich um Hilfsvölker von MODROR: Larsaar, Zievohnen und Skurit.«

Curtiz blickte zu Rhodan.

»Ich dachte, er sei vernichtend geschlagen?«

»Offenbar nicht. Nun wissen wir, was die Flotte will!«

Plötzlich wurde es im Hologramm aus dem Kreit-System hell.

»Er … Ertrus …« Curtiz stockte. Er glaubte es nicht. Ertrus war soeben explodiert!

»NATHAN!« Rhodan hielt sich nicht mit Trauer oder Verzweiflung auf. Er registrierte die Fakten und handelte. »Krisensitzung in fünf Minuten. Trommle die Verantwortlichen zusammen.«

Zum Ersten Terraner gewandt, sagte er: »Maurenzi, vergiss nicht! In fünf Minuten.«

Curtiz nickte automatisch und sah, dass Rhodan sich in Luft auflöste. Nun war er alleine. Alleine mit den Hologrammen. Und mit seiner Fassungslosigkeit.

Vergangene Gegenwart III

Ein Impuls raste durch die Dunkelheit und hinterließ einen hellen Strich, ähnlich einem Kondensstreifen am Himmel, der langsam verblasste.

Sein Ziel – ein verwaschener weißer Fleck – lag exakt in der Mitte der Finsternis. Still und bewegungslos.

Der Impuls traf auf das weiße Etwas, stieß durch die Oberfläche und trat auf der anderen Seite aus.

Nichts. Keine Reaktion. Zumindest nicht von diesem Gebilde.

Der Strahl hingegen verschwand so schnell, wie er in der Finsternis entstanden war.

Erneut wurde die Dunkelheit durch einen Impuls zerrissen. Wieder raste er ins Weiße. Und diesmal zeigte das beschossene Etwas eine Reaktion. Es zuckte. Gleichzeitig erfüllte eine Art Ächzen die Dunkelheit, dann war alles wie zuvor. Still und bewegungslos.

Zum dritten Mal entstand ein Strahl. Wer auch immer ihn abgefeuert hatte, er traf auch diesmal.

Lasst mich in Ruhe!

Einem Donnergrollen gleich breitete sich dieser Gedanke in der Dunkelheit aus. Irgendwann prallte er an die Grenzen des Gefängnisses – Gefängnisses? – und wurde zurückgeworfen.

Doch der Schießende gab nicht auf. Ein vierter Strahl schoss in den Fleck und verschwand darin.

Der Fleck zuckte. Einmal, zweimal, dreimal.

Dann wurde das Zucken zum Wabbern und der Fleck strahlte heller und heller, bis sein Licht die Dunkelheit an den Rand des Gefängnisses zurückdrängte.

Ich liege in einem Ikosaeder!

Diesem instinktiven Gedanken folgte Schweigen und Verwunderung.

Woher weiß ich das?

Wer bin ich?

Warum bin ich hier?

Der Fleck … das Bewusstsein streckte seine Fühler aus, kollidierte mit den Wänden seines Gefängnisses und erinnerte sich.

Er war ein Mächtiger! Ein Mächtiger, vor dem einst die Völker einer ganzen Galaxie gezittert hatten. Geschaffen von einem Übermächtigen, um Rache an einem Menschen zu nehmen.

Längst vergessene Szenen stiegen aus seinem Unterbewusstsein hoch. Eingehüllt in ein Hochenergiefeld, wartete er inmitten dürren Strauchwerks am Ende einer seit Jahrtausenden unbenutzten Landebahn auf dem Planeten Palkaru. Fünfzig Meter von ihm entfernt öffnete sich die Schleuse einer alten Space-Jet und sein Gegner trat heraus.

Er empfand Genugtuung. Nach all den Jahrhunderten des Wartens war der Tag der Abrechnung gekommen. Seinen größten Triumph, die Demütigung seines Feindes, würde er heute feiern. Nach einem Wortgeplänkel ging er in die Offensive und forderte Frau und Tochter seines Gegners als Gegenleistung für die Freiheit der Milchstraße. Erwartungsgemäß verblüffte er ihn damit. Doch er, der Herrscher über die Galaxis, setzte noch einen drauf. Er offenbarte seinem Feind seine Abstammung: Er, der Angreifer, war sein Stiefsohn.

Sein Feind schwieg und wankte. Er wusste, dass er ihn mit dieser Aussage im Innersten getroffen hatte. Endlich vollzog er die Rache für seinen richtigen Vater. Endlich büßte dieser terranische Emporkömmling.

Doch das Blatt wendete sich, als ihm der Feind neue Informationen ins Gesicht schleuderte. Narragan, ein Fremdwesen, bislang ein Verbündeter, hatte sich von ihm losgesagt und ihm damit seinen größten Trumpf aus der Hand genommen: die Vernichtung des Solsystems. Blitzschnell überprüfte er die Information. Sie stimmte. Gleichzeitig drang etwas in seinen Schutzschirm ein, verschmolz damit und breitete sich mit unglaublicher Geschwindigkeit aus. Wertvolle Sekunden verstrichen, bis es der Rechner seines Einsatzanzuges identifizierte.

»Viren! Kein Schutz möglich. Explosion in …«

Er riss die linke Hand nach oben und schoss. Der blassgelbe Hochenergiestrahl raste auf seinen Gegner zu, der auf die Space-Jet zulief. Ein gewaltiger Blitz, gepaart mit einem ohrenbetäubenden Knall, überlagerte sein Bewusstsein. Eingebettet in dieses Energiechaos schien sich sein Geist aufzulösen, zurückzukehren und wieder zu verschwinden – wie in einer Endlosschleife.

Die Erinnerungen an die Geschehnisse ließen ihn schreien. Sein Schrei, getrieben von Hass, drückte gegen die Gefängniswände. Er stemmte sich mit aller Kraft gegen den Ikosaeder. Schon nach kurzer Zeit spürte er, dass ihn die Wände nicht mehr lange aufhalten würden.

Und so geschah es. Jubel stieg in ihm auf.

Ich bin frei! Endlich!

Doch sofort nahm er ein anderes, artverwandtes und dennoch viel mächtigeres Wesen wahr.

Du weißt, warum ich dich befreit habe?

Ja! Und diesmal werde ich sie besiegen.

Meinen Segen hast du!

Kurz schwiegen die beiden Wesen.

Und, Monos …

Ja?

Töte Perry Rhodan! Den Echten!

Vergangene Gegenwart IV

»Merkur-Alpha« las er im Display der Transmitterkonsole vor ihm. Maurenzi Curtiz nickte dem Techniker zu und schritt in den energetischen Torbogen, um Sekundenbruchteile später Millionen Kilometer näher bei der Sonne aus der Gegenstation zu treten. Diese Art von Transport gehörte zum Schnellsten, die die Technik zu bieten hatte und auch zum Sichersten. Curtiz erinnerte sich nur an einen einzigen Transmitterunfall: jenen zwischen Bontong und Peruwall. So viel Leid dieser Unfall dem Opfer, einem zu diesem Zeitpunkt unbedeutenden Techniker, auch gebracht hatte, er hatte letztendlich dazu geführt, dass dieser Techniker in die Riege der Unsterblichen und in die Geschichtsdateien der Menschheit aufgenommen worden war. Jeder kannte das Leben von Alaska Saedelaere.

Curtiz verließ den Austrittsbereich des Transmitters und schritt zu einer Orientierungstafel, auf der ihm ein roter Kreis seinen Standort zeigte. Er befand sich in einer von zehn Kuppeln, die fünfundzwanzig Kilometer vom Nordpol Merkurs entfernt errichtet worden waren. Damit standen sie knapp innerhalb der Zwielichtzone und waren nicht den extremen Verhältnissen Merkurs ausgesetzt. Der atmosphärelose Planet drehte sich während seiner 88-tägigen Umlaufbahn um die Sonne nur einmal um sich selbst. Dadurch schien Sol nur auf eine Halbkugel und heizte die Planetenoberfläche auf. Der Begriff »Gluthölle« beschrieb seine der Sonne zugewandte Seite am Treffendsten. Schroffe Felsformationen, steinübersäte Ebenen und dickflüssige Seen wechselten sich unter dem gleißenden Heimatstern ab. Auf der anderen Seite des Planeten herrschte währenddessen ständige Finsternis und Temperaturen von bis zu minus 173 Grad.

»Maurenzi, auch schon da?«

Eine Handfläche klatschte leicht gegen seinen Rücken. Curtiz musste sich nicht umdrehen, er erkannte den Mann an der Stimme.

»Reginald …«

»Wo müssen wir hin?«, fragte der rothaarige Terraner. Er studierte ebenfalls die Orientierungstafel.

»Konferenzraum Sieben.«

»Konferenzraum Sieben,« wiederholte Bull gedehnt und fuhr mit dem rechten Zeigefinger suchend über die Karte. »GÖTTERBOTE, wo ist das?«

Das biopositronisch-syntronische Hybrid-Netzwerk, dessen interner Spitzname zur offiziellen Diktion geworden war, meldete sich über einen unsichtbaren Lautsprecher.

»Folgt dem roten Signalpfeil.«

Vier Minuten später wuchtete Bull sich in einen Sessel. Curtiz begrüßte die anwesenden Wissenschaftler mit einem Nicken, bevor er sich ebenfalls setzte. Er schätzte, dass im Laufe der Zeit sicher über zehntausend Wissenschaftler auf dem lebensfeindlichen Planeten geforscht hatten, um Lösungen für akute Probleme der Menschheit zu finden.

Wissenschaftler wie Humphrey »Blue« Parrot und Sackx Prakma. Das ungleiche Paar saß ihm genau gegenüber. Während sie in ihrem Wesen das Gegenteil des jeweils anderen waren, ergänzten sie sich wissenschaftlich perfekt. Unter ihrer Führung suchte die Elite der Experten nach einem Schutz für das Solsystem vor der angreifenden Flotte.

»Alle da?«, fragte Bull, während er gleichzeitig auf einen der Bestellsensoren drückte. Niemand antwortete ihm.

»Dann fangen wir an!« Mit einem Nicken eröffnete er das Informationstreffen.

»Nun«, begann Parrot und räusperte sich. »Wir beackern derzeit eine Reihe von Fehlermeldungen, die uns zeigen, was innerhalb der Simulation zu einem Versagen des Zweikomponentenschutzes geführt hat!«

Irritiert stockte Parrot. Ein Servorobot glitt lautlos heran, stellte vor Bull ein halb volles Whiskey-Glas auf den Tisch und schwebte davon. Mit einem kurzen Blick kontrollierte der rothaarige Terraner den Inhalt und leerte es in einem Zug.

»Weiter!«, forderte er den Wissenschaftler auf.

»Also, die Verbindung zwischen ATG-Feld und UTRANS-Station ist problematisch. Alleine die fünfdimensionale Abschirmung verursacht …«

»Dafür habe ich dir schon die Lösung präsentiert!«, unterbrach ihn Sackx.

»Hast du nicht! Die Gleichung, die du als Grundlage für die Stabilität der Verbindung herangezogen hast, ist an zwei Stellen falsch abgeleitet! Außerdem stimmt der Faktor Omega nicht, mit dem …«

»Omega?!« Sackx stand händeringend auf. »Du und deine verdammte Ignoranz! Warum kannst du meine Leistung nicht anerkennen? Warum musst du ständig nörgeln? Warum …«

Ein dumpfer Laut ließ ihn verstummen. Parrot und Sackx wandten sich in Richtung des Geräusches. Bull hatte mit der Faust auf den Tisch geschlagen.

»Seid ihr noch normal?«, brüllte er.

Keiner von beiden antwortete. Vermutlich lag es an Bulls hochrotem Gesicht.

»Da draußen«, fuhr er mit leiser Stimme fort und deutete in Richtung Weltraum, »da draußen stemmen sich Menschen gegen eine feindliche Übermacht. Menschen mit Familien, Menschen mit Freunden, Menschen, die lieben und lachen. Menschen … Menschen wie wir! Sie sitzen in ihren Schiffen und sterben. Sterben für uns und für die Menschheit!«

Er schwieg. An den betroffenen Mienen der Wissenschaftler erkannte Curtiz, dass Bulls Worte getroffen hatten.

»Die Menschen dort draußen verlassen sich auf euch! Sie wollen, dass ihr Lösungen findet und nicht, dass ihr auf eurem Gezänk herumreitet und unnötige Detailfragen ausdiskutiert!«

Wieder glitt Bulls Blick durch die Runde.

»Meine Frage an euch ist simpel: Schafft ihr es oder nicht?«

Parrot und Prakma antworteten simultan: »Ja!«

»Na also, warum nicht gleich!« Bull stand auf. »Ihr habt achtundvierzig Stunden.«

Als er sah, dass Parrot aufbegehren wollte, vereitelte er dies mit einer Handbewegung. »Keine Widerrede! So gerne ich euch mehr Zeit geben würde … wir haben diese Zeit nicht. Mit etwas Glück halten wir MODRORs Flotten vier Tage auf. Vier Tage, hört ihr! Und das ist die günstigste Prognose von NATHAN!«

Mit diesen Worten verließ er den Raum.

Curtiz sah ihm nach und wunderte sich, warum er ruhig blieb, während ein Reginald Bull, der solche Situationen schon mehrmals erlebt hatte, ausrastete. Andererseits … konnte man es ihm verdenken?

Vergangene Gegenwart V

»Keine Sorge, Dicker, ich passe schon auf!«

Gucky zeigte seinen Nagezahn und teleportierte. Er materialisierte in der Zentrale der TIJUCA, genau hinter dem Kommandantensessel. Schwarze, gewellte Haare hingen über die Rückenlehne.

»Claudia Feital!«, rief er und watschelte nach vorne.

Die Kommandantin schwenkte den Sessel herum und sprang auf. Sie breitete ihre Arme aus und setzte zu ihrer üblichen, weitschweifigen Begrüßung an, doch ihre Lippen gehorchten ihr nicht.

»Cacau!«, nannte Gucky die Frau bei ihrem Spitznamen. »Mit Freuden denke ich an die Sanftheit deiner Fingerspitzen beim Kraulen. Und das ist eindeutig zu lange her!«

Der Mausbiber blieb vor der Frau stehen. Mit einem Meter und achtundfünfzig Zentimetern war sie nur ungefähr eineinhalb Mal so groß wie der Ilt. Daher musste Gucky seinen Kopf nicht allzu sehr in den Nacken legen, um zuzusehen, wie sie versuchte, ihre Lippen zu bewegen. Es gelang ihr nicht, da Gucky sie telekinetisch verschloss. Schließlich kannte er ihr loses Mundwerk.

»Fesch siehst du aus, meine brasilianische Schönheit! Viel schöner als das letzte Mal.«

Im Augenwinkel merkte er, dass einige Besatzungsmitglieder bis über beide Ohren grinsten und beschloss, die Kommandantin auch zu Wort kommen zu lassen.

»Olá Gucky, du alter Charmeur! Schön, dass du uns die Ehre gibst!«

»Ich fliege nur mit den Besten der Besten!«, antwortete er mit einer Verbeugung. »Doch genug der Höflichkeiten, wir haben einen Auftrag zu erfüllen!«

Feital ließ sich in den Sessel fallen. »Start!«, befahl sie knapp.

Dimitrios Trachiotis, der aus der Region Griechenland stammende Pilot, aktivierte das Antigravtriebwerk über seiner Konsole. Im Holo zogen die terranischen Hochhäuser vorbei, dann kamen die Wolken. Nachdem sie im Orbit der Erde angelangt waren, schaltete Trachiotis die Impulstriebwerke ein. Der Spezialraumer beschleunigte binnen Sekunden auf Maximalbeschleunigung – 800 km/s² – und raste in Richtung Systemgrenze. In Höhe der Saturnbahn riss der Metagrav-Vortex das Schiff in den Hyperraum. Prompt entstand in der Holomatrix das typische Wabern des fünften Kontinuums.

»Euer Ortungsschutz wurde verbessert – habe ich zumindest gehört.«

»Sim, Gucky! Allerdings fehlt der Echteinsatz!«

»Na und? Er funktioniert doch in der Simulation!«

»Ja, aber …«

»Nichts aber!« Guckys Stimme duldete keinen Widerspruch. »Glaub mir, Bully und ich haben in der Vergangenheit schon ganz andere Dinge durchgezogen. Unsere Chancen standen manchmal so schlecht, dass man schon die Einladungen für den Leichenschmaus verschickt hatte!« Gucky zeigte kurz seinen Nagezahn. »Und wir leben immer noch!«

Das Schiff stürzte in den Normalraum. Die sofort anlaufende Alarmsirene schaltete Feital mit einem Tastendruck aus. Alle wussten, dass sie inmitten der feindlichen Flotte herausgekommen waren.

»Tarnschirm steht!«

»18.329 Schiffe«, tönte es aus der Ortungszentrale.

Gucky überprüfte in einem der Holos die Daten. Der verbesserte Tarnschirm arbeitete fehlerfrei und täuschte die Ortungsgeräte der Feinde. Die TIJUCA war für die Angreifer unsichtbar. Im zentralen Holo tobte die Schlacht, die über das Schicksal der Menschheit entschied. Ständig entstanden neue Sonnen, wenn Schiffe explodierten. Gucky schloss die Augen, esperte nach dem Kommandoschiff der Fremden, wurde fündig und watschelte nach vorne. Bei Trachiotis, dem jungen Piloten, blieb er stehen und legte ihm die Hand auf die Schulter. Mit dem Zeigefinger zeigte er in das Hologramm.

»Der!«, rief der Mausbiber, »Der interessiert mich. Bring mich bitte auf Sprungdistanz.«

Trachiotis lotete die Schleichroute aus und zoomte schließlich das fremde Schiff heran.

»Gib mir drei Minuten!«

»Die kriegst du«, sagte Gucky gönnerhaft, klopfte ihm auf die Schulter und nahm die Hand weg.

Er ging zum Kommandantensessel und blieb rechts von Feital stehen. Mit ein paar Griffen überprüfte er seine Ausrüstung.

Magazin für den Kombistrahler 100 Prozent aufgeladen – Sauerstofftanks gefüllt – Anzug voll funktionsfähig.

Gucky überflog die Okay-Meldungen der Syntronik, nickte zufrieden und ging in die Hocke. Er machte einen Rundrücken und kam seufzend wieder hoch. Mit einem Blick erfasste er die Schleichfahrt der TIJUCA im Holokubus der Kommandantin. Trachiotis verstand sein Handwerk. Er hatte das Schiff auf dem kürzesten Weg in die Nähe des fremden Kommandoraumers geflogen.

