Band 44

Cartwheel-Zyklus

 

Mutantenkrise

Shornes Genexperimente revoltieren

 

Ralf König & Nils Hirseland

 

Was bisher geschah

Wir schreiben März des Jahres 1298 NGZ. Cartwheel ist nach drei Jahren zu einer relativ stabilen Gesellschaft von über 50 Völkern herangewachsen. Seit der Entführung der BAMBUS durch die Dscherro und der Vernichtung der Welt Xamour durch Rodroms SONNENHAMMER ist Ruhe eingekehrt. Eine Zeit, in der die Völker zueinander finden und sich in ihre neue Heimat einleben.

Cauthon Despair ist zurückgekehrt und hat sich von MODROR losgesagt. Die Entität bietet Frieden an, solange sich die Cartwheeler nicht in seine Belange einmischen.

Derweil hat der Marquês de la Siniestro Familienzuwachs bekommen. Vier Klonkinder wurden ihm vom Industrietycoon Michael Shorne geschenkt. Doch der innere Frieden in Cartwheel droht zu zerbröckeln. Just als Perry Rhodan einen Besuch auf der Insel antritt, kommt es zur MUTANTENKRISE…

Hauptpersonen

Rijon – Ein kleiner Blue wächst zum gefährlichen Supermutanten.

Torytan, Jevvrus und Kylaka – Rijons Helfer.

Will Dean und Jan Scorbit – Sie sollen die Vorfälle bei SHORNE INDUSTRY untersuchen.

Gucky – Der Mausbiber nimmt sich dreier Mutanten an.

Michael Shorne – Der Unternehmer sieht sich erneut in einer prekären Lage.

Jeanne Blanc, Wulf Lane und Brad Callos – Drei Mutanten die sich in den Dienst der Menschheit stellen wollen.

Orlando, Stephanie, Peter und Brettany de la Siniestro – Die neue Familie des Marquês von Siniestro.

Perry Rhodan – Der Terranische Resident in Cartwheel.

 

 

 

 

1. Cartwheel, 8. März 1298 NGZ

Der Marquês bereitete einen feierlichen Empfang für Perry Rhodan vor. Nach der Landung der LEIF ERICSSON wurde der Terranische Resident von einer prunkvollen Parade der Nationalgarde des Terrablocks begrüßt. Ein Gleiter kam vorgeflogen, und der Marquês von Siniestro stieg zusammen mit Joak Cascal aus, um Rhodan willkommen zu heißen.

»Es freut mich, Sie wiederzutreffen, Terranischer Resident«, sprach der Marquês freundlich und reichte Perry Rhodan die Hand.

Der Unsterbliche erwiderte die Geste und begrüßte auch Cascal freundschaftlich. »Ihre Mitteilung von der Rückkehr Despairs hat mich sofort dazu bewogen, Cartwheel zu besuchen«, erklärte er.

»Nun, die Details möchte ich Ihnen bei einem Essen mit meiner Familie erläutern«, bot der alte Spanier an.

Rhodan wirkte verwundert. »Familie?«

Don Philippe de la Siniestro konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Er erzählte Rhodan die offizielle Version der Adoption. Rhodan gratulierte und war gespannt, die Kinder des Terra-Administratoren kennen zu lernen.

Es war lange her, dass er Cartwheel besucht hatte. Zuletzt war er bei dem symbolischen Begräbnis seines Freundes Aurec dabei gewesen, der bei der Vernichtung Xamours ums Leben gekommen war. Zwar hatte man nie den Leichnam gefunden, doch es war sicher, dass der Saggittone dieses Inferno nicht überlebt hatte. Schwermütig hatte Rhodan damals Abschied von dem Hoffnungsträger Cartwheels und einem guten Freund genommen.

Gemeinsam stiegen Rhodan, der Marquês und Cascal in den Gleiter ein, der sie nach IMPERIUM ALPHA brachte.

Das Festessen für Perry Rhodan wurde nur in einem engen Kreis abgehalten. Nur die wichtigsten Honoratioren des Terrablocks und Cartwheels waren anwesend. Neben dem Marquês und seinen Kindern Orlando, Peter, Stephanie und Brettany waren noch Joak Cascal, Remus und Uthe Scorbit, Jonathan Andrews und der Somer Sruel Allok Mok anwesend.

Jeder begrüßte Rhodan sehr herzlich, mit der Ausnahme von Peter. Er stand auf und salutierte vor dem Terranischen Residenten und meldete, dass alle Mann am Tisch seien und auf seine Order warten würden.

Rhodan blickte den Marquês verdutzt an und nickte schwach.

»Ja... gut, setzen«, sagte er geistesgegenwärtig.

»Ja, Sir!«, schrie Peter laut und setzt sich wieder hin.

Diabolo betrat den Raum und machte Rhodan seine Aufwartung. Danach brachten Roboter das Essen. Es gab ungarisches Gulasch, eines der Leibgerichte Rhodans, neben so vielen anderen auch. Er schätzte besonders die traditionellen Gerichte und verzichtete auf die typischen Speisen reicher Wesen, die zwar gut aussahen, aber oft wie Plastik schmeckten und Unsummen kosteten. Dieses Geld wollte Rhodan lieber Bedürftigen spenden als es sich in den Rachen zu schieben.

»Nun, Marquês, ich danke Ihnen für die Einladung zum Essen. Ihren Sohn Peter habe ich ja bereits kennen gelernt.« Rhodan nickte ihm kurz zu. »Aber ihre anderen Kinder haben Sie mir noch nicht vorgestellt.«

Orlando erhob sich. »Das können wir auch selbst übernehmen, Sir. Ich bin Orlando de la Siniestro. Es ist mir eine Ehre, Sie kennen zu lernen, denn ich bin ein glühender Verehrer Ihre Politik und Philosophie«, erklärte er aufrichtig.

Rhodan machte eine dankende Geste.

Bevor Brettany etwas sagen konnte, mischte sich Stephanie ein. Sie hatte sich direkt neben Rhodan gesetzt. »Und ich, lieber Mister Rhodan, bin Stephanie de la Siniestro. Ihr Ruf eilt Ihnen voraus, doch ich hätte nicht gedacht, was für ein Mann Sie in der Tat sind. Sie strahlen all das aus, was eine Frau schwach macht. Ich nehme an, Sie haben viele Verehrerinnen?«

Rhodan wirkte etwas verlegen. Er räusperte sich und nahm einen Schluck von dem spanischen Wein. »Nun, Miss de la Siniestro, das ist privat...«

Stephanie machte einen Schmollmund und blinzelte mit den Augen. Rhodan bemerkte sofort, dass die de la Siniestro es auf ihn – oder vielleicht seine Macht – abgesehen hatte.

»Das ist aber schade«, sagte sie.

Rhodan schwieg.

Nun ergriff Brettany das Wort. Sie stellte sich vor und teilte die Ansicht Orlys über Perry Rhodan. Auf Rhodan wirkten Orlando und seine Schwester Brettany aufrichtig und liebenswert. Stephanie konnte er schwer einschätzen. Gehörte sie zu den vielen Teenie-Fans Rhodans oder hatte sie andere Absichten? Sie machte auf jeden Fall einen intelligenten Eindruck. Peter schien etwas schräg zu sein, fand der Unsterbliche. Er kleidete sich wie ein Offizier aus dem 18. Jahrhundert. Rhodan fühlte sich an die Jugend seines Sohnes Michael erinnert, denn auch er lief in einer alten Uniform durch die Gegend. Jedoch besaß Peter nicht das Charisma und wirkte etwas abwesend.

Rhodan begann, mit Cascal, Sam, den Scorbits und Andrews eine Diskussion über die aktuelle Lage zu führen. Er erkundigte sich dabei auch, wie es ihnen privat ging.

Peter wurde neidisch auf die Aufmerksamkeit, die die anderen von Rhodan bekamen.

»Sir, ich möchte wissen, wie wir Cartwheel noch stärker gegen MODROR ausbauen können?«, warf der de la Siniestro laut in das Gespräch ein. »Finden Sie nicht, dass wir eine Wehrpflicht einführen sollten?«

Joak Cascal fühlte sich unsanft unterbrochen und wollte etwas entgegnen, doch Perry Rhodan kam ihm zuvor. »Nein, das denke ich nicht. Man darf kein Intelligenzwesen dazu zwingen, Dienst an der Waffe gegen seinen Willen zu tun. Ebenfalls halte ich es für ungesetzlich, wenn man Wesen zu einer Zwangsarbeit drängt. Das ist nicht die Art der Terraner. Schon seit sehr langer Zeit nicht mehr!«

Peter wurde rot im Gesicht. »Aber jeder muss an der Waffe ausgebildet werden, um sein Vatersystem verteidigen zu können«, ereiferte sich Peter. »Nur weil dieser Despair aufgetaucht ist, dürfen wir doch nicht die Zügel schleifen lassen. Wir brauchen eine Armee, die alle anderen Armeen besiegen kann.«

Seine Schwester Brettany mischte sich ein: »Ich finde, wir sollten doch erst einmal abwarten, ob das Angebot von MODROR ehrlich ist. Außerdem finde ich Krieg grässlich, und man sollte die Menschen nicht noch dafür zwangsweise ausbilden.«

»Schweig still, Schwester! Du bist ein Mädchen und hast keine Ahnung davon«, herrschte Peter Brettany an, die zusammenzuckte.

Cascal wollte diesen jungen Terraner maßregeln, doch Orly übernahm das schon für den Terramarschall. Er forderte seinen Bruder auf, sich bei seiner Schwester zu entschuldigen. Peter knurrte eine Entschuldigung und hackte mit seiner Gabel in dem Essen herum.

Rhodan beobachtete den Marquês, dem die Diskussion unangenehm war. Perry kommentierte das mit einem Schmunzeln.

»Peter, Sie sind recht impulsiv. Natürlich müssen wir für einen Krieg mit MODROR gewappnet sein. Doch in Maßen. Wir sind kein Militärstaat. Sollten wir eine Resolution verabschieden, die Cartwheel die völlige Autarkie von den Heimatgalaxien gewährt, haben die Bewohner der Insel auch andere Aufgaben.«

»Aber sie brauchen eine starke Armee um diese Struktur zu verteidigen«, warf Peter ein.

»In der Tat, doch das muss nun wahrlich nicht jeder Bewohner eines Planeten sein, oder?«, forschte Rhodan nach.

»Nur Soldaten sind gute Menschen!«, schrie Peter mit hochrotem Kopf.

Alle Blicke ruhten auf ihm. Als er das bemerkte, schwieg er und aß das Gulasch.

Rhodan meinte nach einer Weile: »Sie sind noch jung und unerfahren in solchen Dingen, Peter. Ihr Enthusiasmus in Ehren, aber ich denke, wir sollten eher über den Frieden als den Krieg sprechen. Des Weiteren kann ich Ihnen Tausende von zivilen Helden nennen, die sehr gute Menschen sind. Ihr Vater ist nur einer davon.«

Peter schlug trotzig mit den Fäusten auf den Tisch. Sein Vater forderte ihn auf, sich erneut für sein Benehmen zu entschuldigen. Peter tat dies und war ruhig.

Nach dem Essen setzten sich alle in den Salon. Brettany de la Siniestro und Uthe Scorbit verstanden sich sehr gut. Sie schienen auf derselben Wellenlänge zu sein. Auch Orly, Jonathan und Remus bauten ein gutes Verhältnis zueinander auf.

Orlys Schwester versuchte sich während des ganzen Abends an Perry Rhodan heranzumachen, der sich jedoch gekonnt aus den Fängen der jungen de la Siniestro retten konnte.

Zum Abschluss einigten sich Rhodan und Sam in acht Tagen zuerst die Völker intern mit Wahlen über die Unabhängigkeit abstimmen zu lassen. Sollte das erfolgreich sein, so würde man im Parlament entscheiden. Dann sollte auch eine Konferenz mit allen Repräsentanten und Rhodan selbst zu dem Thema Unabhängigkeit von Cartwheel und den Frieden MODROR einzuberufen werden. Dort sollte man dann per Volksentscheid die erste Hürde nehmen.

»Meinst du, dass die Cartwheeler in der Lage sind, sich alleine zu regieren?«, fragte Rhodan seinen Freund Sam.

Der Somer wusste nicht genau, was er antworten sollte. »Vielleicht können sie es«, sagte er schließlich. »Vielleicht auch nicht. Sie haben auf jeden Fall eine Chance verdient.«

Rhodan stimmte dies nachdenklich. Bevor er jedoch tiefgreifende Gedanken an Sams Aussage verlieren konnte, mischte sich erneut Peter de la Siniestro ein.