»Auftrag ausgeführt!«

»Danke! Gut gemacht«, lobte ihn Gucky. »Ich komme wieder!«, versprach er und winkte der Brasilianerin zu.

Der Mausbiber löste sich auf und wechselte in Nullzeit auf den feindlichen Raumer. Dunkelheit empfing ihn, während er gleichzeitig seine telepathischen Sinne aktivierte. Zuerst erkundete er den Raum um sich – leer! – und dann breitete er sich geistig auf das komplette Schiff aus. Tausende Impulse strömten auf ihn ein und er begann sie zu kategorisieren. Er blendete die Unwichtigen aus – Wie bringe ich nur mein Konto ins Plus? – und konzentrierte sich auf die wichtigen. Binnen Sekunden fand er den Chefstrategen der Fremden. Er saß ungefähr in der Mitte des stiftförmigen Raumers.

In fünf Tagen haben wir die Terraner besiegt.

Wütend klatschte Gucky mit seinem breiten Schwanz zwei Mal auf den Boden. »Freu dich nicht zu früh, mein Freundchen«, murmelte er und benutzte seine Paragaben, um den Besprechungsraum zu erfassen.

Neben dem Strategen saßen vier weitere Wesen in dem Saal. In drei von ihnen las Gucky wie in einem Buch. Vom vierten prallte er zurück. Obwohl der Ilt die Gedanken nur passiv geespert hatte, spürte er, dass der Fremde ihn bemerkt hatte. Fluchtartig zog er sich zurück. Doch der andere hängte sich an seine Impulse. Guckys Abwehrschirm stand, bevor er ganz in sich zurückgekehrt war. Der andere – Gucky gab ihm dem Namen Joe – prallte gegen seinen Schutzschirm. Er spürte, wie Joe über seinen Abwehrblock strich, davor verharrte, sich zurückzog und auf ihn einschlug.

Gucky wankte.

Gleichzeitig erschrak er über die Wucht des Angriffs. Er wusste, dass er Joe unterliegen würde. Reflexartig teleportierte er, doch nichts geschah. Auch ein weiterer Versuch endete mit demselben Resultat.

Panik ergriff ihn. Sie steigerte sich, als er die belustigten Gedanken von Joe empfing.

»Na, Plofre, wie geht’s dir?«

Guckys Gedanken überschlugen sich. Niemand wusste von seinem ursprünglichen Namen, seinem Alter Ego! Niemand, nicht einmal Reginald Bull.

»Bull … ja, der kommt als Nächster dran!«

Eine kalte Stimme drang plötzlich aus fünf Meter Entfernung an sein Ohr, worauf er einen Schritt zurückwich. Gucky glaubte in der Dunkelheit ein grinsendes Gesicht zu sehen. Doch da war nichts. Er musste sich getäuscht haben …

Woher kam dann die Stimme?

Tarnschirm, du Idiot! Der Typ trägt einen Tarnschirm!

Der Ilt presste die Lippen aufeinander und verstärkte seinen Abwehrblock, als er tastende Impulse spürte. So leicht war ihm nicht beizukommen. Mit einer Handbewegung aktivierte Gucky seine Anzugslampe. Nichts. Der Strahl wurde erst durch die gegenüberliegende Wand gestoppt.

»Warte, ich helfe dir.«

Leuchtstoffröhren aktivierten sich und badeten den Raum in Licht. Gucky kannte die Stimme. Verzweifelt kramte er in seinen Erinnerungen. Wo und vor allem wann hatte er die Gedankensignatur schon geespert? Woher … woher …?

»So besser … Plofre?«

Gucky glaubte zu wissen, wer zu ihm sprach und unterdrückte in letzter Sekunde einen Schrei. Er schloss die Augen und redete sich ein, dass das alles nur ein schlechter Traum sein konnte. Ein verdammt schlechter. Doch als er die Augenlider öffnete, stand er immer noch in dem Raum. Allein.

»Plofre, na komm schon! Du wirst dich doch nicht von diesem ständig Witze reißenden Fellknäuel unterdrücken lassen.«

Gucky schwieg.

»Plofre, ich helfe dir ein weiteres Mal!«

Gucky spürte, wie ein mentaler Vorschlaghammer heransauste und konnte nichts dagegen tun. Hilflos sah er mit an, wie ein mächtiger Schlag seinen Abwehrschirm erschütterte. Dann noch einmal. Und noch einmal.

Gucky vergaß alles um sich herum und konzentrierte sich ausschließlich auf die Abwehr der wuchtigen Schläge. Er merkte nicht, dass sein Puls stieg, dass sein Herz raste, dass er seine Hände zu Fäusten ballte und dass er schwitzte. Gucky war sein Schutzschirm. Und er war auch der Riss, der sich rechts außen bildete. Und in der Mitte. Und links von der Mitte.

Ein Zittern durchlief den Körper des Mausbibers. Gleichzeitig verbreiterte sich der Riss rechts außen und wurde zu einem Spalt. Dann zu einem Loch. Schließlich zuckte eine Stange aus Paraenergie in Guckys Bewusstsein. Er schrie und brach zusammen.

Gucky hatte verloren. Sein Schutzschirm löste sich auf und die Paraenergie des Angreifers bohrte sich in seine Seele. Doch nach endlosen Sekunden, in denen er besinnungslos zu werden drohte, ließ der Fremde von ihm ab.

Gucky seufzte erleichtert auf. Er spürte seinen Körper wieder. Mühsam öffnete er die Augen. Er lag in dem Raum, schweißüberströmt und starrte in die Helligkeit.

»Plofre, du enttäuschst mich!«, drang es an Guckys Ohren. »Was ist, Retter des Universums, willst du nicht wissen, wer ich bin?«

Todmüde blinzelte der Ilt in das Licht. Es war ihm egal. Oder doch nicht? Er konnte sich nicht entscheiden, wollte nur noch schlafen. Alles andere interessierte ihn nicht. Mit dem letzten Rest Neugier hob er den Kopf und sah, wie sich eine Gestalt aus der Luft schälte.

Gucky kicherte. »Du … du«, brachte er über die Lippen, »du bist tot!«

Der stämmige, mittelgroße Mann mit kurz geschorenen Haaren von fahlem Blond und wässrigblauen Augen stemmte die Arme in die Hüften, schob den Kopf nach hinten und lachte. Plötzlich erinnerte sich Gucky an seine Waffe. Wo war sie doch gleich?

»Totgesagte leben länger, Ratte!«, verhöhnte ihn Monos.

Rechts! Sie steckt an der rechten Hüfte!

Langsam tastete Gucky mit der Hand über den Boden. Warum lag sie so weit von dem Kombistrahler entfernt?

»Plofre, du enttäuscht mich!« Monos setzte sich vor ihn und verschränkte die Arme vor der Brust. In seinem Gesicht entstand ein Grinsen. »Deine Gedanken waren so vielversprechend! Endlich hast du dich auf die wahren Werte besonnen! Beinahe hättest du dem Spitznamen ›Überall-Zugleich-Töter‹ alle Ehre gemacht. Beinahe …«

Fünf Zentimeter! Verdammt, ich bin so müde!

Monos kratze sich am Kinn, fixierte den Ilt und seufzte. »Gucky, ich werde dir einen letzten Gefallen erweisen! Sieh her!« Monos schob seinen linken Shirt-Ärmel ein wenig nach oben. Mit den Fingern der rechten Hand aktivierte er ein Hologramm.

»Es gab einmal einen Planeten der Ilts«, sagte er mit einer Stimme, als ob er einem kleinen Kind eine Gute-Nacht-Geschichte erzählen würde. »Ich weiß, ich weiß, offiziell gibt es ihn nicht mehr. Inoffiziell jedoch sorgen die kleinen Ilts dafür, dass du nicht der Einzige deiner Art im Universum bist.«

Vor Gucky schwebte ein Wüstenplanet. Die Kamera zoomte heran und man sah eine Mausbiberkolonie. Unwillkürlich musste Gucky lachen, als er daran dachte, wie er seine Artgenossen entdeckt hatte.

»Ups, habe ich in der Gegenwart gesprochen?« Verlegen deckte Monos mit der rechten Hand den Mund ab. »Tut mir leid. Es muss ›sorgten dafür, dass du nicht der Einzige deiner Art im Universum warst‹, heißen! Entschuldige!«

Über dem Planeten erschien ein Raumschiff, aus dem sich ein kleiner, metallisch glänzender Körper löste. Nachdem er auf dem Planeten gelandet war, bohrte er sich durch die Oberfläche, während der Raumer aus dem Blickfeld verschwand. Einige Sekunden blieb das Hologramm unverändert, dann zerbarst der Planet mit einer Stichflamme.

Geblendet schloss Gucky die Augen.

»Wusch, und weg waren sie!«

Der Applaus traf Gucky an jeder Stelle seines Körpers.

»Wusch, und du bist doch der letzte Ilt im Universum!«

Gucky spürte, wie seine Fellhaare im Gesicht nass wurden. Alles in ihm schrie nach Rache. Zumindest bildete er sich ein, dass er schrie. In Wahrheit war es nur ein Wimmern.

Das Griffstück der Waffe! Endlich!

Monos ruckte nach vorne und entriss ihm die Waffe. Er schleuderte sie nach hinten. Mit einem Klonk prallte sie gegen die Wand und fiel zu Boden.

»Plofre, du kannst dich also nicht gegen diese Ratte behaupten! Nun gut …«

Monos fasste den Ilt am Anzugkragen und hob ihn hoch. Gucky sah die Hand kommen, wehrte sich aber nicht. Er schaffte es nicht. Wie ein Blatt Papier im Wind fiel sein Kopf einmal nach links und dann nach rechts.

»Warte …«

Plofre wunderte sich, dass der Kleine überhaupt noch einen Ton über die Lippen brachte. Andererseits … er war nicht wie dieser Schwächling. Er, Plofre, war nun frei. Nie mehr würde er sich von diesem Clown bevormunden lassen. Nie mehr!

»Du willst etwas sagen, Ratte?«

»Nenn mich nicht Ratte, du Klon!« Belustigt erkannte Plofre die Verwunderung in Monos Augen. »Ich bin Plofre!«

Monos kniff die Augenlider zusammen. Plofre hatte lange genug die menschliche Mimik über sich ergehen lassen, um zu wissen, dass der Klon zweifelte. Er hielt es für einen billigen Trick des Mausbibers, um dem Tod zu entgehen. Sein Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Wie konnte er den Klon überzeugen? Monos las doch seine Gedanken, also würde er …

»Netter Trick, Ratte!«

Plofre fand sich in der Luft wieder. Er fluchte, als er dem Boden entgegenraste. Monos fing ihn in Höhe des Hintern auf. Die Finger, die sich in die Montur krallten, drückten auf seine Wirbelsäule.

»Du elender …«

Weiter kam er nicht, da ihm Monos das Knie in den Bauch rammte. Er spuckte, würgte und hustete. Seine Augen füllten sich mit Wasser. Erst nach einiger Zeit konnte er wieder klar sehen. Monos betrat gerade einen dunklen Raum und ging mehrere Stufen hinunter. Der Klon blieb stehen und ließ Plofre los. Hart prallte der Mausbiber mit dem Bauch voran in den Sand.

Sand?

»Viel Spaß!«

Monos drehte sich um. Nach ein paar Schritten blieb er stehen. Er schien zu überlegen und kehrte zu Plofre zurück.

»Bevor ich es vergesse …«

Eine Hand schnellte auf Plofre zu und legte sich auf seine rechte Schulter. Finger bohrten sich ins Fleisch und krallten sich um einen flachen Gegenstand. Ein Ruck folgte. Plofre und Gucky schrien. Und heulten. Und überlagerten sich in ihrem Schreien. Sie sahen nicht, dass Monos wegging, eine Blutspur hinter sich herziehend. Sie sahen nicht, dass er ein kleines Tor hinter sich schloss und sich dann auf eine Art Tribüne setzte. Sie sahen nicht, wie das Licht anging. Sie sahen auch nicht, dass sie inmitten einer Arena lagen. Sie sahen nicht, dass eine Türe aufging, aus der menschengroße Schlangen kamen.

Plofre wollte die Augen öffnen. Es ging nicht. Gucky, dieser hinterhältige Clown, verhinderte es. Er saß mit erhobenen Fäusten auf ihm und wollte mit ihm kämpfen. Es war lächerlich! Niemand, niemand besiegte den wahren Ilt! Schon gar nicht so eine Witzfigur von einem Mausbiber! Was bildete er sich …?

»Verschwinde!«, brüllte Gucky und schlug zu.

Verwundert nahm Plofre zur Kenntnis, dass Gucky eine verdammt harte Rechte hatte.

Na warte!, dachte er und ballte die Hände zu Fäusten. Bevor er zuschlagen konnte, hatten sich Guckys Hände um seinen Hals gelegt. Die schlanken Finger fühlten sich seltsam an. Er holte mit dem rechten Arm aus und traf. Doch Gucky zeigte keine Wirkung, während Plofre die Luft langsam wegblieb. Dieser Clown, er würde es nicht schaffen! Wieder schlug Plofre zu. Gucky wankte, doch sein Griff wurde nicht schwächer.

Plofre röchelte und holte aus. Daraufhin verstärkte Gucky seinen Druck um seinen Hals. Plofres Lungen japsten.

Ich verliere nicht … nicht gegen … nicht ge …

Gucky sah, wie Plofre die Augen verdrehte. Obwohl ihn seine Finger bereits schmerzten, lockerte er seinen Griff nicht. Er drückte fester zu. Erst als Plofres Zunge aus dem Mund glitt und in den Augen die Gefäße platzten, ließ er von seinem Gegner ab. Er öffnete die Finger und fiel vornüber. Sein Kopf bohrte sich in den Sand.

Schlafen! Ich will nur schlafen!

Doch ein Zischen hinderte ihn daran.

Langsam wälzte er sich von Plofres Körper. Er drehte sich auf den Rücken und starrte in ein gleißendes Licht. Seine Schulter schmerzte. Warum tat sie so weh?

*

Mit einem Schrei fuhr Gucky auf und kehrte in der Realität zurück – oder war das ein Traum? Monos, dieser verdammte Mistkerl, hatte ihm den Zellaktivatorchip herausgerissen. Eine Welle des Schmerzes raste durch seinen Körper. Es kam ihm vor, als würde ihm der ZA erneut entnommen. Durch einen Tränenschleier erkannte er, dass er in einer Arena lag und von menschengroßen Schlangen umgeben war. Reflexartig aktivierte er seine telekinetischen Sinne. Vergebens.

Gucky drehte den Kopf nach rechts. Monos saß auf einer Tribüne und lächelte. Ein Schmerz im linken Fuß ließ Guckys Kopf umschwenken. Eine der Schlangen hatte ihn gebissen! Er spürte, wie sein Fuß taub wurde, als sich zum zweiten Mal Zähne in seinen Körper gruben. Diesmal im Rücken. Gucky holte mit der rechten Hand aus und versuchte, eine der beiden Schlangen zu treffen. Es wurde nicht mehr als ein Luftschlag.

Die Schlangen waren erfolgreicher. Eine dritte verbiss sich in Guckys Oberarm.

»Gucky, mein Schatz!«

»Iltu! Wie …?«

Die zarten Hände der einzigen Liebe seines Lebens legten sich sanft auf seinen Bauch.

»Pst, mein Liebling! Pst!« Als sie ihn kraulte, schnurrte er. »Lehne dich zurück und genieße es …«

Gucky tat einfach, was sie sagte. Er schmiegte sich an sie, während ihm Iltu das Fell zersauste. Er liebte es, wenn sie das tat. Langsam wanderten ihre Finger nach unten und er schloss die Augen …

*

Claudia Feital saß wie eine Statue im Sessel.

Ein Ortungsfehler!, redete sie sich ein. Es ist ein Ortungsfehler!

Doch das Bild blieb. Auch, als sie die Aufnahme zum siebten Mal abspielte. Eine Spiralgalaxie entstand von einem Moment zum anderen – mitten über der Flotte der Fremden.

Exakt über dem Kommandoraumer der Gegner, verbesserte sie sich.

In der Zentrale des Spezialraumers war es merkwürdig still. Niemand sprach. Alle blickten wie gebannt auf das Hologramm. Ein Mann – Freddy, der schnauzbärtige Feueroffizier – schluchzte plötzlich. Das war das Signal für einige andere, es ihm gleichzutun.

Sie verstand ihre Kameraden nur zu gut. Jeder an Bord wusste, dass sich dieses Zeichen beim Tod eines Zellaktivatorträgers bildete. Doch sie wollte es nicht wahr haben. Es durfte einfach nicht sein.

Nicht der Ilt! Nicht Gucky!

Ihre Augen wurden feucht und dicke Tränen rannten über ihre Wangen. Sie schämte sich ihrer nicht.

Vergangene Gegenwart VI

Die Spannung der Wissenschaftler hüllte ihn ein, rieb sich an ihm und versuchte ihn zu durchdringen. Doch er hatte solche Situationen schon zu oft erlebt, um sich von überschwappenden Emotionen mitreißen zu lassen. Er tat genau das, was die Menschen von ihm erwarteten: Er war der berühmte Fels in der Brandung. In der vorderen Hälfte des Raumes, knapp hinter der Konsole, stand er mit verschränkten Armen und beobachtete seine Mitarbeiter.

»UTRANS-Station über Merkur bereit!«

»ATG-Feld bereit!«

»Hypertrops geflutet! NUGAS-Notreaktoren bereit!«

»Alle Sensoren im grünen Bereich!«

»Kontrollen positiv!«

»Perry, wir warten auf dein Zeichen!«

Rhodan fühlte die Blicke auf sich ruhen. Statt sie zu erwidern, sah er durch die Panzerplastkuppel. Im Orbit von Merkur schwebte die UTRANS-Station der Kemeten. Mit Hilfe der Station und in Verbindung mit dem modifizierten ATG-Feld würde das Solsystem aus dem Normalraum verschwinden. Wieder einmal.

Doch diesen Nachteil nahm er gerne in Kauf, schließlich rettete er dadurch Menschenleben. Und die Terraner hatten schon öfters bewiesen, dass sie abgeschottet leben konnten, ohne durchzudrehen. Letztendlich wusste jeder, dass diese selbst gewählte Isolation befristet war.

Rhodan suchte den Blick von Humphrey »Blue« Parrot und nickte.