»Sir, darf ich Sie morgen um 0600 dazu einladen, am Morgenappell meiner Spielsoldaten teilzunehmen? Es wäre mir eine Ehre!«

Rhodan wusste nicht mehr, was er sagen sollte.

 

2. Rijon, Mankind, 14. März 1298 NGZ

Er war nicht einmal besonders groß. Gerade mal 1,31 Meter maß er, bei 33 Kilogramm Gewicht. Niemand würde unter normalen Umständen Angst vor ihm haben. Er war noch ein Kind, er war ein Blue, der ein tragisches Schicksal erlitten hatte. Aber das war im Augenblick bedeutungslos.

Er bewegte sich nicht einmal besonders schnell. Mit kurzen, abgehackten Schritten taumelte er durch den Gang der Station, stützte sich kurz an die Wand und verharrte. Schweiß ran ihm in seine vorderen zwei Augen, er wischte ihn weg und stieß sich von der Wand ab. Alles, was passierte, spielte sich in seinem Gehirn ab.

Hinter ihm zeichneten sich die Gestalten von drei weiteren erschreckend deformierten Wesen ab. Die Chimären folgten dem Blue, nicht weniger unsicher. Die erste der Gestalten sah aus wie ein Mensch mit Fledermausflügeln und -gesicht. Hilflos flatternd schien er sich ständig in die Lüfte erheben zu wollen, schaffte es aber nicht. Spitze, an der Grenze der Hörschwelle liegende Schreie untermalten seine Bewegungen. Er nannte sich Torytan.

Der zweite war eine große, stämmig gebaute Gestalt mit einem Horn auf der Stirn, das von einem Dscherro geborgt zu sein schien. Er hatte außerdem vier Arme und stieß in diesem Augenblick ein dumpfes Grollen aus. Sein Name war Jevvrus.

Die dritte Gestalt war weiblich. Sie sah noch am normalsten aus, aber auch sie war nicht mehr nur Mensch. An ihrem Hals konnte man Kiemen erkennen, sie war mit den Genen eines Fisches vermischt worden. Kylaka konnte unter Wasser atmen.

Aber die gefährlichste von diesen vier Gestalten war der Jülziisch. Er ging auf eine der Türen zu, öffnete sie und stieß sie weit auf. Der Arzt, der sich in dem dahinter liegenden Raum befand, blickte verwundert auf den Blue. Bevor er etwas sagen konnte, weiteten sich seine Augen. Unglaubliche Schmerzen erfassten seinen Körper, ein Druck, der nicht zu beschreiben war. Für einen Moment fühlte er diesen stechenden, alles vernichtenden Schmerz, dann löschte er sein Bewusstsein für immer aus. Er bekam nicht einmal mehr mit, wie sich sein Körper in einer rötlich erscheinenden Wolke auflöste.

Ungerührt blickte der Jülziisch auf die Überreste des Arztes, der nicht einmal mehr einen Schrei ausstoßen konnte. Hass füllte jede Zelle seines Körpers aus, aber in diesem Augenblick auch eine tiefe Befriedigung. Ein Monster weniger, das ihm seine Familie genommen hatte.

Als er sich umwandte, öffnete sich eine der anderen Türen. Eine Schwester trat auf den Gang und erstarrte, als sie die vier Gestalten erblickte. Sie wollte schreien, aber konnte nicht. Torytan, breitete die Fledermausflügel aus und stieß einen Schrei aus, der niemand hören konnte. Die Wellen breiteten sich mit Schallgeschwindigkeit aus, innerhalb eines Sekundenbruchteils hatten sie die Schwester erreicht. Sie zerrissen den grazilen Körper, schleuderten die Teile, die einmal ein Mensch gewesen waren, durch den Gang. Torytan grinste boshaft.

Brüllend drang Jevvrus in einen weiteren Raum ein und schlang seine vier Arme um den Körper eines Arztes. Von Grauen geschüttelt wandte sich die Fischfrau ab. Sie war zwar überzeugt, dass die Ärzte für ihre Verbrechen sühnen mussten, aber sie wollte es nicht sehen. Verzweifelt blickte sie in die nach vorne gerichteten Augen des Blue, der sie zu verstehen schien. Er schüttelte in einer menschlich anmutenden Geste den Kopf.

So klein, dachte die Frau. Aber trotzdem war er die schrecklichste Monstrosität, die sie jemals zu Gesicht bekommen hatte.

Erinnerungen schüttelten den jungen Blue, der sich konzentrierte und seine mutierten Sinne über die ganze Station auszubreiten versuchte. Er setzte eine weitere seiner Fähigkeiten ein, impfte allen anwesenden Personen in der Station einen mentalen Befehl ein.

Kylaka war davon nicht betroffen, aber ganz kurz nur streifte sie ein Ausläufer der mutierten Sine des Blue. Sie erschauerte, als sie begriff. Alle Wesen in der Station sollten sich töten. Alle, außer den vier anwesenden Mutanten. Mit geweiteten Augen blickte sie auf den Blue.

Unschuldig erwiderte er ihren Blick. Er blockte alles ab, was in diesem Augenblick auf ihn eindrang. Sein Geist verschleierte sich, und er erinnerte sich.

 

Rückblende: 13. März 1298 NGZ

Der kleine Körper des Blue krümmte sich in der Ecke seiner kleinen Kammer zusammen. Dunkelheit umgab ihn, man konnte ihn nur auf den Schirmen der Überwachungskameras erkennen, die selbst den letzten Schimmer, der in dem Raum allenfalls zu erahnen war, einfingen, verstärkten und ein klares Bild auf den Monitor eines Pflegers zauberten, der sich allerdings mit ganz anderen Dingen beschäftigte.

Der kleine Blue hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Bilder, die aus einer längst verloren geglaubten Zeit stammten, stahlen sich in sein Gehirn, marterten den Geist des kleinen Wesens. In seinem Alter sollte man sich viele Gedanken machen, zum Beispiel, welches Spielzeug man als nächstes benutzen würde. Oder warum eines der älteren Geschwister gerade wieder dabei war, einen zu ärgern. Für solche Gedanken hatte der Blue keine Energie. Er wartete, eingesperrt in dieser Zelle, bis wieder jemand kommen und ihn quälen würde, bis wieder die Männer und Frauen in den weißen Kleidern erscheinen würden und Nadeln seinen Körper quälen würden. Er hatte Angst.

Bilder aus der Vergangenheit drängten sich in das Gehirn des jungen Blue. Rijon sah sich selbst, wie er zusammen mit seinen siebzehn Geschwistern auf Gatas in einem einfachen, kleinen Haus gewohnt hatte. Sein Haus stand in einer Reihe mit den Häusern von anderen Blues, die, wie sein Vater, einfache Industriearbeiter waren. Einfach, aber glücklich, so hatte sich das Leben für den jungen Blue dargestellt. Eines Tages allerdings hatte sich sein Vater entschlossen, den Arbeitsplatz zu wechseln. Er war zu einem Unternehmen der SHORNE INDUSTRIES gewechselt. Der junge Blue kannte es nicht, wusste nicht, was es für ihn bedeuten würde.

Als die Menschheit sich entschloss, dem Ruf von DORGON zu folgen, machte sich auch die Familie des Blue mit vielen anderen Angestellten von SHORNE INDUSTRIES auf den Weg auf die Insel, besiedelte – zusammen mit vielen anderen – die Welt Mankind, die die neue Zentralwelt der Menschheit werden sollte, einer Menschheit, mit der sich der Blue nicht identifizierte. Aber das war auch nicht wichtig, denn solange er seine Familie hatte, war das Leben des Blue noch in Ordnung.

Rijon wusste nicht, wie lange es gedauert hatte. Eines Tages verschwanden Mitglieder seiner Familie spurlos, Geschwister, schließlich seine Eltern. Übrig blieben nur seine Schwester Trützy und er selbst. Jedenfalls bis zu dem Tag, an dem die Männer in den weißen Kleidern in ihr Haus eingedrungen waren und sie beide mitgenommen hatten. Sie wurden getrennt und seit diesem Tag war der junge Blue in dieser Zelle eingesperrt, in seiner Verzweiflung nur unterbrochen durch die Angst, die ihm die Besuche durch die Ärzte und die immer wieder neue Konfrontation mit dem Grauen bescherte. Rijon hatte kein Zeitgefühl. Er wusste nur, dass immer wieder Männer mit Masken in seine kleine Kammer kamen, ihn mit nach draußen nahmen und ihm Medikamente verabreichten. Hin und wieder wurde er auch operiert. Ein Leben, das schrecklicher nicht sein konnte.

Verzweifelt drängte er sich in eine Ecke der Kammer und starrte in Richtung der Tür, die in der vorherrschenden Dunkelheit nur schemenhaft zu erkennen war. Jeden Augenblick konnte sie sich öffnen und neuerlicher Schrecken konnte sich über ihn ergießen. Innerlich zuckte er bei jedem Geräusch zusammen, das in der Dunkelheit viel lauter und unheimlicher klang, als es in hellem Licht der Fall sein würde.

Sehnsüchtig dachte er an seinen Familie. Irgendwo würden sie sein, irgendwann würde er sie wieder sehen. Schluchzend weinte er sich in den Schlaf, langsam senkte sich eine Dunkelheit auch über seinen Geist, löschte die furchtbare Realität und erlöste ihn für einige Augenblicke. Jedenfalls bis ihn ein Albtraum weckte und er die fürchterlichen Seelenqualen erneut erdulden musste.

Ein Schlummer hatte ihn gerade mit sich in die Dunkelheit hinüber gerissen. Ein Geräusch ließ ihn hochfahren und diesmal war es tatsächlich die Tür, die sich lautlos öffnete, eine Lautlosigkeit, die nur durch ein leichtes Rascheln gestört wurde, als der Kittel des Arztes sich am Rahmen der Tür rieb. Irgendetwas bohrte sich in das Gehirn des Jungen, er glaubte, etwas zu hören. Etwas, was niemand gesagt hatte, drängte sich in sein Gehirn und manifestierte sich zu einem klaren Gedanken.

...wie harmlos und klein er aussieht... So, die Spritze ist bereit...

Der Junge versteifte sich, als er den Gedanken klar zu hören glaubte.

»Bitte nicht«, winselte er, allerdings in einem Ultraschallbereich, den der Ara nicht hören konnte.

Der Blue schloss die Augen und verdrängte alle Gedanken, die sich in seinen Kopf stahlen und ihn quälten. Auch die fremden Gedanken, die er kaum einordnen konnte, von denen er nur wusste, dass sie nicht aus ihm selbst heraus entstanden waren, verdrängte er. Dafür drängten sich andere Bilder an die Oberfläche seines gemarterten Geistes. Er flüchtete sich in einen Tagtraum, in dem seine Schwester Trützy die wichtigste Person war. Mit ihr hatte er mit am meisten Zeit verbracht. Vielleicht deshalb, weil sie fast im gleichen Alter, fast im selben Moment geschlüpft waren.

Erste bewusste Erinnerungen aus ihrer Kindheit verdrängten die Bilder der Qual, die den Geist von Rijon marterten. Er sah gerade noch seine Mutter, die das Kinderzimmer verließ, seine Hände schienen das Spielzeug fast greifen zu können, das er fest umklammert hielt, keinen Augenblick loslassen wollte. Trützy griff nach dem Wesen, das in der kleinen Faust des Gatasers lag und versuchte, es dem Bruder zu entwinden. Kichernd balgten sie eine Weile um das Spielzeug, bis der Bruder, der einige Sekunden vor der kleinen Schwester geschlüpft war, ihr das Spielzeug überließ.

Eine andere Erinnerung drängte sich in den Vordergrund. Der Bildschirm des Computers erschien riesengroß, eine ganze Wand des Kinderzimmers hatte sich in einen Bildschirm verwandelt, auf dem die Stationen eines Spieles zu sehen waren. Eine Raumstation schwebte auf dem Bildschirm, eine Gestalt, die in ihrem Raumanzug auf die Station zu schwebte, war deutlich zu erkennen. Eine Schleuse öffnete sich, die Gestalt betrat die Station, offensichtlich auf der Suche nach Spuren und Hinweisen, die ihn weiterbringen würden. Konzentriert steuerte Rijon die Gestalt, während seine Schwester jede seiner Bewegungen aufmerksam verfolgte. Er würde dieses Thoregon schon finden, was auch immer es sein sollte, das das Ziel dieses Syntronspiels sein würde.