Der Wissenschaftler presste seinen Daumen auf den Startsensor. Maschinenblöcke liefen an, sowohl auf Merkur als auch in der UTRANS-Station. In exakt einer Minute würde das Solsystem von einem hyperdimensionalen Feld umgeben sein, das alle vierdimensionalen Einflüsse abschirmte. Gleichzeitig manipulierte die UTRANS-Station die 5-D-Koordinaten des Sonnensystems und versetzte es so in ein anderes Universum. Zumindest in der Theorie. Doch es würde auch in der Praxis funktionieren, hatten ihm die Wissenschaftler versprochen. Ihm und der gesamten Menschheit.

Rhodan blickte auf die Uhr. Noch fünfzig Sekunden. Dann entschied sich, ob die Experten recht hatten. Der unsterbliche Terraner löste seinen Blick von der Zeitanzeige im Hauptholo. Ein anderes Hologramm zeigte den Raumkampf am Rande des Solsystems. Wie viele Menschen würden in diesen fünfundvierzig Sekunden durch fremde Waffenstrahlen sterben? Wie viele Menschen würden für die Menschheit ihr Leben lassen? Wie viele Opfer würde nach dem Rückzug des Solsystems der Partisanenkampf in der Milchstraße fordern?

Er seufzte innerlich. In Momenten wie diesen fühlte er sich alt, einsam und verfluchte seine Unsterblichkeit, die ihm den Tod von Weggefährten aufzwang. So war es in der Vergangenheit gewesen und so würde es auch in der Zukunft sein.

Ein hoher Piepton, der das Ende des Countdowns ankündigte, lenkte ihn ab.

»Transfer geglückt. Wir sind …«

Parrot stoppte mitten im Satz. Er bekam große Augen. Auch die anderen Wissenschaftler verloren ihre fachlich-souveräne Ausstrahlung.

Ein ungewohnter Farbschimmer, der aus dem Weltraum durch die Panzerplastkuppel strahlte, ließ Rhodan den Kopf heben. Der Weltraum war grün!

Während die innersolaren Hologramme farblich veränderte, doch ansonsten normale Bilder funkten, lieferten die Kameras außerhalb des Sonnensystems nichts mehr.

Nachdenklich legte Rhodan seine Stirn in Falten. Er sah sich im Raum um und erhielt von den Experten indirekt die Bestätigung, dass etwas schief gegangen war. Sie verharrten in einer Mischung aus Hektik und Ratlosigkeit.

»Was ist passiert?«

Seine Worte rissen die Fachleute aus ihrer Starre. Sie überschlugen sich mit Theorien. Rhodan hörte sich das Stimmengewirr eine halbe Minute lang an, dann drehte er es mit einer einzigen Handbewegung ab.

»Humphrey?«

»Alles, was ich jetzt sage, beruht auf Vermutungen!«

»Dessen bin ich mir bewusst!«

»Gut. Wie du weißt, arbeiten wir mit der Technik der Kemeten. Sie schaffen es in Nullzeit, jeden Punkt unseres Universums zu erreichen, indem sie sich eines Paralleluniversums bedienen. Dieses Paralleluniversum weicht von unserem nur durch ein einziges Atom ab. Genau genommen wechselt das Original aus unserem Universum in das andere Universum und die Kopie kommt in unser Universum. Die Kopie ist mit dem Original identisch, eben, weil der Unterschied zwischen den beiden Universen nur ein Atom ist. Der Übergang vollzieht sich durch die Manipulation der 5-D-Koordinaten.« Er hielt inne. Offenbar um sich zu vergewissern, dass Rhodan ihm folgen konnte. »Da die Universen hinsichtlich der Strangeness-Werte differieren, muss man sich für den Wechsel ein Universum aussuchen, dessen Strangeness de facto nicht von unserem abweicht. Das ist in der Praxis die Zahl Null, die hinter dem Komma eine endlose Reihe von Nullen hat, an dessen Ende irgendwann eine Eins auftaucht.«

»Humphrey«, sagte Rhodan, so ruhig wie möglich, »das alles weiß ich!« Seine Blicke fixierten den Wissenschaftler. »Was ich jedoch nicht weiß, ist, wieso der Weltraum plötzlich grün ist!«

»Offenbar gab es in der Berechnung des Strangenesswertes oder im Zusammenwirken zwischen dem ATG-Feld und der UTRANS-Station eine Minimalabweichung.«

»Du weißt es nicht«, fasste der unsterbliche Terraner trocken zusammen. Er hatte genug Erfahrung mit Wissenschaftlern, um zu wissen, wann sie ihr Unwissen hinter Fachbegriffen versteckten.

Parrot nickte und sah sich hilfesuchend um. Keiner der Experten meldete sich zu Wort.

»Was geschieht, wenn wir die Maschinen abschalten?«

»Davon rate ich ab! Solange wir nicht wissen, wo wir uns befinden, ist das Risiko zu groß!«

»Danke für die klare Aussage!« Rhodans Blick glitt langsam über die Gesichter jedes Einzelnen im Raum.

»Meine Damen und Herren, macht euch an die Arbeit und findet heraus, was geschehen ist. In spätestens vierundzwanzig Stunden will ich wissen, wo wir sind und wie wir es rückgängig machen können!«

Er drehte sich um und verließ den Raum. Zuerst würde er den Terranern erklären, dass der Transfer zum Teil fehlgeschlagen war und dann würde er sich um etwas längst Überfälliges kümmern.

Vergangene Gegenwart VII

»Schwarz, schlicht und mit einem markigen Spruch.« Bulls grinsendes Gesicht stand vor Rhodan. »Was hältst du von ›Sucht mich zwischen Erde und Mond‹ als Grabsteininschrift?«

Damals, an jenem Junimorgen des Jahres 1971 alter Zeitrechnung, hatte Rhodan gelacht. »Keine Sorge, Dicker, du stirbst nicht. Zumindest nicht unter meinem Kommando!«

Rhodans Fingernägel bohrten sich in seine Handballen.

»Ich bin alleine!«, hämmerte es pausenlos hinter seiner Stirn.

Er, der am Berg der Schöpfung gestanden, der mehr gesehen hatte als jeder Mensch vor ihm, verzweifelte.

»Wie kann ich ohne euch leben? Bully, Gucky, wie …?«

Das letzte Wort schrie er hinaus. Ein paar Vögel, die es sich auf den Grabsteinen bequem gemacht hatten, flatterten hoch und beschimpften ihn in ihrer Sprache. Er hörte es nicht. Zu beschäftigt war er mit seinen Erinnerungen an seine Freunde. Es schmerzte ihn, dass er die sterblichen Überreste von Gucky nicht hatte begraben können. Der Sarg des Ilts war leer. Niemand würde je wissen, wie er gestorben war. Dass es passiert sein musste, stand außer Zweifel. Über dem Kommandoschiff der Fremden war eine Spiralgalaxis entstanden, das typische Zeichen für den Tod eines Zellaktivatorchipträgers.

Rhodan hatte es während einer der vielen Krisenkonferenzen erfahren und sie sofort unterbrochen. Er konnte nicht zur Tagesordnung übergehen. Genauso wenig wie Reginald Bull. Nachdem Rhodan dem rothaarigen Terraner vom Tod seines Kumpels erzählt hatte, war Bull erst mal nicht ansprechbar gewesen. Er war hinter seinem Schreibtisch gesessen und hatte durch Rhodan hindurchgestarrt.

Dann war er aufgesprungen und hatte zu toben begonnen. Mit einer Stehlampe hatte er blindlings auf die Einrichtung eingedroschen. Dabei hatte er »Ich bring sie um! Ich bring sie alle um!« gebrüllt. Rhodans beruhigende Worte waren an Bull abgeprallt wie ein Impulsstrahl an einem Paratronschirm. Einige Momente lang hatte Rhodan überlegt, ob er seinen Weggefährten paralysieren sollte, hatte sich aber dagegen entschieden. Irgendwann hatte Bull den Lampenstiel losgelassen, sich inmitten der Holzsplitter gesetzt und zu weinen begonnen. Rhodan hatte ihn umarmt und getröstet, als sei Reginald sein Sohn. Nach Minuten hatte sich Bull von Rhodan gelöst, sich die Tränen aus dem Gesicht gewischt und war aufgestanden.

»Perry«, hatte er gesagt. »Perry, ich scheiß auf die Bürokratie! In diesem Kampf musst du dir einen anderen Idioten suchen, der im Hinterland alles koordiniert. Diesmal spiele ich nicht mit! Diesmal nicht!«

Danach war er aus dem Raum gestürmt und hatte sich mit seinem Flaggschiff in den Kampf geworfen. Zwei Tage später war der Raumer in einer Explosion vergangen, nur wenige Minuten, nachdem über dem Schiff eine Spiralgalaxis entstanden war. Damit konnte Rhodan seinen ältesten Freund ebenfalls nicht begraben.

Gleich legt mir Bully die Hand auf den Rücken oder ich höre Guckys Kichern, redete er sich ein.

Doch nichts geschah. Er war alleine. Für immer!

Gucky und Bull schienen auch alle positiven Gefühle mitgenommen zu haben. So sehr sich Rhodan auch bemühte, er konnte keinen sinnvollen Gedanken fassen. Er war leer. Und diese Leere war kälter als das Eis des intergalaktischen Raums. Sie wollte seinen Geist aufsaugen, ihn vernichten. Es würde schwer werden, dagegen anzukämpfen. Verdammt schwer.

Vergangene Gegenwart VIII

»Wir sind uns ganz sicher!«

Rhodan fuhr sich über seinen linken Nasenflügel. Soeben hatte er von Humphrey „Blue« Parrot und Prakma Sackx erfahren, was mit dem Solsystem passiert war. Wie vermutet, hatte eine winzige Abweichung des Strangenessgrades zu dem Unfall geführt.

»Das heißt, das Solsystem sitzt fest?«

»So könnte man es sagen!«

»Kann man oder könnte man?«

Rhodan gehörte nicht zu den Semantikfanatikern. Doch hier ging es um die Menschheit.

»Wir hängen definitiv fest. Und wir haben derzeit keine Möglichkeit, es rückgängig zu machen!«

»Ihr arbeitet daran?«

»Ja!«

Die knappe Antwort sagte Rhodan alles. Die Experten waren mit ihrem Latein am Ende und wälzten Theorien um Theorien.

»Ich hoffe, dass ihr so schnell wie möglich einen Ausweg findet! Wir müssen zurück in unser Universum! Egal wie!«

Nickende Köpfe zeigten ihm, dass die Fachleute ihn verstanden hatten. Rhodan verabschiedete sich und ging durch den gleichen Gang wie am Vortag. Ein Transmitter strahlte ihn nach Terra in die Solare Residenz ab und drei Minuten später stand er in seinem Büro. Expertenberichte und Analysen türmten sich auf seinem Schreibtisch. Geholfen hatten sie ihm nicht.

Mit einer einzigen Armbewegung fegte er den Papierkram vom Tisch und plumpste in den Sessel. Er drehte sich zum Fenster und starrte hinaus. Bald würde die Sonne der Nacht und dem grünen Schimmer weichen und damit die Stimmung der Stadt verändern.

Eine seltsame Unruhe erfasste ihn. Rhodan konnte vieles, nur nicht untätig in einem Büro herumsitzen. Er war ein Mann der Tat und der Praxis. Und daran würde auch ein grün gewordenes Universum nichts ändern. Rhodan sprang auf und schlug gegen die Scheibe.

Müdigkeit überfiel ihn und erinnerte ihn, dass er seit siebenundfünfzig Stunden kein Auge zugemacht hatte. Rhodan fühlte das heftige Pochen seines Zellaktivators und seufzte. Er benötigte dringend ein Bett.

Der Zellaktivatorträger stampfte zum Transmitter, der sich drei Ebenen über seinem Büro befand und der ihn direkt in den Keller seiner Villa brachte. Er trat aus dem Empfangsgerät und blieb stehen.

Etwas war anders!

Er spürte es mit jeder Faser seines Körpers. Doch er konnte die Veränderung nicht greifen. Nachdenklich ging er die Stufen zum Wohnzimmer hinauf.

»Hallo, Unsterblicher!«

Es war niemand zu sehen. Rhodan schüttelte den Kopf und fragte sich, ob er halluzinierte. Immerhin gehörte die Stimme einem Toten.

»Na, was ist? Begrüßt man so einen alten Gegner?«

Rhodan starrte in die Richtung, aus der die Stimme kam. Der Unsichtbare musste vor der Couch stehen. Doch das war unmöglich.

Ein Schlag ins Gesicht riss Rhodan von den Beinen. Noch im Fallen schmeckte er sein Blut. Instinktiv sprang er auf, um es dem Angreifer nicht allzu leicht zu machen, ging in die Abwehrstellung einer altterranischen Kampfart und erinnerte sich gleichzeitig an seinen Paralysator.

Wie sollte er gegen einen Unsichtbaren kämpfen?

Etwas traf ihn in der Nierengegend. Seine rechter Arm schnellte vorwärts und ging ins Leere. Im Gegenzug fing er sich einen Tritt gegen die Kniekehle ein. Mit einem Schrei ging er zu Boden. Ein harter Schlag in den Magen ließ ihn den Gedanken an den Paralysator ad acta legen. Ein Wirbel an Schlägen deckte Rhodans Körper ein. Der Andere fegte seine Deckung hinweg und prügelte weiter auf ihn ein. Irgendwann – Rhodans Körper war eine einzige Quelle des Schmerzes – ging der Angreifer auf Distanz.

Umrisse schälten sich aus der Luft und dann sah Rhodan seinen Gegner.

»Es kann einfach nicht wahr sein!«, brachte er mühsam über die Lippen.

»Perry, du bist doch der Sofortumschalter!«, spottete Monos. »Also akzeptiere es: Ich bin genauso wenig auf Palkaru gestorben wie du!«

Rhodan erinnerte sich, wie ihn Atlan in der Schleuse der ODIN niedergeschlagen hatte. An seiner Stelle hatte sich der Roboter Anson Argyris mit Monos getroffen. Während Argyris durch einen Impulsstrahl gestorben war, hatte eine Virenzüchtung aus der Vergangenheit Monos ins Grab gebracht. Niemand hatte an seinem Tod gezweifelt – bis heute.

Rhodans Gedanken wurden von zwei Gesichtern überlagert. Er sah seine Frau Gesil und den Kosmokraten Taurec. Taurec hatte aus den Genen von Gesil und Rhodan ein Kind erschaffen, Monos, um sich an dem Terraner zu rächen. Angeblich hatte Rhodans Verrat an dem Kosmokraten dessen Rückkehr hinter die Materiequellen verhindert. Und Gesil war ihm gefolgt.

»Perry«, holte ihn Monos Stimme zurück, »willst du wissen, was aus deiner geliebten Menschheit wird? Willst du wissen, wie es im selbst gewählten Exil weitergeht?«

Rhodan schwieg.

»Paps«, sagte Monos lachend, »Paps, willst du sehen, was ich, dein Sohn, aus deiner Menschheit mache? Willst du sehen, was ich aus deinen Träumen, deinen Idealen und aus deinem Lebenswerk machen werde?«

Wieder reagierte Rhodan nicht. Unablässig starrte er Monos an. Ein Fußtritt brachte ihm die Schmerzen zurück.

»Antworte mir!«

Monos Finger krallten sich in die Kombination und zogen ihn hoch.

»Du wirst alles bereuen, was du mir und meinem richtigen Vater angetan hast!«, versprach Monos mit ungewöhnlich sanfter Stimme. Dennoch wirkte es bedrohlich.

Rhodan sammelte alle Kraft, die in seinem geschwächten Körper steckte, und schlug zu. Monos röchelte, öffnete die Finger, griff sich an die Kehle und Rhodan fiel auf die Fliesen.

Während Monos noch nach Luft japste, zog sich Rhodan bereits über den Boden. Er musste in das andere Zimmer. Zum Paralysator.

Ein Tritt traf seinen Rücken und löste eine weitere Schmerzwelle aus. Seltsamerweise spürte er sie nur oberhalb der Brustwirbelsäule. Alles darunter war taub.

Monos setzte sich auf ihn, riss ihm den Kopf an den Haaren in den Nacken.

»Du wirst es genießen, dafür sorge ich!«

Vor Rhodan entstand ein Hologramm, das einen Wüstenplaneten zeigte.

»Du fragst dich jetzt sicher, welcher Planet das ist. Sehen wir ihn uns genauer an …«

Das Kameraauge zoomte den Planeten heran und flog darüber hinweg. Rhodan erkannte zerfallene Städte.

»Washington, wenn ich mich nicht täusche«, kommentierte Monos. »Da! Terrania City!«

In Monos Stimme schwang Gehässigkeit mit.

»Ups! Schau mal, Paps, die Solare Residenz liegt mitten in dem leeren See, total zerbombt. Wie ist das geschehen?«

Rhodans Kopf prallte auf den Boden, nachdem ihn Monos losgelassen hatte. Dann wurde er auf den Rücken gewälzt. Seine Beine blieben taub. Es war, als existierten sie nicht mehr. Monos Gesicht kam in sein Blickfeld und näherte sich ihm bis auf wenige Zentimeter. Ihre Blicke trafen sich.

»Ich sehe es dir an, Vater, du willst wissen, was passiert ist! Und falls nicht …« Monos setzte eine rhetorische Pause. »Falls nicht … es ist mir scheißegal!«

Rhodan sagte nichts. Was hätte er antworten sollen?

»Paps, ich verspreche dir, dass du auf mich stolz sein wirst, sobald ich mein Werk vollendet habe.«

Monos richtete sich auf, zog Rhodan mit und legte ihn sich über die Schulter. Dann lösten sich beide in Luft auf.

Vergangene Gegenwart IX

Die Sicherheitseinrichtungen scannten seine Individualimpulse, verglichen sie mit denen der Zutrittsberechtigten und erkannten, dass der Mann in der Liste der Befugten ganz oben stand.

Die milchige Glastür glitt beiseite und Monos trat ein. Sofort nahm ihn die geschäftige Atmosphäre des Forschungsraumes in Beschlag. Hochgewachsene Männer und Frauen liefen in Schutzkleidung durch die einzelnen Abteilungen oder arbeiteten vor Computerpulten.

»Guten Morgen!«

Monos begrüßte Maginon Calda mit einem Nicken. Äußerlich war die Cantaro nicht von einer menschlichen Frau zu unterscheiden. Monos gratulierte sich im Stillen, dass er während seiner Herrschaft über die Milchstraße regelmäßig befruchtete Eizellen tiefgefroren hatte. Calda stammte aus der letzten Zuchtreihe, auf die Monos sofort nach seinem Erwachen zurückgegriffen hatte.