Die Gestalt seiner Schwester verblasste, als er einen Stich im Oberarm verspürte. Verzweifelt konzentrierte er sich auf die Erinnerung, wollte den Kontakt zu den Erinnerungen an seine Kindheit nicht verlieren. Es gelang nicht; die Kammer, die er zu hassen gelernt hatte, schälte sich aus den Bildern, der Mann mit der Maske war dicht über ihn gebeugt. Verzweiflung verwandelte sich langsam in Hass. Der Blue starrte in die Augen des Mannes, die als einziges in der Maske zu erkennen waren. Seine Augen verschwammen in Tränen, in den Schleiern sah er noch einmal die Gestalt seiner Schwester, hörte sich selbst reden, ein Versprechen gebend, das er niemals brechen wollte. In feierlichem Ernst erklärte er seiner Schwester, dass nichts sie jemals trennen könnte. Er würde sie schon beschützen.

Das Bild zerplatzte wie eine Seifenblase und die Augen des Wissenschaftlers wurden wieder sichtbar. Rijon fokussierte den Blick seines vorderen Augenpaares auf den Sehschlitz in der Maske, hielt die Augen des Mannes einen Moment länger fest, als er eigentlich wollte. Schmerz durchzuckte seinen Körper, von der Einstichstelle ausgehend, die die Spritze des Wissenschaftlers hinterlassen hatte. Wut und Hass ballten sich in der Magengegend des jungen Blue sonnenheiß zusammen. Er hatte für einen Moment das Gefühl, als würde er innerlich verbrennen.

Wie einen Feuerball schleuderte er seinen ganzen Hass dem Mann entgegen, dessen Augen sich erschrocken weiteten, als in seinen Eingeweiden das Gefühl von Hitze zu explodieren schien. Der Raum schien zu erbeben, der Körper des Ara wurde erschüttert, langsam, wie in Zeitlupe, riss die Haut seines Körpers auf, quollen die Augen aus der Maske hervor. Rijon beobachtete ungerührt, wie sich der Körper des Mannes in einer Explosion aufzulösen schien.

Dunkelheit senkte sich über seinen Geist und den Raum. Dunkelheit und Vergessen. In seinem Geist sah er wieder die Gestalt seiner Schwester. Sie spielten ein altes, terranisches Spiel. Stühle standen in der Mitte des Raumes, einer weniger, als sie alle zählten. Sie rannten zu den Klängen der Musik um die Stühle und immer, wen die Musik abbrach, versuchten alle, einen Platz zu finden.

Sein Tellerkopf senkte sich, seine Augen verschleierten. Träumend vergaß er alles um sich herum.

 

3. Zwischenspiel

14. März 1298 NGZ

Remus klopfte Jonathan kräftig auf die Schulter.

»Wir haben es geschafft!«, brüllte er und umarmte den Freund lachend.

Nebeneinander standen sie vor dem Ausbildungsleiter, der ihnen die Urkunde in die Hand drückte. Die Grundausbildung war beendet, auf den Urkunden standen nicht nur ihre Leistungen sondern auch ihre besonderen Verdienste aufgelistet. Mit diesem Patent in der Hand würden sie es in der neugegründeten Flotte auf Mankind weit bringen können.

Der Ausbilder schüttelte ihnen ohne jegliche Regung die Hand, aber in seinen Augenwinkeln zeichnete sich ein verräterisches Funkeln ab. Natürlich wusste auch er, dass sie zu den besten Absolventen ihres Jahrganges zählten. Er schüttelte wortlos auch Jonathans Hand, schickte sie dann zurück in die Reihe der Absolventen. Nichts deutete darauf hin, dass Alcanar Benington seine beiden besten Kadetten eigentlich hasste.

Aufgrund ihrer Intervention wurde er zum Hauptmann degradiert. Sie hatten sich seinem unmenschlichen Drill nicht gebeugt. Nun hatten sie die Grundausbildung und mit dem heutigen Tage auch die theoretische Grundausbildung beendet. Somit würden sie für den Rest ihrer Ausbildungszeit ein Kommando über einen Space-Copter erhalten und relativ selbständig arbeiten.

Geduldig warteten beide, bis auch der letzte seine Urkunde erhalten hatte.

Kein Zuschauer folgte der Zeremonie, zu alltäglich waren Auszeichnungen dieser Art geworden. Die Flotte brauchte viele neue Mitglieder, deshalb wurden in diesen Tagen immer wieder Menschen mit ihren Urkunden ausgezeichnet, eine Tatsache, die kaum noch Interesse weckte. Natürlich waren aber die engsten Verwandten mit dabei. Uthe gab ihrem Gemahl einen Kuss, während Jonathan von Mathew Wallace und Jan Scorbit gratuliert wurde. Dann gingen sie wortlos auf den Space-Copter zu, der ihr neuer Arbeitsplatz werden sollte.

Jonathan lehnte sich im Sessel des Space-Copters zurück und erinnerte sich an die Zeremonie, die ihnen beide großen Spaß gemacht hatte. Er warf einen Blick zu Remus hinüber, der den Space-Copter sicher im Griff hatte und über der nächtlichen Stadt New Terrania in Position hielt. Das neu entwickelte Gerät erwies sich als sehr effizient. Sie hatten schon drei Verbrecher dingfest machen können und nutzten die technischen Möglichkeiten des Flugkörpers dazu voll aus.

Erst vor kurzem hatten sie bei einem Bankraub gleich mehrere Verbrecher einfangen können, die vollkommen verblüfft gewesen waren, als plötzlich der Copter wie aus dem Nichts über ihnen geschwebt war, ein Licht sie erfasst und geblendet hatte und aus dem Lautsprecher Anweisungen in der Lautstärke eines Orkans auf sie hernieder gedonnert waren. Vollkommen schockiert hatten sie sich widerstandslos verhaften lassen. Jetzt belegten sie gemeinsam eine Zelle im städtischen Gefängnis, das sich dank den Coptern langsam füllte. Aber die Straßen der jungen Stadt New Terrania wurden dafür auch immer sicherer.

Remus lenkte den Copter wortlos, Jonathan schwang die Beine hoch und legte sie auf das Schaltpult vor sich. Gemütlich beobachtete er die Monitore, die ihm die Straßen der Stadt unter ihm zeigten, allerdings nicht im Dunkeln, sondern genauso, als wäre es heller Tag. Remus schüttelte nur leicht den Kopf. Solange der Freund seinen Job machte, sollte es ihm egal sein. Schweigend konzentrierte er sich wieder auf die Steuerung.

 

4. Das Schreckenskabinett des Michael Shorne

13. März 1298 NGZ

Michael Shorne knetete besonders heftig den Ball in seiner Hand. Er malte außerdem nervös mit den Zähnen. Sein Blick war starr auf den Bildschirm gerichtet, auf dem sich gerade zum fünften Mal der Arzt in seine Bestandteile auflöste.

Doktor Mendus Harvoon, der von Shorne zum Chefwissenschaftler ernannt worden war, beobachtete seinen Chef besorgt. Auch ihm war klar, dass die Szene einen herben Rückschlag bedeutete. Andererseits hatten sie bisher noch kein solches Ergebnis bei ihren Forschungen erzielt. Rijon war auf jeden Fall die beeindruckendste Erscheinung unter all jenen, die bisher in dieser Klonfabrik herangezüchtet worden waren. Schwache Begabungen auf parapsychischer Ebene konnten sie immer wieder, mittlerweile fast willkürlich, erzeugen. Aber nicht so einen Supermutanten, wie der kleine, unscheinbare Blue zu sein schien.

Bisher waren Mutanten unter den Jülziisch eine eher ungewöhnliche Erscheinung. Rijon war ein Mutant, wie er bisher noch nicht aufgetaucht war, seine zerstörerische Kraft nur vergleichbar mit Goratschin, dem Zündermutanten, der nur mit der Kraft seiner Blicke eine kleine, begrenzte, atomare Explosion erzeugen konnte.

Auf den Bildschirmen zeichnete sich eine in seiner zerstörerischen Kraft ähnliche Erscheinung ab. Nur war es in diesem Fall mehr eine Erschütterung der Strukturen, die den Raum selbst ausmachten, fokussiert auf genau die Stelle, an der sich der Arzt aufgehalten hatte. Er zerstob in einer Wolke aus rotem Blut und zerquetschtem Fleisch. Außer einem Schmierfilm an den Wänden blieb nichts von ihm übrig.

Sollten diese Aufnahmen jemals nach außen dringen, dann würde Shorne große Probleme bekommen. Und nicht nur der Begründer der SHORNE INDUSTRY, sondern ein ganzer, großer und bedeutender Zweig der Shorne-Werke, der sich mit genetischer Forschung beschäftigte, würde vermutlich ebenfalls in Verruf geraten. Was Shorne hier tat, war eigentlich nur noch mit den verwerflichen Gen-Experimenten der Cantaro zu vergleichen.

Der Industriemanager räusperte sich und stellte das Kneten des Balls ein. Er drehte sich langsam in Richtung des Mediziners, der ihn gespant musterte. Shorne schien zutiefst beeindruckt, eine Regung, die an ihm selten zu beobachten war. Gleichzeitig aber konnte man auch eine unerwartete Angst in seinen Augen erkennen, die langsam, zögerlich, aus dem Hintergrund seiner Augen hervor zu lodern schien.

»Was haben Sie mit dem kleinen Kerl angestellt?«

Die Stimme des Managers klang neutral. Trotzdem war der Unterton nicht zu überhören, der dem Ara sehr deutlich machte, dass er besser sehr vorsichtig war.

»Nun, wir haben ihn mit den üblichen Medikamenten behandelt. Das allein hätte ihn allerdings nicht in dieser unglaublichen Weise entarten lassen. Wir haben außerdem ein neues Serum an ihm getestet, das auf eine Weise angeschlagen hat, die wir so nicht erwartet hätten. Ich möchte Sie nicht mit den Einzelheiten langweilen.«

»Das ist auch besser so. Erklären Sie mir einfach, was aus ihm geworden ist.«

»Die Medikamente haben bisher brachliegende Teile seines Gehirns aktiviert. Der Parasektor ist auf eine Weise stimuliert worden, dass die Instrumente fast verrückt spielen, wen wir sie in seine Nähe bringen. Besonders intensive Ergebnisse erzielen wir, wen wir auf Telepathie und Telekinese untersuchen. Offensichtlich verfügt er auch über Fähigkeiten der Strukturerschütterung, obwohl die Apparaturen das bisher nicht bestätigen. Aber außer ihm kann keiner den Arzt auf diese Weise vernichtet haben.«

Für einen Moment senkte er den Kopf, riss sich dann aber zusammen. Er machte sich klar, dass er selbst an Stelle des Arztes hätte sein können, und das erschreckte ihn schon. Er sah aber auch den Blick seines Chefs, der ihm besonders deutlich machte, dass er sich besser auf seine Ausführungen konzentrierte.

»Andere Fähigkeiten konnten wir noch nicht feststellen, aber die Ausstrahlungen im Para-Sektor seines Gehirnes legen nahe, dass da möglicherweise noch mehr sein könnte. Sie sind viel zu stark, als dass sie nur für die genannten Fähigkeiten da sein könnten.«

Der Ara wandte sich der Szene auf dem Bildschirm zu, die in einer Endlosschleife mittlerweile zum vierzehnten Mal wiederholt wurde. Er erschauderte, als er die Einzelteile seines Kollegen gegen die Wand klatschen sah. Teile des Mannes landeten im Gesicht und auf dem Körper des kleinen Blue, der nicht einmal zuckte. Nur kurz kniff er seine Augen zusammen, dann sank er wieder gegen die Wand und versank in der Agonie, die seinen bisherigen Aufenthalt in der kleinen Zelle begleitete, seit er dort gelandet war. Er schien sehr verzweifelt zu sein, die Aktivitäten in seinem Gehirn legten nahe, dass er ständig an Dinge dachte, die ihn von seiner Gefangenschaft ablenkten. Harvoon konnte ihn verstehen.

Für einen Moment verblüffte es ihn, dass der Industrieboss nichts sagte, obwohl sein verantwortlicher Arzt verstummt war und nicht weiter redete. Er warf Shorne einen Seitenblick zu und sah, wie der Mann nachdenklich über sein Kinn streichte. Offenkundig rechnete er sich bereits aus, was ihm der kleine Supermutant einbringen würde.