»Wie geht es voran?«

»Sehr gut!«

Sie strahlte. Es faszinierte Monos, mit welchem Elan sich die Droiden in Forschungen warfen, die etwas mit der Veränderung von Genstrukturen zu tun hatten.

»Ich kann dir von unserem Durchbruch berichten!«

»Wieso wurde ich nicht informiert?«

Calda wurde um einige Zentimeter kleiner. Der Vorwurf in Monos Stimme war deutlich genug zu hören. Sie wich seinem Blick aus.

»Wir führen noch einige Kontrolltests durch.«

»Und?«

»Wir sind zuversichtlich, dass sie positiv sind, analog zur Hauptreihe.«

»Zeig sie mir!«

Der Tonfall erstickte jede Widerrede. Calda drehte sich um und führte Monos vorbei an einzelnen Stationen. Er schenkte ihnen keine Aufmerksamkeit, da er als Planer und Auftraggeber die jeweiligen Forschungsgebiete kannte. Vor dem größten Einzelraum blieben sie stehen. Die Syntronik kontrollierte ihre Zutrittsbefugnis und öffnete die Türe.

»Syntron, Genstruktur!«, rief Calda, nachdem sie das Kontrollpult erreicht hatten.

In einem hundert mal hundert Zentimeter großer Bereich wurde die Luft über dem Pult schwarz. Mitten darin drehte sich die typische Doppelhelix. Lange Balken aus Adenin und Guanin reihten sich an kurze Balken aus Cytosin und Thymin.

»Hier ist das veränderte Gen«, sagte Calda und deutete mit ihrer rechten Hand auf das untere Drittel der Spirale.

Zahlenreihen entstanden. Sie erklärten die Veränderung und ihre Auswirkungen. Monos nickte. Das Lächeln in seinem Gesicht wurde breiter, je mehr er sich die Effekte bildlich vor Augen führte.

»Sehr gut! Wie ist es einsetzbar?«

»Da es sich auf das menschliche Erbgut nicht auswirkt, werden wir es einfach in die Luft blasen.«

»Wann?«

Calda überlegte. Deutlich sah ihr Monos an, dass sie ihm keine falsche Antwort geben wollte.

»In knapp einem Monat.«

»Optimal!«

Vergangene Gegenwart X

»Noviel, wir haben ein Problem!«, sagte Curtiz, nachdem er in das Büro des TLD-Chefs eingetreten war.

Residor wartete, bis sich Curtiz gesetzt hatte. Seit seinem Unfall, nach dem Teile seines Körpers und seines Gehirns durch geklonte Ersatzorgane ersetzt worden waren, konnte er kaum Gefühle empfinden und war es gewohnt, dass die Menschen unpräzise formulierten.

»Konkretisiere das!«, forderte er daher den Ersten Terraner auf.

»Perry Rhodan ist verschwunden!«

Curtiz’ Stimme klang, als erwartete er von Residor eine emotionale Reaktion. Er würde sie nicht bekommen.

»Wieso glaubst du das?«

Curtiz holte tief Luft. Offenbar nervte ihn Residors kühles Verhalten. »Perry ist seit zwei Tagen nicht mehr in die Residenz gekommen. Er hat Besprechungen grundlos ausfallen lassen und er meldet sich nicht! Das ist nicht sein Stil, Noviel!«

»Ja.«

Deutlich erkannte Residor, wie Curtiz eine Antwort hinunterschluckte und dann fortfuhr. »Perry ist auch über seinen Privatanschluss nicht erreichbar.«

Residor legte beide Hände auf den Tisch. »Das ist in der Tat ungewöhnlich für einen Mann wie Perry Rhodan. Was schlägst du vor?«

Curtiz zuckte mit den Achseln. »Du bist der Geheimdienstmann!«

»Stimmt!«, sagte der TLD-CHef und aktivierte ein Hologramm, das sich einen halben Meter über ihm bildete. In ihm entstand das Gesicht einer ungefähr fünfunddreißigjährigen Frau.

»Lague, ich habe eine besondere Aufgabe für dich. Nimm dir fünf deiner besten Leute und durchsuche Rhodans Villa.«

Residor ignorierte die Verwunderung der Frau. »Suche nach einer Abschiedsbotschaft!«, präzisierte Residor.

Lague nickte und schaltete ab.

»Sie ist die beste Spurensucherin, die wir im TLD haben«, erklärte er Curtiz. Mit einem Sensordruck stellte er eine Verbindung zur Mondsyntronik her. »NATHAN, hier spricht Noviel Residor. Kraft meiner Befugnisse ordne ich eine II-Suche an. Zielgebiet ist das komplette Solsystem.«

Curtiz hob die linke Augenbraue. Vermutlich, weil er von einer II-Suche noch nie etwas gehört hatte.

»Eine II-Suche«, nahm der Chef der Terranischen Liga-Dienstes die Frage des Ersten Terraners vorweg, »ist eine Individualimpulssuche. Und du willst nicht wissen, wieso du davon noch nie etwas gehört hast!« Zu NATHAN gewandt sagte er: »Lässt sich Rhodans Privatjacht lokalisieren?«

»Negativ!«

»Was sagt der Raumhafentower?«

Eine Sekunde verging, dann zwei.

»Die Yacht ist vor einundzwanzig Stunden mit unbekanntem Ziel gestartet.«

»Unbekanntes Ziel?« Curtiz staunte.

»Ja«, bestätigte NATHAN.

»Ein alter Fuchs wie Rhodan weiß, wie er Logbücher umgehen kann«, erklärte Residor dem verblüfften Curtiz. »Flugaufzeichnungen?«

»Die Spur zu Rhodans Jacht verliert sich knapp nach der Marsbahn. Er ist dort in den Hyperraum gegangen.«

»Das wird teuer …«, warf Curtiz ein und spielte vermutlich auf die strenge Flugverkehrsordnung innerhalb des Solsystems an.

»Humphrey, ich habe eine Frage.« Residor sprach mittlerweile mit Merkur-Alpha. »Wie schnell kannst du mir sagen, ob es in den letzten einundzwanzig Stunden zu Auffälligkeiten oder Abweichungen im systemumspannenden Schutzschirm gekommen ist?«

In Parrots Gesicht erkannte man, dass er über die Störung verärgert war.

»Ist eine Sache von zehn Minuten. Warum?«

»Das sage ich dir, sobald sich mein Verdacht bestätigt hat. Ihr habt fünf Minuten!«

Wortlos unterbrach Residor die Verbindung. Auch wenn der Hyperphysiker sicher das verblassende Hologramm beschimpfte, würde er sich dennoch sofort an die Arbeit machen. Schließlich handelte es sich bei ihm um den TLD-Chef und damit einen der mächtigsten und einflussreichsten Männer im Solsystem.

»Was nun?«

»Wir warten.«

Noviel Residor widmete sich wieder der Datei, die er vor dem Eintreten von Curtiz bearbeitete hatte. Small Talk hatte ihn schon vor seinem Unfall nicht interessiert, doch er hatte sich den gesellschaftlichen Konventionen gebeugt. Jetzt, als Gefühlsloser, kümmerte er sich nicht mehr darum. Er ignorierte, dass Curtiz nervös im Sessel hin und her rutschte, und fügte einige Anmerkungen in die Datei ein.

Das sich aktivierende Hologramm, in dem sich das leicht bläuliche Gesicht von Humphrey Parrot stabilisierte, lenkte seine Aufmerksamkeit auf das Problem »Rhodan«. Die Zeit unter dem Holo zeigte ihm, dass der Wissenschaftler schneller gewesen war als gefordert.

»Vor exakt zwanzig Stunden, vierundvierzig Minuten und acht Sekunden gab es einen Leistungsabfall des Schirms, der neun Millisekunden gedauert hat.«

»Konnte der Grund lokalisiert werden?«

Parrot schnaufte. »Nein, konnte er nicht.« Seine Antwort klang patzig.

»Irgendwelche Theorien?«

»Alle Analysen deuten darauf hin, dass etwas versucht hat, den Schirm von innen her zu durchdringen.«

»Mit Erfolg?«

»Meiner Meinung nach, ja!«

»Wie?«

»Was glaubst du, diskutieren wir hier oben seit genau einer Minute?«

»Danke für deine Analyse. Melde dich, sobald ihr etwas Greifbares habt.«

Während Parrot verschwand, blendete der Computer Lague ein. »Wir haben einen Zettel in Rhodans Wohnzimmer gefunden«, sagte sie und hielt ihn in das Aufnahmegerät.

Ich hole Hilfe. Vertraut mir, Perry.

»Das ist eindeutig Rhodans Handschrift, nicht jedoch sein Stil«, analysierte Residor.

»Vermutlich hatte er keine Zeit«, warf Curtiz ein.

»Keine Zeit für einen Anruf?« Früher hätte ihm Residor einen skeptischen Blick zugeworfen. Jetzt veränderte er nicht mal seine Stimme.

»Wir hätten ihn nach Erklärungen gefragt!«

»Die Gründe soll NATHAN klären«, erstickte Residor die beginnende Diskussion im Keim. »Ich halte die Fakten fest: Rhodan befindet sich nicht mehr im Sonnensystem!«

»Das heißt, wir sind auf uns gestellt!«, sagte Curtiz mit zittriger Stimme.

Vergangene Gegenwart XI

»Falls sich die Entwicklung so fortsetzt, erreichen die Insekten unser Niveau – in nicht einmal zweitausend Jahren.«

Maurenzi Curtiz rutschte im Sessel nach vorne, stützte die Ellbogen auf den Tisch und legte sein Kinn in die rechte Handfläche. »Willst du mir im Ernst erzählen, dass sich die Insekten uns angleichen?«

Andrea Obrmair, Spezialistin für Biologie, nickte und lächelte. Sie lächelte fast immer. Curtiz bemerkte, wie sie damit seine Stimmung hob. Er genoss es, ihre brauen Augen und ihr strahlendes Lächeln zu sehen.

»Definiere mir den Begriff Niveau«, kehrte er zum Thema zurück.

»Größe und Intelligenz!«

Der Erste Terraner verharrte in seiner Denkposition und versuchte, diese Prognose zu verdauen. Sobald er über die Konsequenzen nachdachte, wurde ihm mulmig.

»Die Studien berichten von einer Regression der Intelligenz der Terraner, richtig?«

Ein Wissenschaftler rechts von Curtiz meldete sich. »Wolfgang Ratz, Cerebral- und Kommunikationsforscher« las Curtiz auf dem Namensholo vor ihm. Er erinnerte sich, dass der rothaarige Terraner bei jeder Gelegenheit betonte, hellblond zu sein.

»Exakt!« Ratz räusperte sich und vermied direkten Blickkontakt mit dem Ersten Terraner. »Seit knapp einhundertfünfzig Jahren verzeichnen wir eine rückläufige Entwicklung bei der Ausnutzung der Gehirne. Sollte dies anhalten, sieht es in ein paar tausend Jahren nicht gut für die Menschheit aus.«

Curtiz legte den Kopf in den Nacken, strich sich zuerst über den weißen Bart und rieb sich danach die Nasenwurzel.

»Wieso?«

Das Schweigen der Experten überraschte Curtiz. Die Elite der terranischen Wissenschaft starrte demonstrativ an ihm vorbei und beschäftigte sich damit, die Wände zu sezieren.

»Herkoitsch!«

Die Frau strich die dunkelbraunen Strähnen zurück, verdrehte die blauen Augen und drückte dadurch aus, was sie davon hielt, öffentlich zu sprechen. Curtiz zuckte innerlich mit den Schultern. Auf Einzelwünsche konnte er keine Rücksicht nehmen. Er hatte einen Planeten zu regieren. Und da er sie als hervorragende Analytikerin mit systemübergreifendem Denken schätzte, kümmerte ihn ihr Augenaufschlag nicht.

»Da es mehrere Theorien gibt, beschränke ich mich auf die Wahrscheinlichsten.«

Curtiz stimmte ihr mit einem Kopfnicken zu und stellte fasziniert fest, dass sich ihre Augenfarbe in Richtung grün verschoben hatte. Offenbar eine Einwirkung des Lichteinfalls.

»Wie wir alle nächtens sehen«, sagte Sabine Herkoitsch und spielte damit auf den grünen Himmel an, »ist der Raum zwischen den Universen, in dem wir uns befinden, anders als der normale Weltraum. These Eins setzt genau diese Andersartigkeit ins Verhältnis zu der Regression der menschlichen Intelligenz. Gleichzeitig leitet diese These ab, dass die Abweichung von den früheren Verhältnissen die Entwicklung der Insekten zu intelligenten Lebewesen begünstigt, wenn nicht sogar verursacht hat.«

»Worin liegt diese Andersartigkeit des Zwischenraumes?«

Herkoitsch sah Roman Slifer an. Der durchtrainierte Physiker legte den linken Arm quer vor die Brust. Gleichzeitig stützte er seinen rechten Ellbogen auf den linken Handrücken und nahm sein Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger.

»Erstens fehlt die kosmische Hintergrundstrahlung, zweitens hat sich das fünfdimensionale Spektrum der Sonne verschoben und drittens gibt es eine, derzeit noch ungeklärte sechsdimensionale Umgebungsstrahlung. Wir vermuten, dass diese 6-D-Strahlung auch der Grund für die fünfdimensionale Emissionsverschiebung von Sol ist.«

»Und These Zwei?«, fragte Curtiz und wandte sich an Herkoitsch.

»Die bringt die Strahlung des Zwischenraumes ausschließlich mit der Veränderung der Menschen in Verbindung. Die Mutation der Insekten wird anders erklärt.«

Als Herkoitsch nicht weitersprach, setzte Curtiz nach: »Und wie lautet diese andere Erklärung?«

»Sie spricht von einer bewusst herbeigeführten Mutation.«

Michaela Jahrner, die cholerische Umweltspezialistin, schlug auf den Tisch. »Diese These ist unbewiesen, weil sie nicht zu beweisen ist!«

»Warum die Aufregung?«

Jahrner merkte, dass sie über das Ziel hinausgeschossen war. »Nun, es deutet nichts auf eine bewusst gesteuerte Mutation hin …«

»Nichts bis auf diesen seltsam veränderte DNA-Teil. Michaela, du weißt genau wie ich, dass diese sprunghafte Veränderung der Erbsubstanz so gut wie unmöglich ist!«

Jahrner blickte Herkoitsch kampfeslustig an. »Und du weißt, dass es bei der heutigen Population keine Anzeichen einer fremden Veränderung des Erbgutes gibt! Alle besitzen diese DNA, und zwar ohne Ausnahme!«

»Du hast die Lösung vor Augen und verschließt dich vor ihr! Das Zauberwort heißt »heutige Population«. Was, wenn diese Manipulation schon früher durchgeführt wurde?«

»Das ist absoluter …«

»Ich unterbreche eure Diskussion höchst ungern«, schaltete sich Curtiz ein und brachte Herkoitsch und Jahrner zum Schweigen, »aber mir fehlt die Zeit für euer Geplänkel.« Er wartete, bis ihn die zwei Frauen anblickten und fuhr dann fort: »Ich halte fest: Ihr und damit auch wir wissen nicht, wieso die Menschen dümmer und die Insekten intelligenter werden.«

Kollektives Kopfnicken war die Folge.

»Zwei Dinge sind mir jetzt wichtig: Wie lange dauert es, bis wir Menschen, volkstümlich gesprochen, zu lallenden Idioten werden, während die Insekten unseren Platz einnehmen? Und was können wir dagegen tun?«

Als niemand antwortete, präzisierte er: »Ich meine jetzt primär gegen die Regression und nicht gegen die Insekten. Ich begrüße, dass sich auf diesem Planeten ein weiteres intelligentes Volk entwickelt.«

Auch auf diese Frage erhielt er keine Erklärung. Die Experten schwiegen.

»Na, was ist?«

»Sofern die Entwicklung im selben Tempo fortschreitet, gebe ich uns circa dreieinhalbtausend Jahre«, durchbrach Slifer die Stille. »Entweder wir beginnen mit einem genetischen Optimierungsprogramm oder wir hoffen auf eine Stabilisierung, besser noch eine Umkehr.«

»Genetisches Optimierungsprogramm … was bitte meinst du damit?«

»Wir verändern das menschliche Erbgut oder wir nehmen die harmlosere Variante: Züchtung.«

Curtiz starrte ihn mit offenem Mund an.

»Ich bin Wissenschaftler, kein Ethiker!«, nahm Slifer einer Entgegnung den Wind aus den Segeln.

»Es muss eine andere Lösung geben! Können wir den vermuteten Einfluss nicht irgendwie eindämmen?«

»Nein. Es gibt kein Mittel dagegen.«

Dieser Satz von Slifer stand im Raum wie ein Fanal. Er machte jedem schmerzhaft bewusst, dass die Menschheit am Ende ihrer Möglichkeiten angelangt war.

Und als hätte Slifer seine Kollegen noch nicht genug entmutigt, setzte er nach: »Und falls du einen Schutzschirm meinst … vergiss ihn. Wir haben kein Mittel gegen eine sechsdimensionale Strahlung. Leider«, fügte er leise hinzu.

Maurenzi Curtiz hatte in den letzten dreihundert Jahren einige Momente erlebt, in denen er sich Rhodans Rückkehr gewünscht hatte. Dieser war einer davon.

»Sieht irgendjemand die Entwicklung weniger drastisch?«

Keiner der Experten meldete sich.

»Dann werden wir uns wohl mit dem neuen Volk auf Terra, den Insekten, arrangieren müssen, irgendwann in ein paar Jahrhunderten.«

Curtiz stand auf und beendete die Besprechung. Die Wissenschaftler strömten an ihm vorbei in Richtung Ausgang. Slifer blieb bei ihm stehen, sah ihn an, legte die Hand auf Curtiz Schulter und sagte: »Maurenzi, an Tagen wie diesen beneidet dich niemand um deine Unsterblichkeit.«

Vergangene Gegenwart XII

Maurenzi Curtiz hatte keinen Blick für die Schönheit des Landes unter ihm. Während der Gleiter über Südostasien raste, weilten seine Gedanken beim bevorstehenden Treffen mit Drafor, dem seit dreiundvierzig Jahren amtierenden Präsidenten der Insekten. Seit dessen Amtsantritt kannte die zwei Meter große Hornisse nur ein Ziel: die Beherrschung der Erde. Die Menschen sollten sich ihm beugen oder untergehen.

Curtiz gefiel keine der beiden Varianten. Er setzte auf Verhandlungen, trotz der unverhüllten Kriegsdrohungen des Insektenführers.