Der Ara wollte nicht wissen, was im Gehirn des Mannes wirklich vorging. Vermutlich hätte es ihn nicht verwundert, wen er Telepath gewesen wäre und seine Gedanken gelesen hätte, die ihm genau das verraten hätten, was er ohnehin erwartete. Shorne sah in dem kleinen Blue einen Machtfaktor, den er einzusetzen gedachte, wen es ihm zum Vorteil gereichte.

Er warf einen Blick in Richtung des Aras, dann blickte er wieder auf den Bildschirm. »Im Augenblick ist der Kleine noch sehr ruhig. Er scheint sich mit seinem Schicksal aber noch nicht abgefunden zu haben. Verwenden Sie alle Mittel, die Sie kennen, um ihn in unserem Sine zu konditionieren. Beeinflussen Sie ihn, machen Sie ihn zu einem treuen Soldaten der SHORNE INDUSTRY. Er soll ein Werkzeug für mich werden, ein wichtiger Faktor in meiner Bilanz. Er wird mir noch sehr viel nützen.«

Befriedigung malte sich auf seinen Gesichtszügen, er drückte für einen Moment sehr sanft seinen Knetball, dann bearbeitete er ihn wieder wild.

»Wir haben noch andere Erfolge zu verzeichnen«, meinte der Wissenschaftler. »Nichts ganz so spektakuläres wie Rijon. Aber immerhin erwähnenswert. Wollen Sie die Figuren sehen?«

Shorne blickte gelangweilt. Auf der anderen Seite wollte er sich einen eventuellen Erfolg nicht entgehen lassen. Zögerlich nickte er, wandte sich zu weiteren Bildschirmen, auf denen andere Zellen zu sehen waren. Harvoon machte ihn auf eine davon aufmerksam.

Eine sehr attraktive Terranerin, rotes Haar, schlanke Figur, lag auf einer einfachen Pritsche und schlief augenscheinlich.

»Jeanne Blanc. Sie stammt aus der französischen Normandie. Leider hat sie einiges über die illegalen Experimente herausgefunden, was sie nun wirklich nichts anging. Wir haben sie daraufhin zu einem Teil der Experimente gemacht.«

Die Worte des Ara klangen gefühlloser, als sie gemeint waren. Immerhin war er Chef dieser Abteilung geworden, weil er etwas von seinem Fach verstand. Wie alle Aras war er aber nicht grundsätzlich ohne Gefühl, er war nur besonders auf seine Arbeit konzentriert. Die Profite kamen eben an erster Stelle.

»Die möchte ich gerne mal kennen lernen.« Das Grinsen des Managers konnte man allenfalls als impertinent bezeichnen. Er starrte auf die Gestalt der jungen Terranerin, dann löste er sich gewaltsam von dem Bild. »Besuchen wir die Kandidaten lieber direkt.«

Der Ara nickte schweigend und führte den Gast in einen Korridor, der von der Zentrale der Station nicht weit entfernt lag. Die wichtigsten Experimente waren natürlich ganz in der Nähe untergebracht.

Vor einer Tür blieb er stehen. Shorne hielt ihn zurück und betrat den Raum allein.

Langsam richtete sich die Terranerin auf, warf einen Blick aus verquollenen Augen auf den Industriemagnaten. Die schlechte Behandlung der letzten Zeit, Operationen und Spritzen mit Substanzen, die ihren Körper schwer belastet hatten und in ihrem Inneren kaum vorstellbare Veränderungen erzeugten, hatten ihr nicht wirklich geschadet. Man konnte deutlich erkennen, dass sie eine wunderschöne Frau war.

»Erkennst du mich?« Shorne redete die Frau mit der weit weniger respektvollen Anrede an und machte somit klar, dass er sie nicht als seinesgleichen akzeptieren würde. Zumindest zunächst nicht.

»Wer würde das nicht.« Verloren ihr Tonfall, Angst schwang in ihrer Stimme mit, aber auch Trotz.

Befriedigt nickte der Mann. »Ich habe gehört, dass du aus Europa stammst. Terranerinnen sind etwas Besonderes. Und du bist etwas sehr besonderes, wie man mir sagte. Was kannst du?«

Ihr Blick aus den hellbraunen Augen war verletzt, als sie seinen unverschämten Blick erwiderte. »Ich kann deine Gefühle erfassen. Ich bin Empathin. Und was ich derzeit erspüre, gefällt mir überhaupt nicht.«

»Ich wäre an deiner Stelle nicht so überheblich. Immerhin bin ich derjenige, der an deiner Situation alles ändern kann. Sicher wirst du dich mir nicht versagen. Du wirst es nicht bereuen. Ich mache dich zu meiner persönlichen Favoritin. Du wärest immer an meiner Seite, zuständig dafür, die Gefühle meiner Geschäftspartner zu erfassen. Dafür bezahle ich dich sehr gut. Du wärest aber auch meine Begleiterin in anderer Hinsicht...«

Angewidert verzog sie das Gesicht. »Du bist ein Schwein, Michael Shorne. Du wirst niemals…«

Sie brach ab, als der Mann einen Schritt auf sie zu machte. Sie wich zurück, stieß aber gegen die Liege. Shorne wollte sich offensichtlich auf sie stürzen, ohne Rücksicht auf ihre Gefühle zu nehmen. Empört stieß sie ihn zurück.

Shorne blickte verblüfft, als er sich neben der Tür gegen die Wand prallen fühlte. Langsam rutschte er daran hinunter, verzog das Gesicht vor Schmerzen. Woher hatte diese kleine, zarte Gestalt so viel Kraft?

»Was war das?«

»Oh, möglicherweise habe ich vergessen, etwas zu erwähnen. Da sind auch noch einige telekinetische Fähigkeiten.«

Sie lachte laut auf und demütigte dabei den Industrieboss noch weiter, der in diesem Moment froh war, dass er den Ara nicht mit in die Zelle gelassen hatte. Er hoffte, dass nicht einer der Pfleger am Bildschirm mitverfolgt hatte, was geschehen war.

»Das wirst du bereuen, du kleines Luder!«

Jeanne stemmte die Hände in die Hüften und blickte auf den Industriellen nieder.