Drafor hatte das letzte Treffen abgebrochen, weil Curtiz den Insekten nicht ganz Europa überlassen wollte. Seit die Insekten vor dreihundert Jahren Australien okkupiert hatten, waren sie sukzessive weiter vorgerückt. Derzeit gehörte ihnen nahezu ganz Asien. Nur Terrania City bildete eine Enklave inmitten des Insektenstaates. Auch die Menschen in der Großregion Russland stemmten sich noch gegen den Expansionsdruck, während Südosteuropa bereits aufgegeben worden war.

Curtiz seufzte, als er daran dachte, wie die Insekten Australien von den Menschen gesäubert hatten. In einer offenbar von langer Hand geplanten Aktion hatte sie alle Menschen aus ihren Häusern gejagt, sie in mehreren Orten zusammengetrieben und dann mittels Truppentransportern nach Asien verfrachtet. Da sie gedroht hatten, ihre Geiseln zu töten, hatte Curtiz vor einer militärischen Intervention zurückgeschreckt. Manchmal fragte er sich, ob sein Handeln damals richtig gewesen war.

»Das Ziel ist in einer Minute erreicht, Erster Terraner!«

Maurenzi Curtiz konnte über die Ehrbezeichnung der Bordsyntronik nur lachen. Sein Titel bedeutete nichts, da keine terranischen Wahlen mehr durchgeführt wurden. Durch den Intelligenzverfall der Menschen war die Wahlbeteiligung vor vierhundert Jahren auf lächerliche siebzehn Prozent gesunken. Die alte Ordnung wurde von den letzten aktiven Menschen getragen, knapp hundert Millionen. Menschen, die alles daran setzten, den Insekten die Erde nicht kampflos zu überlassen. So schaukelte sich die Radikalität auf beiden Seiten kontinuierlich hoch. Nacey Myton, die Generalin der terranischen Streitkräfte, stand dem Insektenführer an Verbissenheit in nichts nach.

Wir sollten die beiden in einen Raum sperren. Wer nach einem Tag herauskommt, hat gewonnen und dessen Volk gehört die Erde.

Curtiz wusste, dass diese Idee nicht durchführbar und aus reinem Sarkasmus geboren war. Er beglückwünschte sich, dass er Myton unter Kontrolle halten konnte. Sie wäre sofort gegen die Insekten in den Krieg gezogen. Noch hörte sie auf Curtiz’ Erfahrung und auf sein Alter. Lange würde er sie jedoch nicht mehr bremsen können. Genauso wenig wie Drafor. Doch er war es seiner Unsterblichkeit schuldig, dass er sich bis zum letzten Atemzug um den Frieden bemühte.

Der Gleiter senkte sich. Entlang der Straße standen die Insektenkrieger Schulter an Schulter und bildeten eine Art Spalier. Aus früheren Treffen kannte er ihre Art, mit den Flügeln Emotionen auszudrücken. Er wusste, dass ihn gleich ein wütendes Surren empfangen würde, doch es kümmerte ihn nicht. Dazu war er mit seinen über siebzehnhundert Jahren bereits zu abgebrüht.

Zehn Zentimeter über dem Boden blieb der Gleiter stehen. Maurenzi stieß laut die Luft aus und betrat das Landefeld.

Und sie surrten.

Curtiz konnte sich nicht entscheiden, ob ihn das Geräusch an Hummeln oder an Hornissen erinnerte. Wobei … im Grunde genommen war es egal.

Zügig, aber nicht zu hastig, stampfte er durch die Insektengasse. Hundert Meter trennten ihn vom Präsidenten der Insekten. Hundert Meter, auf denen er mit jedem Schritt fühlte, was Drafor von ihm, dem Menschen, hielt.

Spießrutenlauf, dachte er.

Die für Curtiz’ Geschmack gewaltig zu groß geratene Hornisse stand vor ihrem Präsidentensitz und wartete. Sie wartete, dass der Mensch – Abschaum, wie Drafor vor seinen Getreuen zu sagen pflegte – zu ihm marschierte.

Zwanzig Schritte bevor er ihn erreichte, stoppte ihn die Hornisse.

»Curtiz, heute begehen wir Insekten einen Jahrestag. Vor vierzig Jahren haben uns die Menschen erstmals angegriffen. Gedenken wir beide den gefallenen Insekten des Jahres 2901.«

Drafor stieg in die Lüfte und schwebte einen halben Meter über dem Boden. Seine antennenartig vom Kopf abstehenden Fühler richtete er starr nach oben. Die Insekten rund um den Terraner taten es ihrem Anführer gleich.

Curtiz reagierte äußerlich nicht auf diese Provokation. Innerlich jedoch schäumte er. Der Insektenpräsident verdrehte die Tatsachen. Im Sommer des Jahres 2901 hatten die Insekten aus heiterem Himmel mehrere Städte der Menschen angegriffen. Die Toten waren in die Zehntausende gegangen.

Maurenzi Curtiz wartete, bis die Insekten wieder Boden unter den Füßen hatten und marschierte weiter.

»Präsident Drafor«, sagte Curtiz mit einer leichten Neigung seines Oberkörpers, als er einen Meter vor der Hornisse stehen blieb, »es freut mich, dich gesund und munter begrüßen zu können. Ich war in Sorge, als ich von dem Anschlag und dem Putschversuch hörte.«

Curtiz verzog keine Miene, als sich die zwei Fühler auf Drafors Kopf kurz in seine Richtung senkten. Er ignorierte auch, dass sich die Mandibeln öffneten und schlossen. Die großen, auf beiden Seiten des Mundes sitzenden Zangen bildeten die Oberkiefer der Hornisse.

»Wie üblich seid ihr Menschen fehl informiert, aber ich empfange dich dennoch!«, drang es aus Curtiz’ Translator. Die Hornissen kommunizierten entweder durch die Freisetzung von Pheromonen oder durch akustische Signale. Curtiz wusste nicht, ob die Insekten in der Lage waren, Interkosmo zu lernen. Fakt war, dass sie sich standhaft weigerten, die Sprache des Feindes zu benutzen.

»Mensch! Sieh sie dir an: Meine Krieger!«, verlangte Drafor und breitete seine oberen Arme aus.

Widerwillig drehte sich Curtiz um und blickte auf die Insekten.

»Sie sind wunderbar! Ihr Körper und ihr Geist ist stählern!«

Während Drafor von seinen Soldaten schwärmte, wunderte sich Curtiz über den Translator. Die Syntronik schaffte es, einen ehrfürchtigen Unterton in die Übersetzung einzubauen.

»Curtiz, sag mir, dass ich Recht habe! Sag mir, dass auch du nicht umhin kommst, sie zu bewundern!«

Automatisch war der Terraner der Hornisse gefolgt. Sie standen gemeinsam in der Gasse von Insekten.

»Präsident Drafor, du wirst verstehen, dass ich deine Krieger unter anderen Aspekten betrachte …«

Erneut richteten sich Drafors Fühler auf Curtiz. Mit ein paar Flügelschlägen zeigte ihm der Präsident seinen Unmut. Doch Curtiz ignorierte das.

»Mensch, ich muss dir sagen, dass ich mit meiner Geduld am Ende bin!«

Plötzlich durchschaute Curtiz die Taktik der Hornisse. Drafor würde ihn nicht in die Villa bitten. Die Hornisse würde, entgegen allen diplomatischen Regeln, am Landefeld mit ihm reden.

Falsch! Drafor wird mir die Bedingungen für ein Weiterexistieren der Menschen diktieren!, korrigierte sich Curtiz. Er gestand sich, dass er Drafor unterschätzt hatte.

»Präsident, ich freue mich, dass du endlich den Ernst der Lage erkennst und auf meine Linie einschwenkst! Es kann nur ein Miteinander zwischen Menschen und Insekten geben.«

Die aus zahlreichen Einzelaugen zusammengesetzten, fein facettierten Komplexaugen schienen durch ihn hindurch zu blicken. Zumindest hatte Curtiz diesen Eindruck. In Wahrheit wusste kein Mensch, wo eine Hornisse hinsah. Komplexaugen konnten als ganze Einheit weder bewegt noch fokussiert werden. Dank der runden Hauptaugen besaßen die Hornissen eine Sicht von knapp dreihundertsechzig Grad.

»Curtiz, Curtiz, du irrst dich!«, sagte Drafor und ging wieder ein Stück in die Richtung des Gleiters. »Wir Insekten werden uns nie der Meinung eines Menschen anschließen!«

»Präsident, hältst du es für sinnvoll, dass wir hier draußen …«

Drafor blieb stehen und drehte sich um. »Curtiz, ich entscheide, was ich für sinnvoll halte! Und, Curtiz, ich lasse mir von keinem Menschen eine Idee unterbreiten. Homo sapiens, so nennt ihr euch doch, nicht wahr?!«

Drafor schlug sein vorderes Armpaar zusammen. Curtiz interpretierte es als Zeichen der Belustigung.

»Homo sapiens, der wissende Mensch! Curtiz, wir nennen uns schlicht Insekten. Trotzdem weiß ich einiges, Curtiz. Ich weiß, dass neunzig Prozent der Menschen nichts anderes zu tun haben, als zu essen, zu schlafen und sich zu vermehren. Wobei … selbst dazu sind sie nicht mehr in der Lage.«

Es schmerzte Curtiz, dass der Präsident, für den das Wort Diktator angemessener war, recht hatte.

»Für mich gibt es nur eine Erklärung: Die Natur ist dabei, einen ihrer schrecklichsten Fehler zu korrigieren. Und wir Insekten unterstützen Mutter Natur, indem wir euch zusätzlich unter Druck setzen. Und Curtiz … wir Insekten fürchten uns nicht vor einem Krieg. Einen Krieg, den ihr heute vor vierzig Jahren bereits vom Zaum gebrochen habt. Wir Insekten haben darüber hinweggesehen und es eurer Dummheit zugeschrieben.«

Curtiz hätte sich am liebsten auf die Hornisse gestürzt und ihm den Stachel ausgerissen.

»Sogar NATHAN, die Mondsyntronik, hat euch aufgegeben! Oder wie ist es zu erklären, dass sie sich seit einhundert Jahren nicht mehr meldet? Wie ist es zu erklären, dass sie all ihre Roboter abgezogen hat?«

Drafor wartete keine Antwort ab, sondern sprach weiter: »Erster Terraner, auch unsere Geduld ist irgendwann erschöpft!«

Drafor stieg in die Höhe, umrundete Curtiz einmal und sank einen halben Meter nach unten. Seine Beißzangen klackten direkt vor dem Gesicht des Terraners. Curtiz roch den süßlichen Atem, als sich die Zangen öffneten und schlossen und sah in das gelb-schwarze Gesicht der Hornisse.

»Curtiz, ich gebe euch Menschen eine letzte Chance! Ihr habt vierundzwanzig Stunden, um die Herrschaft des Planeten an mich zu übergeben. Räumt eure Städte und verschwindet von der Erde! Zieht meinetwegen nach Trokan oder sonst wohin. Aber haut ab!«

Die Hornisse stieg in den Himmel und flog in seine Villa, ohne den Terraner eines weiteren Blickes zu würdigen. Curtiz starrte zum Gleiter. Sobald er in die Lüfte gestiegen war, würde ein neues Kapitel der Menschheit eingeläutet werden.

Vielleicht das Letzte!

Nachdem er in den Gleiter gestiegen war, gestand er sich, dass er mit seiner Politik des Miteinanders und Verhandelns gescheitert war. Von nun an würden die Waffen sprechen.

Vergangene Gegenwart XIII

Drafor schob seine Fühler ein paar Zentimeter in den Raum. Sie vibrierten. Er spürte die Spannung der vierzehntausend Insekten, die Seite an Seite auf ihn warteten. Sie wollten wissen, was er, ihr Anführer, ihnen heute zu sagen hatte.

Er zog die Fühler zurück und ließ seine Beißzangen aufeinander prallen. Es knackte. Einmal und dann noch einmal.

War er nervös?

Nein, so etwas kannte er nicht. Anspannung ja, Nervosität nein!

Plötzlich spürte er eine Hand auf seinem Rücken.

»Sie sind bereit, Präsident!«

Drafor drehte sich nicht um, sondern rieb seine Fühler aneinander, um seinem Sekretär ein »Ja« zu signalisieren. Im Festsaal ertönte die Hymne des Reiches. An dem Surren der Flügel erkannte er, dass sich die Insekten in die Luft erhoben und ihre Köpfe neigten. Erneut schlug er seine Beißzangen zusammen. In der Mitte der Hymne flog er in den Saal, der bewusst spartanisch gestaltet war. An den Seitenwänden hing die Fahne des Reiches, vorne stand die Bühne und sonst war der Raum kahl.

Während er zum Rednerpult schwebte, spürte er den Enthusiasmus seiner Untergebenen. Da er sich ohne Einschränkung auf sie verlassen konnte, wusste er, dass sie seine Rede mit Begeisterung annehmen würden. Und er wusste, was danach geschehen würde.

Die Musik erlosch und seine Insekten landeten. Bewusst blieb er eine halbe Minute in der Luft und gab so jedem die Gelegenheit, zur Ruhe zu kommen. Dann schwebte er zum Rednerpult, um sich dort mit dem vorderen Beinpaar abzustützen, während sein Unterkörper den Boden berührte.

»Meine lieben Insekten! Ich freue mich, dass ihr so zahlreich angetreten seid!«

Mit ein paar Flügelschlägen unterstrich er seine Worte.

»Wie ihr wisst, habe ich gestern Maurenzi Curtiz, den Ersten Terraner, empfangen. Ich wollte ihm die Fühler reichen. Ich wollte den Menschen eine Chance geben, mit uns gemeinsam auf diesem Planeten zu leben. Doch Curtiz hat abgelehnt. Er hält seine Menschheit für etwas Besseres! Er glaubt, wir sind immer noch die Insekten, die er mit den Füßen zertreten hat – damals, in seiner Jugend!«

Erbostes Flügelsurren.

»Und, meine lieben Insekten, er hat uns mit Krieg gedroht!«

Drafor schwieg. Er wollte seine Worte wirken lassen.

»Ihr habt richtig gehört: Die Menschen, diese schwächlichen Flügellosen, haben uns mit Krieg gedroht! Uns, den Insekten!«

Eine Welle von Wut traf seine Fühler und drückte sie nach hinten. Er bebte vor Freude. Seine Insekten reagierten genau so, wie er es vorhergesehen hatte.

»Ich frage euch: Wollen wir den Menschen zeigen, dass sie so mit uns nicht umspringen können?«

Die Flügel summten eine nicht endend wollende Zustimmung.

»Dann, meine Insekten, gibt es nur eine Antwort auf die Kriegsdrohung der Menschen! Und wem das Wort Krieg Flügelsausen beschert, dem entgegne ich, dass wir Insekten gegen Schwäche und Anfälligkeiten während des Krieges gewappnet sind. Unser Mut verleiht uns zusätzliche Kraft für die seelischen und kämpferischen Aktivitäten. Wir Insekten sind bereit, alle Schwierigkeiten und Hindernisse eines Krieges mit revolutionärem Elan zu überwinden.«

Er schwieg, zählte langsam bis fünf und fuhr dann fort.

»Fragt jetzt nicht danach, warum das alles gekommen ist. Das werden die Generationen nach uns übernehmen und Antworten finden. Sie werden dann auf uns zurücksehen. Auf uns, die wir die Menschen von diesem Planeten gefegt haben. Auf uns, die wir siegreich geblieben sind. Und sie werden unseren Schritt bejahen! Sie werden sagen: Gut, dass unsere Vorfahren gegen die Menschen in den Krieg gezogen sind. Gut, dass sie sich der Verantwortung gestellt haben – auch um den Preis von Opfer, den dieser Krieg gekostet hat.

Ja, ich sage euch, unser gerechter Krieg gegen dieses Pack, das sich human nennt, wird Opfer kosten. Diese Opfer werden nicht umsonst sein. Diese Opfer ermöglichen unseren Kindern eine Zukunft! Eine Zukunft ohne diese lästigen Menschen.«

Achtundzwanzigtausend Beißzangen knackten zustimmend.

»Kampfgefährten, auch wenn feststeht, dass wir, die Insekten, den Krieg gegen diese Brut gewinnen werden … einen Fehler dürfen wir nicht machen! Wir dürfen dieses Pack nicht unterschätzen! Und ich warne euch: Der Kampf, den wir zu bestehen haben, wird über alle Vorstellungen hinaus hart, schwer und gefährlich. Dieser Kampf erfordert unsere ganze Kraft. Nichts darf uns ablenken. Wir müssen ständig an das Ziel denken! Immer! Bei Tag und bei Nacht!

Die Menschen, meine Kampfgefährten, sind eine Bedrohung, die alle anderen Gefahren weit in den Schatten stellt. Daher dürfen wir in diesem Kampf nicht versagen. Wir dürfen unsere geschichtliche Mission nicht verspielen. Alles, was wir bisher aufgebaut und geleistet haben, verblasst angesichts der gigantischen Aufgabe, die hier uns allen gestellt ist. Aber wir werden diese Prüfung des Schicksals meistern! So wie wir in unserer Geschichte alles gemeistert haben.

Kampfgefährten, ich habe heute zu dieser Versammlung einen Ausschnitt unseres Volkes im besten Sinne des Wortes geladen. Vor mir stehen die kräftigsten, mutigsten, zähesten und intelligentesten Vertreter der Insekten. Doch nicht nur das! Dahinter sind alle Schichten der Insekten vertreten, von der Jugend bis zum Greisenalter. Kein Stand, kein Beruf und kein Lebensjahr blieb bei der Einladung unberücksichtigt. Ich kann also mit Fug und Recht sagen: Was hier vor mir steht, ist ein Ausschnitt aus unserem Volk. Stimmt das? Ja oder nein?«

Er fühlte das zustimmende Flügelschlagen der Insekten im Saal.

»Ihr also, meine Zuhörer, repräsentiert in diesem Augenblick unser Volk. Und an euch möchte ich zehn Fragen richten, die ihr mir mit allen Insekten vor der ganzen Welt, insbesondere jedoch vor unseren Feinden, die unser Treffen missgünstig beobachten, beantworten sollt. Erstens: Die Menschen behaupten, wir hätten keinen Glauben an den Sieg. Ich frage euch: Glaubt ihr mit mir an den Sieg der Insekten? Ich frage euch: Seid ihr entschlossen, mir in der Erkämpfung des Sieges durch dick und dünn zu folgen und um unseres Ziels willen auch schwerste persönlicher Belastungen zu ertragen?«

»Ja! Ja! Ja!«

»Zweitens: Die Menschen behaupten, wir Insekten seien für einen Krieg nicht geschaffen! Ich frage euch: Seid ihr bereit, mit mir den Kampf zu beginnen mit wilder Entschlossenheit und unbeirrt durch alle Schicksalsfügungen weiterzukämpfen, bis der Sieg unser ist?«

»Ja! Ja! Ja!«

»Drittens: Die Menschen behaupten, wir Insekten würden es nicht schaffen, uns unterstützender Kriegsarbeit zu unterziehen. Ich frage euch: Ist unser Volk entschlossen, wenn ich es befehle, zehn, zwölf und – wenn nötig – vierzehn und sechzehn Stunden täglich zu arbeiten und das Letzte herzugeben für den Sieg?«

»Ja! Ja! Ja!«

»Viertens: Die Menschen behaupten, die Mehrheit der Insekten wehre sich gegen meine umfassenden Kriegsmaßnahmen. Die Insekten wollen keinen Krieg, sondern in Verständigung und multikulturell leben, weil sie Verluste fürchten und nicht zu Opfern bereit sind. Weil sie nicht Ernst machen wollen. Ich frage euch: Wollt ihr den Krieg mit vollem Einsatz? Wollt ihr ihn, wenn nötig, totaler und radikaler, als wir ihn uns heute überhaupt vorstellen können?«

»Ja! Ja! Ja!«

»Fünftens: Die Menschen behaupten, die Insekten haben ihr Vertrauen in mich verloren, in ihren Anführer verloren. Aber ich frage euch: Ist euer Vertrauen zu mir heute größer, gläubiger und unerschütterlicher denn je? Ist eure Bereitschaft, mir auf all meinen Flügen zu folgen und alles zu tun, was nötig ist, um den Krieg zum siegreichen Ende zu führen, eine absolute und uneingeschränkte Bereitschaft?«

»Ja! Ja! Ja!«

»Ich frage euch als sechstes: Seid ihr bereit, eure ganze Kraft einzusetzen und mir die Krieger und die Waffen zur Verfügung zu stellen, die wir brauchen, um den Menschen den tödlichen Schlag zu versetzen?«

»Ja! Ja! Ja!«

»Ich frage euch siebtens: Gelobt ihr mit dem heiligen Eid der Front, dass alle Insekten ohne Ausnahme mit starker Moral hinter mir stehen und alles geben werden, was wir nötig haben, um den Sieg zu erkämpfen?«

»Ja! Ja! Ja!«

»Ich frage euch achtens: Wollt ihr, insbesondere ihr Frauen selbst, dass unsere Regierung anbahnt, dass auch die Insektenfrau ihre ganze Kraft der Kriegsführung zur Verfügung stellt, und überall da, wo es nur möglich ist, einspringt, um Insektenmänner für die Front frei zu machen und so den Kriegern an der Front zu helfen?«

»Ja! Ja! Ja!«

»Ich frage euch neuntens: Billigt ihr, wenn nötig, die radikalsten Maßnahmen gegen einen kleinen Kreis von Drückebergern und Schiebern, die mitten im Kriege Frieden spielen und die den Krieg für eigensüchtige Zwecke ausnutzen wollen? Seid ihr damit einverstanden, dass, wer sich am Krieg vergeht, die Flügel verliert?«

»Ja! Ja! Ja!«

»Ich frage euch zehntens und letztens: Wollt ihr, dass im Krieg gleiche Rechte und gleiche Pflichten vorherrschen für alle und dass die schwersten Belastungen des Krieges solidarisch auf unser aller Flügel verteilt werden?«

»Ja! Ja! Ja!«

Drafor stieg nach oben und blickte auf seine Insekten hinab. Sie würden ihm folgen. Blind.

»Ich habe euch gefragt und ihr habt mir eure Antworten gegeben. Ihr seid die Gemeinschaft unseres Volkes! Durch eure Flügel hat sich die gemeinsame Entschlossenheit aller Insekten manifestiert. Ihr habt unseren Feinden das zugerufen, was sie wissen müssen, damit sie sich keinen Illusionen und keinen falschen Vorstellungen hingeben.«

Drafor stieg höher.

»Ich, euer Präsident bin seit der ersten Stunde meiner Macht und durch all die Jahre hindurch fest und brüderlich mit euch vereint. Der mächtigste Kamerad, den es auf dieser Welt gibt, steht hinter mir – ihr! Und ihr seid fest entschlossen, koste es was es wolle, unter Aufnahme der schwersten Opfer mit mir den Sieg zu erringen. Wir alle haben heute einen Weg gewählt und wir werden diesem Weg bedingungslos folgen. Von dieser Stunde an glauben wir treu und verlässlich an den Sieg! Schon jetzt liegt er greifbar nahe vor uns, wir müssen nur zufassen. Und ich verspreche euch, meine Kampfgefährten, wir werden zugreifen. Wir werden alles dem Krieg unterordnen bis der Sieg unser ist. Das ist das Gebot der Stunde.«

Drafor schob eine letzte Pause ein.

»Erhebt euch mit mir in die Lüfte und hört die Parole: Insekten, fliegt los und löst einen Sturm aus!«

Das Summen der Flügel schien nicht enden zu wollen. In ganz Insektoidia griffen die Insekten zu den Waffen und flogen zu ihren militärischen Sammelstellen. Bald würde es losgehen.

*

Curtiz starrte auf das Holo. Er glaubte nicht, was er soeben gehört hatte. Dass die Insekten den Terranern den Krieg erklären würden, war vorherzusehen gewesen. Wenn er sich selbst gegenüber ehrlich war, hatte er nach dem Defacto-Rauswurf beim letzten Treffen sogar damit gerechnet. Was ihn jedoch erschütterte, waren Drafors Worte. Curtiz kannte die Originalversion seiner Rede aus dem Geschichtsunterricht über das 20. Jahrhundert alter Zeitrechnung. Die Veränderungen waren minimal.

Vergangene Gegenwart XIV

16. Mai 2941 – 23:52 Uhr

Die roten Ziffern im Hologramm leuchteten so intensiv in der Dunkelheit, dass es Curtiz schmerzte. Seit einer Stunde verharrten die Insekten in ihren Stellungen rund um Terrania City, der letzten Festung der Menschheit.

Nach Drafors Ansprache hatten sich die Insekten in Strömen über den Planeten ergossen. Sie waren über jede Ansiedlung der Menschen hergefallen und hatten mit den größtenteils Wehrlosen kurzen Prozess gemacht. Die menschliche Streitmacht von hundert Millionen aktiven Menschen hatte keine Chance gegen eine Milliarde Insekten. Nun standen sie vor Terrania City, das bislang von den Kämpfen verschont geblieben war.

Maurenzi Curtiz wusste, worauf Drafors Truppen warteten. In acht Minuten begann ein historisch bedeutender Tag für die Insekten. Vor tausend Jahren hatte der erste ihrer Vorfahren zu sprechen begonnen. Und nun würden die sprechenden und intelligenten Insekten die letzte Bastion der Menschen überrennen. Mühelos und praktisch ohne Gegenwehr. Die von Myton zusammengezogene letzte Reserve der Menschheit würde sich nicht länger als ein paar Minuten gegen die Insekten stemmen können.

Curtiz seufzte. Wenn ihm jemand in seiner Jugend gesagt hätte, dass er der Mann sein würde, der die Menschheit bis zu ihrem Ende begleitete, hätte er ihn ausgelacht.

Doch in vier Minuten würde das die Wirklichkeit sein. Zwar hatte es kurz so ausgesehen, als mobilisiere der Angriff der Insekten den Kampfgeist der Menschen. Für ein paar Augenblicke hatten sie ihre Lethargie abgelegt und sich gegen ihre Totengräber gestemmt. Doch letztendlich war es nur ein Aufflackern einer vor dem Erlöschen stehenden Kerze gewesen.

»Licht aus!«

Prompt verdunkelte die Syntronik den Raum. Das grüne Leuchten, an das sich Curtiz selbst nach zwei Jahrtausenden nicht gewöhnt hatte, fiel durch das Fenster.

*

16. Mai 2941 NGZ – 23:58 Uhr

Was sollte Curtiz noch tun?

Sollte er bei Drafor um Gnade für die letzten Menschen flehen? Sollte er ihn bitten, sie zu verschonen?

Curtiz knackte mit den Fingerknöcheln. Er hätte sich selbst so weit erniedrigt, wenn er gewusst hätte, dass Drafor seiner Bitte entsprochen hätte. Doch Drafor konnte nicht mehr zurück. Er hatte die Insekten aufgewiegelt und musste den Weg zu Ende gehen.

*

17. Mai 2941 – 00:00 Uhr

Curtiz schloss die Augen. »Amen!«

Seine Stimme kam ihm seltsam fremd vor. War es überhaupt seine?

Die Tür flog auf – »Es geht los!« – und fiel zurück ins Schloss. Curtiz wusste nicht, welcher seiner Mitarbeiter das eben gewesen war. Es war in diesem Moment auch egal.

Langsam erhob er sich, öffnete die Augen und schritt in Richtung des Konferenzraumes, in dem seine Leute die Gegenmaßnahmen koordinierten. Es kam ihm vor, als würde er mit jedem Schritt die Menschheit zu Grabe tragen.

Es war der bitterste Weg in seinem Leben.

Und zugleich auch sein Letzter.

Vergangene Gegenwart XV

»Vater, gefällt dir, was dein Sohn geschaffen hat?«

Monos lümmelte auf der Kante des Medotanks. Sein Kinn lag auf den Unterarmen und er blickte in das Hologramm, das über dem Kopf des Mannes im Tank schwebte. Die Insekten überrannten an mehreren Stellen den Schutzwall um Terrania City. Sie kannten keinen Unterschied zwischen Alt und Jung. Ihr Auftrag war klar definiert: Fegt die Menschen von diesem Planeten! Tötet sie und zerschlagt ihr Reich!

Monos schmunzelte, als er daran dachte, dass er dem Insektenführer eine Rede in den Mund gelegt hatte, die von einem Menschen stammte. Ein Propagandaminister hatte im 20. Jahrhundert der alten Zeitrechnung die Massen für den Krieg mobilisiert, um gemeinsam mit seinem Führer ein tausendjähriges Reich zu schaffen. Es blieb bei dem Versuch. Doch genau wie damals waren seine Worte auch diesmal befolgt worden. Und wieder war es zum Holocaust gekommen.

»Vater, sag doch auch einmal etwas!«

Ein vorwurfsvoller Blick traf den Mann im Medotank. Mit Genugtuung bemerkte Monos, dass dem Mann unter ihm die Tränen über die Wangen liefen und sich mit der Nährflüssigkeit vermischten. Weinen war das Einzige, was der Mann selbst tun konnte. Alle anderen Körperreaktionen wurden von Maschinen kontrolliert. Schläuche steckten sowohl in Mund als auch in Nase und ernährten ihn. Gelegentlich massierte ihn ein Prallfeld und sorgte dafür, dass seine Muskeln nicht abbauten.

Eigentlich nutzlos, dachte Monos. Die Körperhälfte unterhalb des fünften Lendenwirbels wirst du ohnehin nie wieder bewegen können.

Monos erinnerte sich an das Knirschen, als die Wirbel gebrochen waren. Es war ein schönes Geräusch gewesen.

Sein Blick fiel auf eines der medizinischen Hologramme, das die geistigen Aktivitäten des Mannes wiedergaben. Sie waren in Aufruhr. Das Spektrum reichte von Wut bis Trauer.

Monos triumphierte. Der Mann, der seit zwei Jahrtausenden Ziel und Motivation seiner Rache gewesen war, zeigte endlich eine Reaktion. Er hatte Monos zu all seinen Taten inspiriert, er hatte ihn in immer neue Höhen getrieben. In all diesen Jahren hatte Monos von dem Bild des hilflosen, bewegungsunfähigen Mannes im Medotank gezehrt. Und davon, dass dieser Mann alles verstand, was er im Holoschirm zu sehen bekam. Mit jeder Faser seines Geistes hatte Monos dieses Bild und dieses Wissen in sich eingesogen.

»Syntron, hole Rhodan aus dem Tank!«

Wie von Geisterhand schwebte Rhodan in die Höhe. Hände, Beine und Kopf wurden stabilisiert, während die Flüssigkeit von seinem Körper in den Tank zurück tropfte. Ein Luftstrom trocknete den nackten Körper und das Prallfeld richtete ihn auf. Sofort entstand unter ihm ein Sessel, auf den er gesetzt wurde. Deutlich erkannte Monos, wie schwach Rhodan nach all den Jahrtausenden im Nährtank war. Ohne Stabilisierung des Feldes wäre er sofort aus dem Sessel gefallen.

Monos löste seine Arme vom Tank und stellte sich vor ihn. Ihre Blicke trafen sich.

»Sag, Vater, liebst du mich jetzt? Jetzt, da ich dir bewiesen habe, wozu ich fähig bin? Liebst du mich jetzt?«

Rhodan schwieg.

»Antworte mir!«

Stille erfüllte den Raum.

Monos schlug mit der Faust auf Rhodans Wange. Rhodan wehrte sich nicht, weil er es nicht konnte.

»Antworte mir!«

Wieder schlug Monos zu. Diesmal so fest, dass Rhodans Lippen platzen. Blut lief ihm über das Kinn und aus seinem Mund – seit zweitausend Jahren unbenützt – drang ein nicht einzuordnender Laut. Endlich!

»Was ist? Willst du mir etwas sagen?«

Rhodans graugrüne Augen blitzen. Er bewegte die Lippen. Monos zog die Augenbrauen zusammen, um etwas zu verstehen. Er gab es schließlich auf, beugte sich zu Rhodan hinab und legte sein Ohr an Rhodans Lippen.

»Selbst du«, krächzte Rhodan, »kannst mir den Glauben an das Gute nicht nehmen.«

Monos blähte die Nasenflügel und atmete hörbar aus. Gleichzeitig hieb er mit aller Wucht den Ellbogen in Rhodans Brustkorb. Der Kopf des Terraners ruckte nach vorne und traf Monos Schulterknochen. Es knirschte, als die vorderen Schneidezähne brachen.

Monos trat einen Schritt zurück, während das Prallfeld Rhodan in die Sitzposition zurückbrachte. Blut rann ihm aus dem Mund und tropfte auf Brust und Fußboden.

Wortlos holte Monos ein Messer aus seiner Kombination und aktivierte es. Leise surrte die Klinge.

»Fixiermodus!«

Der Syntron wandelte Monos’ Worte in Impulse um und schickte sie zu dem Prallfeldgenerator. Eine eiserne Klammer legte sich um Rhodan. Monos’ Hand streckte sich und die Klinge fuhr unter Rhodans Schulter. Aus Rhodans Mund drang kein Schmerzenslaut, da ihn das Fesselfeld am Schreien hinderte. Nur in seinen Augen erkannte Monos, was er fühlte. Mit einer schnellen Bewegung drehte Monos das Messer. Ein flaches, eineinhalb mal zwei Zentimeter großes Gebilde fiel auf den Boden. Monos bückte sich, hob es auf und brachte es vor Rhodans Gesicht.

»Noch sechsundsechzig Stunden …«

Achtlos warf er den Zellaktivatorchip in eine Ecke des Raumes.

»Syntron, gib seinen Kopf frei!«

Rhodans Brüllen drang an seine Ohren.

»Schrei, Perry, schrei!«, forderte er ihn auf. »Schrei deinen Schmerz in Welt hinaus. Schrei ihn in das Sonnensystem und in das Universum. Und ich, Monos, werde dafür sorgen, dass man dich sogar hinter den Materiequellen hört.«

Er wandte sich um und ging zum Ausgang. Vor der Tür blieb er stehen und sah nach hinten.

»Keine Sorge«, sagte er, »ich komme wieder.«

Auf Rhodans Schmerzensschreien schwebte er endgültig durch die Tür.

Vergangene Gegenwart XVI

»Es ist Zeit, abzutreten!«

Der Cantaro – er hatte sich mit Larshol vorgestellt – starrte Curtiz an und streckte ihm die offene Handfläche entgegen. Doch Curtiz zögerte. Nach mehr als siebzehnhundert Jahren konnte er die Kette nicht so einfach abstreifen. Wie jedes Lebewesen hing auch er am Leben. Er, der Unsterbliche.

Noch, aber nicht mehr lange!, korrigierte er sich.

»Gib mir den Zellaktivator!«

»Nein!«

Etwas in ihm wunderte sich über dieses Wort. Er, die ewige Vaterfigur der Menschheit, stemmte sich gegen den Befehl eines Cantaro.

Doch Larshol reagierte nicht, wie Curtiz es von dem halben Maschinenmenschen erwartet hatte. Er holte nicht zum Schlag aus, sondern er … lachte. Und zwar so laut und heftig, dass Curtiz sich dem nicht entziehen konnte. Automatisch schmunzelte er.

Doch Larshols Lachen verstummte so abrupt, wie es begonnen hatte. Ein Schritt genügte und er war in Reichweite. Sein rechter Arm schoss nach vorne und die Finger schlossen sich um das lebensverlängernde, eiförmige Gerät, das auf der Brust von Curtiz baumelte.

Ein Ruck und die Kette zerriss. Curtiz starrte auf den Zellaktivator, den der Cantaro wie eine Trophäe vor seinen Augen hielt.

»Ich wünsche dir eine angenehme Zukunft!«, verhöhnte ihn der Cantaro. Ohne sich umzudrehen, verließ er den Raum und die Solare Residenz – beziehungsweise das, was davon übrig geblieben war. Der einstige Stolz der Terraner lag am Grunde des Sees, mit Einschusslöchern übersät.

Curtiz fühlte sich plötzlich schwach. Seine Beine gaben nach und er fiel in den Sessel. Er glaubte, das Ticken einer Uhr zu hören.

Tick, tick, tick.

Immer lauter und immer intensiver. Sogar sein Herzschlag schwang im Rhythmus dieser imaginären Uhr.

Ich drehe durch!

Er lauschte seinem Atem. Ging er schneller?

Mir bleiben noch sechsundsechzig Stunden zu leben und ich drehe durch!

Sein hysterisches Lachen kam ihm fremd vor. Er schloss die Augen und versuchte sich abzulenken.

Irgendetwas Sinnvolles … Ich muss etwas Sinnvolles machen!

Seine Hand hob sich und sein rechter Zeigefinger berührte einen Sensor. Geräuschlos aktivierte sich die nahezu unsichtbare Aufnahmeoptik.

»Mein Name ist Maurenzi Curtiz. Ich wurde im Jahre 1206 NGZ, also vor 1735 Jahren geboren. Ich bin der Erste Terraner und ich werde in drei Tagen sterben. Doch bevor das geschieht, erzähle ich die Geschichte der Menschheit. Den Teil der Geschichte, den ich erlebt und mitgestaltet habe – bis zum Schluss.«

Curtiz schwieg und sammelte seine Gedanken.

»Alles begann am 25. Oktober 1319 NGZ. Aus heiterem Himmel materialisierten die Flotten MODRORs in der Galaxis. Danach nahm das Unheil seinen Lauf …«

Vergangene Gegenwart XVII

»Erinnerst du dich?«

Monos hielt Rhodan die Kette vor das Gesicht. Einen Tag nach dem Verlust des lebensverlängernden Geräts gab es an Rhodans Körper noch keine Veränderung.

»Nein, es ist nicht dein Zellaktivator aus der alten Zeit! Es ist der Zellaktivator von Maurenzi Curtiz. Jener Zellaktivator, den ihm Osiris in einem Anfall geistiger Umnachtung verliehen hat.«

Monos ließ das Ei pendeln.

»Ich habe Curtiz lange genug zugesehen, wie er versucht hat, meine Pläne zu durchkreuzen. Irgendwann ist selbst meine Geduld am Ende!«

Er steckte den Zellaktivator in eine seiner Kombinationstaschen.

»Weißt du, Vater, zuerst wollte ich warten, bis du innerhalb von Minuten alterst und dein Leben aushauchst«, fuhr Monos fort. »Doch ich bin wie du! Warten liegt mir nicht.«

Freundschaftlich tätschelte er Rhodans rechte Wange und sah, wie Rhodan mit einem Augenaufschlag reagierte.

»Ich habe beschlossen, dass du durch meine Hand krepierst.«

Er legte beide Hände um Rhodans Hals. Mit ausdruckslosem Gesicht drückte er zu. Zuerst schwach, doch dann immer stärker …

Weder die Insekten, noch die wenigen Menschen konnten mit den beiden Spiralgalaxien, die mitten in der Nacht über Terrania City entstanden, etwas anfangen. Der Einzige, der die Zeichen richtig interpretiert hätte, sah sie nicht. Maurenzi Curtiz saß mit dem Rücken zum Fenster. Auf seiner Brust lag ein Impulsstrahler. Die Abstrahlmündung glühte.

Epilog

Alaska starrte auf das eingefrorene Bild von Maurenzi Curtiz. Drei Stunden war er der holografischen Aufzeichnung aufmerksam gefolgt.

»… Ich habe nicht mehr viel Zeit! In knapp achtundvierzig Stunden werde ich – so wie alle ehemaligen Unsterblichen – rapide altern. Dann bleibt nach eintausendsiebenhundertfünfunddreißig Jahren nur Staub von mir übrig, denn es ist niemand da, der sich an mich erinnert könnte. Doch mir bleibt die Hoffnung, dass die Menschheit nicht unterzukriegen ist. Irgendwann werden wir wieder zu dem werden, was wir einst waren. Davon bin ich im tiefsten Inneren meines Herzens überzeugt!«

Alaska stand vom Boden auf und hantierte am Eingabeterminal der Syntronik.

4719 NGZ

Die Ziffern erschreckten ihn nicht, da er mit so etwas gerechnet hatte. Er war knapp dreieinhalbtausend Jahre in der Zukunft gelandet. In einer Zukunft, wie sie schrecklicher nicht hätte sein können. Monos war zurückgekehrt und hatte der Menschheit endgültig den Todesstoß versetzt. Zumindest sah es so aus.

Alaska pflichtete Maurenzi Curtiz posthum bei. Die Menschheit hatte sich nie unterkriegen lassen. Sie war nach jedem Sturz aufgestanden, selbst wenn es Hunderttausende von Jahren gedauert hatte. Letztendlich war sie zurückgekehrt, stärker, intelligenter und ausdauernder als zuvor.

Mit einem Handgriff deaktivierte Alaska das Hologramm. Der ehemalige Erste Terraner löste sich in Luft auf, während die Syntronik einen Speicherkristall produzierte. Einige Minuten später steckte die Geschichte der Menschheit in Alaskas rechter Beintasche. Er drehte sich um, griff automatisch zur Waffe, die er heute Morgen gefunden hatte, sprang nach rechts, legte an und ließ den Paralysator sinken. Im Gang, knapp hinter der Tür, saßen zwei Menschen. Alaska schätzte sie auf ungefähr fünfundzwanzig Jahre.

*

»Ist das alles wahr?«, fragte der Mann, während die Frau Alaska mit ihren rehbraunen Augen regelrecht fixierte.

Alaska nickte und wunderte sich über das nahezu akzentfreie Interkosmo des Mannes.

»Ich habe gewusst, dass uns der Ewige Hüter nicht die Wahrheit erzählt!« Die Frau war aufgesprungen. »Habe ich es dir nicht gesagt, Roan?«

Roan nickte. »Ja, mein Schatz!« Er legte die Hand um ihre Taille, zog sie an sich heran und küsste sie.

Unwillkürlich schmunzelte Alaska. Eben hatte er den Untergang der Menschheit miterlebt und nun stand er vor zwei Menschen, die sich liebkosten.

»Ich heiße Alaska!«

Er schüttelte beiden die Hände.

»Das ist Vronka und ich bin Roan. Wir kommen aus der Innenwelt.«

Erste Vermutungen zuckten durch in Alaskas Bewusstsein. Er hatte in seinem langen Leben festgestellt, dass sich die Grundzüge der Entwicklung glichen. Nur die Details der Geschichte änderten sich.

»Verzeiht mir, dass ich diesen Begriff nicht kenne.«

Vronka lachte. Es gab ihrem sommersprossigen Gesicht einen exotischen Touch. Entfernt erinnerte ihre knabenhafte Gestalt ihn an Kytoma. Alaska spürte, dass er melancholisch zu werden drohte, und rief sich zur Ordnung.

»Roan und ich sind Terrans. Vor unendlichen Zeiten erschütterte ein Krieg unsere Welt und die Überlebenden – zusammen siebenhundertzweiundneunzig – zogen sich unter der Aufsicht des Ewigen Hüters in die Innenwelt zurück. Strenge Regeln zum Wohl der Terrans wurden aufgestellt und die Außenwelt wurde tabu. Wir machten Wissen und Bildung in Verbindung mit einem gestählten Körper zu unseren Tugenden. Dennoch schrumpfte die Zahl der Terrans auf vierhundertneununddreißig. Doch durch die unermüdlichen Anstrengungen des Ewigen Hüters vermehrten wir uns wieder und halten uns derzeit bei eintausendundeins Personen.«

Alaska beherrschte sich, um nicht laut aufzulachen. Was Vronka ihm stolz als Volk beschrieb, war in früheren Zeiten nicht mehr als ein Häufchen gewesen.

»Wenn die Außenwelt tabu ist, was macht ihr dann hier?«

»Vronka und ich haben durch Zufall einen Gang entdeckt, der in die Außenwelt führt. Wir konnten der Versuchung nicht widerstehen.«

»Wir waren schon immer etwas … hm … anders. Wir lassen uns nicht von uralten Regeln knebeln!«

»Recht habt ihr!«

»Und außerdem«, fügte Vronka hinzu, »wollte ich die Sonne sehen. Die echte!«

Alaska grinste. Er mochte die beiden. Über zweitausend Jahre hatte der Wissensdurst in den Genen geschlummert. Es war nur logisch, dass er irgendwann ausbrach.

»Mich interessiert, wo diese Innenwelt liegt.«

»Im Inneren des Tales«, antwortete der schwarzhaarige Roan und drehte sich einmal um die Achse.

Alaska brauchte nicht lange überlegen, um zu wissen, was Roan meinte. Die Innenwelt war mit den Rückzugsstollen des TLD identisch. Als die Arkoniden die Erde unter dem Einfluss SEELENQUELLs besetzten und die Solare Residenz im Schutze der terranischen Flotte aus dem System flüchtete, hatte sich der TLD in die geheimen Stollen des Residenzsees zurückgezogen. Von dort hatten sie den Widerstand gegen die negative Superintelligenz und die Arkoniden geleitet und koordiniert.

»Wer ist der Ewige Hüter?«

Er blickte in zwei fragende Gesichter.

»Wie heißt der Ewige Hüter?«, präzisierte Alaska.

»Na, Ewiger Hüter!«

»Wird er gewählt?«

»Gewählt? Nein, er führt uns seit Anbeginn der Zeit.«

Alaskas Gedanken wirbelten. Verbarg sich hinter dem Begriff »ewig« ein Unsterblicher? War Maurenzi Curtiz wirklich nach Ablauf der Frist gestorben? Vielleicht hatte Osiris ihm ein zweites Mal geholfen?

Außerdem vermisste er die anderen Unsterblichen. Wo waren Julian Tifflor, Roi Danton oder Monkey?

»Ich muss ihn kennenlernen!«

»Das wird nicht leicht«, stellte Roan fest und lächelte. »Zuerst müssen wir uns überlegen, wie wir den Verstoß gegen die Regeln erklären.«

»Und hoffen, dass uns die Gemeinschaft nicht bestraft«, fügte Vronka hinzu.

Alaska verstand ihre Befürchtung. Im Prinzip waren die zwei Terrans Gesetzesbrecher.

»Keine Angst. Falls der Ewige Hüter der ist, für den ich ihn halte, wird er euch nicht bestrafen. Ganz im Gegenteil. Er wird die Terrans gemeinsam mit euch in die Außenwelt führen.«

»Dein Wort in des Hüters Ohr!«

»Wir müssen!«

Roan blickte auf die Uhr und erschrak. »Mist«, fluchte er. »Egal, das war es wert!«

»Treffen wir uns morgen?«

Roan verneinte mit einer Kopfbewegung. »Übermorgen könnte es klappen!«

»In Ordnung! Gleiche Zeit wie heute!«

An der Außenwand der Residenz trennten sich ihre Wege. Alaska sah ihnen zu, wie sie die Wände hochkletterten und in einer Felsspalte verschwanden. Er blickte nach Westen. Irgendwo hinter den Felsen wartete Ydira in der Grotte auf ihn. Es würde ein langer Weg werden.

*

Alaska verharrte mitten im Schritt. Falls ihm seine Ohren keinen Streich spielten, hatte er soeben eine Stimme gehört. Er lauschte.

Da!

Er hatte sich nicht getäuscht. Eine Frauenstimme sagte etwas in einem fürchterlichen Interkosmo. Das konnte nur Ydira sein! Alaska schmunzelte, als er daran dachte, dass er nach dem Gesetz ihres Stammes mit ihr verheiratet war. Er hatte ihrem Vater das Leben gerettet und sie als Geschenk erhalten. Nach anfänglichen Schwierigkeiten genoss er das rein platonische Eheleben. Sie sorgte für Essen und er für ihren Schutz. Mittlerweile hatte sie sich auch schon ein paar Brocken Interkosmo angeeignet. Er gestand sich ein, dass er sich an sie gewöhnt hatte. Ein unhaltbarer Zustand!

Mit wem sprach sie?

Alaska stellte seinen rechten Fuß auf einen größeren Stein und blickte auf die Felswand vor ihm. Sie versperrte ihm den direkten Weg zur Grotte. Doch der Fels bot genug Einkerbungen, um darüber zu klettern.

Plötzlich wurde Ydira von einer zweiten, ihm ebenfalls bekannten Stimme unterbrochen. Sofort entstand das Bild einer schlanken, durchtrainierten Frau in seinem Inneren. Ihre roten Lippen kämpften gegen ihre blauen Augen um Aufmerksamkeit. Die dunkelblauen, langen Haare komplettierten ihr hervorragendes Aussehen. Reginald Bull hätte sie in seiner legeren Art als »geilen Hasen« bezeichnet. Auch wenn Alaska nichts von Bulls Diktion hielt, so musste er ihm zustimmen. Er konnte sich nicht vorstellen, dass es irgendeinen Mann gab, den Denise Joorns erotische Ausstrahlung nicht angezog.

Verwundert zog er die Augenbraue hoch.

Waren das eben seine Gedanken? Er überlegte, wann ihn zum letzten Mal eine Frau interessiert hatte und gab es sofort auf. Er wusste es ohnehin. Es gab drei Frauen, die sein Herz berührt hatten. Eine davon war seine Lebensgefährtin Liv Andaman, die durch das Cappinfragment in seinem Gesicht gestorben war, und die anderen beiden – Kytoma und Vaiyatha – waren Projektionen.

Er seufzte. Offenbar war es sein Schicksal, von Frauen nur zu träumen.

Alaska kehrte in die Realität zurück, als er seinen Namen hörte. Zumindest bildete er sich ein, dass Ydira mit ihrer harten Aussprache des Interkosmo seinen Vornamen genannt hatte.

Seine Finger griffen in den Felsvorsprung und er zog sich – unterstützt durch Beinarbeit – nach oben. Nun hing er direkt in der Steinwand. Er löste den linken Fuß aus der Einkerbung und setzte ihn einen Viertelmeter nach oben. Alaska legte den Kopf in den Nacken, suchte nach Vorsprüngen für seine Hände und wurde fündig. Rasch zog er sich einem weiteren Meter aufwärts. Sieben Züge später hatte er den Fels überwunden. Er wuchtete sich auf die Felsenspitze und richtete sich auf.

Die Stimmen von Ydira und Denise drangen ungedämpft an seine Ohren. Außerdem sah er sie nun. Beide Frauen standen sich gegenüber. Denise trug ihre Bordkombination, während Ydira ihr knappes Leinenkleid anhatte.

Alaska ertappte sich dabei, dass sein Blick länger als nötig über Joorns weibliche Merkmale glitt. Ein Knurren drang aus seinem Mund.

Was ist? Ist es wirklich schon so lange her?

Sicherheitshalber verweigerte er sich selbst die Antwort.

»Hallo Leute!«

Alaska schenkte den Angesprochenen ein Lächeln und winkte.

»Alaska!«

Denise Joorns Stimme überschlug sich vor Freunde. Sie hob die Arme. Ydira grüßte ihn, indem sie ihm die offene Handfläche zeigte. Der Somer Ler Ok Pold, von allen nur Leopold gerufen, breitete seine Flügel aus und watschelte drei Mal mit ihnen. Einzig der terranische Geschäftsmann Jacques de Funes reagierte ohne Freudensausbruch. Er starrte einfach zu ihm hoch.

Alaska kletterte über die Felsen nach unten. Kaum hatte er seine Füße auf die Erde gesetzt, spürte er Denise Joorns Arme um seinen Körper. Ein Kuss auf seine Wange folgte und danach drückte sie ihn fest an sich. Alaska reagierte nicht. Tief in seinem Inneren glaubte er eine Stimme zu hören, die ihn als Idioten beschimpfte.

»Bin ich froh, dich zu sehen!« Joorn strahlte über das ganze Gesicht. Sie hatte sich von ihm gelöst.

»Ja«, antwortete er unbeholfen. Er war nie ein weltgewandter Charmeur gewesen. Sein ohnehin steifes und zurückhaltendes Wesen hatte sich durch die Jahrtausende hinter der Maske noch verstärkt.

»Wo warst du?«

Langsam kam Bewegung in Alaska.

»Ich durfte mit Ydira gegen die Insekten kämpfen. Ein paarmal sind wir ihnen nur knapp entkommen!«

»Ha, frag uns einmal«, sagte sie lachend. »Ich höre das Summen der Insekten mittlerweile zehn Kilometer gegen den Wind. Hast du herausgefunden, auf welcher Welt wir gestrandet sind?«

Alaska nickte.

»Und? Mach’s nicht so spannend!«

Manchmal war Alaska ausdrucksloses Gesicht praktisch. Jeder andere hätte sich verraten.

»Das ist schwer zu erzählen … du musst es selbst sehen!«

Die Hobbyarchäologin verzog die Augenbrauen und öffnete ihren Mund zu einer Frage, doch Alaska drehte sich um und deutete ihr zu folgen. Er kletterte über den Felsen. Oben bückte er sich und streckte ihr die Hand entgegen. Joorn ergriff sie und er zog sie nach oben.

»Wo müssen wir hin?«

Alaska deutete nach Norden. Fünfzehn Minuten später sprang Alaska auf die Hochebene. Als Joorn hinter ihm auf dem Boden aufkam, stellte er sich ihr in den Weg.

»Denise«, sagte er eindringlich. »Du musst jetzt stark sein.«

Sie schob ihn wortlos beiseite. Alaska trottete hinter ihr her. Als sie in der Mitte des Plateaus stand, zitterte sie.

»Nein … nein … das darf …«, murmelte sie und sackte zusammen.

Alaska fing sie auf. Kurz verharrte sie in seinen Armen, dann rappelte sie sich auf und schmiegte sich an seinen Körper. Sie schluchzte an seiner Schulter, während er unwillkürlich seine rechte Hand an ihren Hinterkopf legte und ihre schwarzbläulich leuchtenden Haare streichelte. Mühsam unterdrückte er aufsteigende Gefühle und fluchte innerlich. Auch er war nur ein Mann. Allerdings ein unsterblicher. Man erwartete von ihm, dass er sich beherrschte. Zumindest hatte er nicht denselben Ruf wie Bully. Anderseits … waren das nicht Erwartungen aus einer längst vergangenen Zeit?

Denise Joorn löste ihren Kopf von seiner Schulter. Alaska hätte ihr die Tränen aus dem Gesicht wischen müssen, tat es nicht.

»Wie … wieso?«

Alaska führte sie zu einem abgeflachten Felsen. Gemeinsam setzten sie sich.

»Es ist eine traurige Geschichte. Eine Geschichte des ständigen Kampfes. Kurz nachdem wir mit der WITMAE das Sternenportal durchflogen hatten, um nach Cartwheel zu gelangen, materialisierte eine fremde Flotte in der Milchstraße und …«

*

»Alaska!«

Mit einem Schrei fuhr er hoch und sah ein panikverzerrtes Gesicht.

»Was?«, fragte er müde.

»Fykkar … draußen … weg!«, brachte Ydira mühsam heraus.

Alaska war nun hellwach. Er blickte zum Grotteneingang, durch den er die bereits aufgegangene Sonne sah. Alaska sprang auf.

»Los, wecken wir die anderen!«

Ydira rüttelte den Somer und de Funes aus dem Schlaf, während sich Alaska Denise zuwandte.

»Wir müssen weg! Die Insekten sind in der Nähe!«

Joorn schlug die Augen auf, griff nach rechts, wo ihr Thermostrahler lag, schnellte hoch und suchte nach Gegnern. Als keine fand, entspannte sie sich.

»Hört mir zu!« Die Köpfe drehten sich und alle Augen richteten sich auf Alaska. »Wir schlagen uns bis zur Solaren Residenz durch und versuchen, in der Innenwelt der Terrans unterzutauchen. Dort sind wir erst einmal in Sicherheit und überlegen uns unsere weiteren Schritte.«

Die Angesprochenen nickten. Hintereinander marschierten sie aus der Grotte und kletterten wieder über Felsen. Mehrere Male glaubte Alaska, das Surren von Flügeln zu hören, doch nie tauchte eines der Insekten auf. Alaska testete mit seinem rechten Fuß einen Felsbrocken auf seine Stabilität, als er fallende Steine hörte. Gleichzeitig erklang ein Schrei.

Er wirbelte herum und sah einen Körper auf sich zuschnellen. Instinktiv warf er sich nach rechts und landete in einer Felsmauer. Seine Finger rutschten über den Fels und wurden fündig. Den Ruck fing er mit den Beinen ab. Nachdem er sich gesichert hatte, blickte er hinter sich.

Jacques de Funes lag mit schmerzverzerrtem Gesicht zwischen den Steinklötzen.

»Scheiße!«, rief er.

Alaska hechtete rückwärts und landete sicher auf einem Felsen. »Alles Okay?«

»Klar doch! Ich fluche gerne!«, schnauzte ihn de Funes an. »Sehen Sie Vollidiot nicht, dass ich verletzt bin?«

»Wo?« fragte Alaska und ging nicht auf den aggressiven Tonfall ein.

»Mein rechter Knöchel schmerzt!«

Mit einem fachkundigen Griff kontrollierte Alaska die Stelle. »Vermutlich überdehnt! Versuchen Sie aufzutreten!«

De Funes stöhnte, als er sein rechtes Bein belastete. Dann richtete er sich auf. »Es wird schon irgendwie gehen«, sagte er tapfer.

»Keine Stunts, okay?«

Der Terraner nickte und wuchtete sich über den Felsen. Alaska sah besorgt nach oben. Hoffentlich hatten die Insekten den Schrei nicht gehört.

»Ein paar Meter«, rief er, »dann haben wir es geschafft!«

Sie kletterten weiter und gelangten schließlich zum Plateau. De Funes und Leopold sahen zum ersten Mal die abgestürzte und zerstörte Solare Residenz.

»Es ist also doch wahr …«, sagte de Funes, bevor er sein Gesicht in den Händen vergrub.

Alaska verstand ihn. Auch mit Kenntnis der Geschichte war es nicht leicht, den Anblick der Trümmer zu ertragen. Ein lautes Surren ließ Alaska zusammenzucken.

»Insekten!«, brüllte Denise Joorn.

Sie hatte recht. Über dem Felsvorsprung, den sie alle soeben mühsam hinuntergeklettert waren, schwebten zwei Insektenkrieger.

»Springt!«, rief Alaska und setzte über die Plateaukante hinweg. Er landete in dem dünenartigen Abhang des Tales. Vor seinen Füßen bildete sich ein Sandkeil und bremste ihn. Er sprang auf und rannte nach unten, während das Surren hinter seinem Rücken lauter wurde. Falls er sich nicht getäuscht hatte, schwebten die Insekten noch über dem Plateau.

Unten am Fuß der Solaren Residenz sah er zwei Menschen stehen, Roan und Vronka.

»Verschwindet!«, schrie er, was seine Lungen hergaben. Gleichzeitig machte er mit den Händen verscheuchende Bewegungen. Doch sie verstanden ihn nicht.

Alaska fluchte, als sie zurückwinkten.

»Lauft!«, schrie er erneut und stolperte weiter den Abhang hinab. Plötzlich verharrten Roan und Vronka mitten in der Bewegung. Dann drehten sie sich um und rannten in die Solare Residenz. Vermutlich hatten die Terrans die Insekten gesehen.

Das Geräusch sich schnell bewegender Flügel stand plötzlich über seinem Kopf. Kurz verstummte es, um ihn dann zu überholen. Alaska zog den Paralysator, den er in der Solaren Residenz gefunden hatte. Er blieb stehen und legte an. Sein rechter Zeigefinger berührte den Abzug. Er stoppte den Atem, während das Insekt im Sucher erschien.

Ohne zu überlegen, drückte er ab. Unsichtbare Strahlen rasten auf den Insektenkrieger zu und trafen. Das Surren verstummte und das Insekt kippte nach unten.

Alaska rannte weiter. Knapp hundert Meter trennten ihn von der Solaren Residenz.

Ein Schrei ertönte hinter ihm. Es klang nach Jacques de Funes. Alaska drehte sich nicht um, sondern beschleunigte seinen Lauf.

»Bleib stehen!«

Die Worte wurden von einem Zischen begleitet. Eine Welle heißen Gases schlug neben ihm in den Sand. Alaska warf sich nach links, rollte sich auf den Rücken und schoss auf den Schemen, den er in der Luft gesehen hatte.

»Daneben!«, verhöhnte ihn die Stimme, während neben ihm eine Salve aus einem Impulsstrahler den Sand zum Kochen brachte.

»Lass die Waffe fallen oder wir töten deine Kameraden!«

Alaska sah in die Luft. Über ihm schwebte General Fykkar, die Waffe im Anschlag. Weiter oben in der Düne hatten die Insekten Joorn, de Funes und Leopold umzingelt. Mit einem Seufzer warf er die Waffe in den Sand und erhob sich langsam.

So sehr er sich auch bemühte, er konnte in Fykkars Gesicht nichts lesen. Die Insekten drückten ihre Gefühle nicht über die Mimik aus.

Fykkar landete vor Alaska, die Waffe schussbereit.

»Mensch, wie oft du auch vor mir flüchtest, ich werde dich immer wieder einfangen. Immer wieder!«

Mit ein paar Flügelschlägen unterstrich er die Bedeutung seiner Worte. Alaska reagierte nicht.

»Ihr seid nichts weiter als ein Fehler der Evolution!«, erklärte ihm General Fykkar und kam näher. »Auf die Knie mit dir, du Abschaum!«

Alaska bewegte sich nicht, worauf Fykkar wütend mit den Flügeln schlug. Alaska konnte das Geräusch schon nicht mehr hören. Es kotzte ihn an.

Fykkar riss den Arm nach vorne und schlug in Richtung von Alaskas Bauch. Alaska, der dies vorhergesehen hatte, belastete sein linkes Bein und drehte sich zur Seite. Der Strahler fuhr ins Leere und riss den Insektengeneral mit.

»Du verdammter Flügelloser!«, schrie Fykkar.

Alaska kniff die Lider zusammen und blickte starr in die Waffenmündung.

Auf Terra war er geboren und eines Tages würde er auch auf Terra sterben. Warum nicht jetzt? Schließlich war ein Moment so gut wie der andere.

»Stirb, Mensch!«

Deutlich hörte Alaska, dass Fykkar all seinen Abscheu gegen die Menschen in die Worte legte. Plötzlich erstarrte der Insektengeneral mitten in der Bewegung. Sein triumphierender Flügelschlag verstummte und er kippte nach rechts. Der Sand wölbte sich, als er im Boden aufschlug und sich eine Grube bildete.

Weiter oben am Abhang fielen die anderen Insektensoldaten ebenfalls wie von Geisterhand gefällt in die Wüste. Irritiert blickte sich Alaska um. Täuschte er sich oder hörte er ein bekanntes Geräusch?

Als sich ein silberner Körper aus der Luft schälte, verstand er. Der Körper sah aus wie ein großer bauchiger Kreis, an dessen einem Ende zwei Zangen hervorlugten. Nahezu geräuschlos landete es im Sand.

Ein Schott glitt beiseite und gab einen großen, weißhaarigen Mann frei. Mit versteinerter Miene betrachtete er die zerbombte Solare Residenz, bevor er aus der Space-Jet nach unten schwebte. Hinter ihm füllte eine mächtige Gestalt mit drei feuerroten Augen die Schleuse aus.

»Hätte jemand die Freundlichkeit mir zu sagen, was zum Teufel auf Terra passiert ist?«, fragte Atlan mit vor Sarkasmus triefender Stimme, während Icho Tolot hinter ihm aus dem Jet sprang.

»Aber natürlich«, erwiderte Alaska.

ENDE

Die Ereignisse im Grünen Universum haben sich überschlagen. Alaska findet heraus, dass er sich über 3.000 Jahre in der Zukunft auf Terra befindet. Alle Zellaktivatorträger bis auf ihn selbst, Atlan und Icho Tolot sind tot.

Im nächsten Roman wechselt die Handlung wieder nach Cartwheel und befasst sich mit dem Eingriff der Saggittonen auf Seiten der Estarten. Nun droht das Quarterium ebenfalls Truppen nach Siom Som zu schicken. Es ist der BEGINN DES KRIEGES. So auch der Titel von Band 76, geschrieben von Nils Hirseland.

Die im Roman verwendete Rede eines NS-Ministers aus dem Jahre 1943 dient ausschließlich zur Charakterisierung eines im Heft beschriebenen Herrschaftssystems.

Sowohl der Autor als auch das komplette Dorgon-Team distanziert sich ausdrücklich vom Inhalt der Rede und von dem damit verbreiteten Gedankengut.

DORGON-Kommentar

Ende mit Schrecken oder Schrecken ohne Ende?

Alaska Saedelaere hat endlich das Rätsel des Grünen Universums (besser wäre hier wohl die Aussage »grünes Sonnensystem«) gelöst – es handelt sich um den Ursprungsplaneten der Menschheit: Terra. Die Menschheit ist bis auf wenige Ausnahmen »verblödet«, während die Insekten das Erbe des Homo Sapiens als beherrschende Population Terras angetreten haben.

Auch die Frage nach den Ursachen dieser Entwicklung wurde, zumindest oberflächlich, beantwortet: Zum Einen zerschlugen die Hilfsvölker MODRORs unter der Führung von Monos die LFT und besetzen oder zerstörten die Siedlungsplaneten der Menschheit (was im vorliegenden Roman übrigens sehr eindringlich geschildert wurde) und zum Anderen ging der Versuch, das Solsystem durch die Verwendung kemetischer Technik dem Zugriff von MODROR und Monos zu entziehen, schief. Dass hier auch MODROR oder Monos die Hände im Spiel hatten, wurde im Verlauf der Handlung deutlich.

Hier erhebt sich die Frage: »Welche Bedeutung haben Terra und die Menschheit für die Auseinandersetzung zwischen MODROR und DORGON?«

Es geht aus der Handlung klar hervor, dass es eindeutig das Ziel der negativen Superintelligenz ist, die Verbindung zwischen Terra und der Menschheit zu zerstören. Ein Terra ohne die Menschheit muss in den kosmischen Auseinandersetzungen einen ganz anderen Stellenwert haben. In diesem Zusammenhang stellt sich jedoch die Frage »Was um Himmels Willen unternimmt ES?« Nach allem was wir wissen, stellen die Terraner die von ES ausgewählten Erben der Superintelligenz dar. Und diese schaut einfach zu, wie die Menschheit vernichtet wird. Kommt hier wieder der skurrile Humor der Superintelligenz zum Vorschein?

Wenn dies so wäre, dann müsste das Verhältnis zwischen ES und der Menschheit neu definiert werden. ES wäre moralisch auf die gleiche Stufe wie die Kosmokraten zu stellen, und die Menschheit würde gut daran tun, ihren weiteren Entwicklungsweg nicht mehr mit ES zu verknüpfen.

Und jetzt will ich mich auf die Ebene der Spekulation begeben: »Wie geht es weiter?«

Szenario I

Die geschilderte Entwicklung ist unwiderruflich, Perry, Gucky und die anderen Unsterblichen sind tot. Einzig Atlan, Alaska und Icho Tolot haben überlebt. Die LFT ist zerschlagen, MODROR hat auf der ganzen Linie gesiegt. Dies hätte zur Konsequenz, dass sich das DORGON-Universum vom normalen RHODAN-Universum abspaltet, wir hätten also das klassische Szenario eines Paralleluniversums. Wie es in der Milchstraße aussieht, ist im Moment unbekannt, jedoch kann davon ausgegangen werden, dass auch hier die Hilfsvölker MODRORs die menschliche Zivilisation zerschlagen haben. Die Monos-Diktatur würde wieder aufleben, jedoch mit dem Hintergrund der Unterstützung durch MODROR.

Dieses Szenario ließe sich etwa in folgender Richtung entwickeln:

Es gelingt den Unsterblichen (Icho Tolot ist, und das wird meistens vergessen, in erster Linie ein hoch qualifizierter Wissenschaftler) das Solsystem wieder zurück in das normale Einstein-Universum zu versetzen (und eventuell durch die Technologie der Kemeten vor dem Zugriff MODRORs zu schützen), der Rest wäre wohl der klassische Guerilla-Plot: Die Menschen bekämpfen MODROR und Monos aus dem Untergrund und wer wäre wohl besser dazu geeignet, einen solchen Kampf zu organisieren, als der ehemalige Lordadmiral der USO?

Als Superintelligenz auf Seiten Terras würden sich hier die Kemeten anbieten, denn sie haben durch die Übergabe des Zellaktivators an Maurenzi Curtiz bereits zugunsten der Menschheit eingegriffen. Interessant wäre hier auch die weitere Entwicklung der Insekten: Würden sie nach der Normalisierung des Solsystems ihre Intelligenz behalten? Wie würden sich das Verhältnis mit den Menschen entwickeln? Würde sich die Schöpfung der Cantaro am Ende gegen ihren Schöpfer wenden?

Szenario II

Hier würde es sich um das Zeitlinien-Szenario handeln. Die Existenz von Monos und seine Befreiung durch MODROR hat zur gegenwärtigen Entwicklung, also zum Untergang der LFT und dem Tode der Unsterblichen geführt. Aufgabe der überlebenden Unsterblichen wäre also, dieses Ereignis rückgängig zu machen (beispielsweise müssten in der Milchstraße oder in Andromeda noch einige Nullzeit-Deformatoren der MdI existieren), durch die die Vergangenheit abgeändert werden könnte. Eventuell könnten hier auch noch ES oder DORGON hilfreich eingreifen. Konsequenz dieses Szenarios: Atlan oder Icho Tolot töten in der Vergangenheit (also der Realzeit) Monos und verhindern so, dass dieser die Führung der MODROR-Hilfsvölker übernimmt und die Cantaro wiederbelebt. Dadurch wird die Zukunft in das uns aus dem normalen RHODAN-Universum bekannten Szenario geändert, die Abspaltung eines DORGON-Paralleluniversums findet nicht statt. Perry Rhodan ist nicht tot und auch Gucky bleibt am Leben (Sorry, aber das ist die Konsequenz, ich hör schon den enttäuschten Aufschrei der »Tötet-Gucky-Fraktion«. Ich gehöre übrigens nicht dazu – im Gegenteil!).

Fazit

Wie wird sich nun die weitere Handlung entwickeln? Ich tendiere in Richtung Szenario II, denn ein eigenes DORGON-Universum ohne Perry Rhodan halte ich doch für etwas gewagt, obwohl der Gedanke (wenigstens für mich) faszinierend wäre.

Auf jeden Fall kann festgehalten werden, dass MODROR ein gewaltiger Fehler unterlaufen ist, denn von allen Unsterblichen ist gerade Atlan dazu prädestiniert, wenn nötig auch ohne Gnade, gegen die Gegner der Menschheit vorzugehen, und ich denke, dass Monos dies noch am eigenen Leib erfahren wird.

Jürgen Freier

GLOSSAR

Cyvho

Als Besten seiner Abschlussklasse ernannte ihn der Oberste Wissenschaftler Zarrytor zu seinem Assistenten. Damit würde er nach dessen Tod in seine Fußstapfen als Oberster Wissenschaftler treten – allerdings nur, wenn Zarrytor ihn für würdig genug befand. Neben dem gesellschaftlichen Aufstieg in die Ebene unterhalb der Macht bedeutet der Posten, dass Cyvho Zarrytor auf Gedeih und Verderb ausgeliefert ist. Doch Cyvho erträgt die cholerischen Anfälle von Zarrytor seit eineinhalb Jahren mit erstaunlicher Ruhe und Gelassenheit, zumindest äußerlich. In seinem Inneren jedoch brodelt es und letztlich genügt ein Funke, um ihn aus den Traditionen der Bienen ausbrechen zu lassen.

Zarrytor

Der Mundyn der Insekten gehört zum inneren Kreis der Mächtigen in Insektoidia. Er und fünf anderer Insekten stehen in enger Verbindung mit den Cantaro und sind deren Befehlsempfänger. So wie alle Insekten sehen sie in den Menschen bessere Tiere, die über keinerlei Intelligenz verfügen und deren Leben nichts wert ist. Der Mundyn genießt hohes Ansehen in der Bevölkerung und missbraucht seine Stellung, um illegale Experimente durchzuführen.

Gineryl

Der Schriftsteller und Lebenskünstler ist Cyvhos bester Freund. Er ist einer der wenigen, die die wahren Machtverhältnisse auf Insektoidia kennen und versucht, mit seiner Widerstandsbewegung die Macht der Cantaro zu brechen.

Insektoidia

Insektoidia ist der allumfassende Begriff der Welt der Insekten. Sowohl ihre Hauptstadt als auch ihre Welt trägt den Namen.

Die Welt der Insektoiden ist sehr heiß, ihre Oberfläche eine Mischung aus Wüste und Wäldern. Es gibt viele schroffe und karge Landschaften gefolgt von Oasen, in denen die Insektoiden leben.

Die Durchschnittstemperatur liegt bei 32 Grad Celsius und der Niederschlag ist relativ gering.

Nicht alle Regionen sind erforscht. Es gibt viele einzelne Staaten der Insekten, wobei die meisten in Abhängigkeit zur Stadt Insektoidia leben, die sie als Nabel der Welt sehen.


Die DORGON-Serie ist eine nicht kommerzielle Publikation des PERRY RHODAN ONLINE CLUB e. V. — Copyright © 1999-2016

Internet: www.proc.org & www.dorgon.netE-Mail: proc@proc.org

Postanschrift: PROC e. V.; z. Hd. Nils Hirseland; Redder 15; D-23730 Sierksdorf

— Special-Edition Band 75, veröffentlicht am 3.10.2016 —

Titelillustration: Stefan Lechner • Innenillustrationen:

Lektorat: Alexandra Trinley, Jürgen Freier, Jürgen Seel • Digitale Formate: René Spreer