»Verlasse meine Kabine, sonst werde ich meine Hände um deinen Hals legen, meine mutierten Sine auf deinen Adamsapfel konzentrieren und ihn langsam zerquetschen. Verschwinde!«

Das letzte Wort brüllte sie auf eine Weise, dass der Industrielle erschrocken zusammenzuckte. Das war offensichtlich nicht so gelaufen, wie der Mann sich das vorgestellt hatte.

Wie ein geprügelter Hund verzog sich der Industrielle, verließ die Zelle. Es sah mehr wie ein Rückzug aus.

Er ließ eine Gefangene zurück, die unglücklich den Kopf senkte. Sicher hatte sie ihre Situation damit nicht verbessert. Trotzdem bereute sie höchstens, dass sie dieses Monster nicht getötet hatte. Verloren sank sie auf das Lager nieder. Welche Demütigungen würden sie wohl noch erwarten?

Shorne trat aus der Zelle. Er hatte sich wenigstens soweit wieder hergerichtet, dass man nicht auf den ersten Blick erkennen konnte, was passiert war.

Trotzdem konnte der Ara erkennen, dass der Industrielle innerlich kochte. Er konnte es nicht verhindern, dass ein Gefühl der Befriedigung in ihm aufkam. Offensichtlich klappte auch bei ihm nicht immer alles, wie er es sich vorstellte. Und die Terranerin war offenbar ein Faktor, der nicht in seinem Sine tätig werden wollte.

Shorne ging nicht auf seine Niederlage ein. Er warf dem Ara einen fragenden Blick zu. »Der nächste? Wo ist seine Zelle, wie heißt er und was kann er?«

»Hank Lane. Er war auf der Erde als Wrestler tätig. Das sind diese komischen Typen, die spektakuläre Aktionen im Ring zeigen und eigentlich nur so tun, als würden sie sich schwer verletzen wollen. Er war ein Profi, bevor er mit uns nach Mankind kam.«

»Ich weiß, was Wrestling ist. Die Liga gehört mir. Ohne mich wäre The Asteroid ein Nichts.«

Grinsend ging er neben dem Ara her. Wenigstens ein Feld, in dem er das Sagen hatte und in dem niemals jemand ihm widersprechen würde.

»Man kann nicht sagen, dass er über besondere Fähigkeiten verfügt. Derzeit nicht, heißt das. Er leidet noch unter den Folgen einer Operation. Sehen Sie selbst.«

Er ließ eine der Türen zur Seite gleiten und betrat die Zelle. Auf der Pritsche lag eine Gestalt, die nur noch entfernt an einen Menschen erinnerte. Das Gesicht des Mannes war grausam verformt, wirkte wie der Schädel eines Wolfes. Ein Grunzen drang aus dem deformierten Rachen des Mannes.

»Wir haben ihn mit Tier-Genen behandelt. Deshalb haben sich seine Muskeln überproportional entwickelt. Er hat die Kraft eines Bären. Außerdem hat er einen Instinkt, wie ein Tier. Wir haben ihm den Namen Wulf gegeben.«

»Aha. Wie auch immer, er ist im Augenblick wohl nicht ansprechbar. Schauen wir uns den nächsten an.«

Die Tür glitt hinter dem Ara und Shorne in die Wand und verriegelte sich. Direkt nebenan war eine weitere Tür, auf die der Ara zusteuerte.

»Brad Callos ist ein Teleporter. Deshalb haben wir den Raum auch zusätzlich gesichert. Er kann hier nicht verschwinden, denn er ist in einen Paratron eingeschlossen. Wir werden deshalb auch kaum in der Lage sein, an ihn heran zu kommen. Mit ihm reden werden Sie allerdings können.«

Sie betraten den Raum. Nur wenige Schritte hinter der Tür signalisierte leuchtend rote Farbe auf dem Boden und an der Decke, dass hier der Schutzschirm begann. Sicher setzte er sich in der Wand fort, aber das war nicht zu sehen. Shorne musterte die Gestalt, die auf der Liege lag und ihm den Rücken zukehrte. Er räusperte sich. Unbewegt beobachtete er, wie sich die Gestalt umdrehte und langsam erhob. Sekundenlang musterten sich die beiden Menschen.

Dann grinste der Teleporter. »Shorne. Welch zweifelhafte Ehre.«

Der Industrielle musterte den Terraner. »Ich glaube kaum, dass du in deiner Position ein solches Auftreten an den Tag legen solltest.«

»Möglicherweise nicht. Aber auf der anderen Seite bin ich schon in Schwierigkeiten. Ich habe nichts zu verlieren. Meinen Sie nicht?«

»Vielleicht hätte ich aber die Möglichkeit, deine Situation zu verbessern.«

»Indem Sie mich zu Ihrem Sklaven machen? Das glaube ich nicht, Shorne. Eines Tages werde ich hier herauskommen. Immerhin bin ich Teleporter. Dann werde ich Sie auffliegen lassen und zu meiner Frau und meinem Kind zurückkehren.«

»Das glaube ich nicht.«

Das selbstgefällige Grinsen des Industriellen warnte den Teleporter. Sein Gesicht verzog sich, eine Maske schieren Entsetzens starrte Shorne an.

»Was wollen Sie damit sagen?« Die Gesichtszüge des Mannes erbleichten, er wollte es nicht wissen.

»Sie sind schon lange tot. Glaubst du nicht, dass die beiden nicht schon lange versucht hätten, dich zu finden? Du hast niemanden mehr, außer mir. Arbeite mit mir zusammen, das ist besser für dich!«

Der Ara verbarg sein Entsetzen. Er bedauerte den Mann, konnte aber nichts für ihn tun. Jegliche Kraft schien aus dem schlanken Körper des Mannes zu entweichen. Er sank auf die Liege und verbarg das Gesicht in den Händen.

Dann blickte er auf, rot geränderte Augen hefteten sich auf Shorne. »Ich werde Sie kriegen! Und dann werde ich Sie töten! Ich hasse Sie...«

Shorne schüttelte den Kopf, konnten so viel Ignoranz einfach nicht verstehen. »Es war ein Unfall. Ich bin nicht Schuld an ihrem Tod. Tja, noch ein Blindgänger. Hoffentlich kommen wir auch mal an einen Mutanten, der weiß, was gut für ihn ist.«

»Ich glaube, das kann ich garantieren.«

Wir haben noch drei Mutanten, die man nicht als gelungene Versuche bezeichnen kann. Drei Chimären, die teilweise Tier, teilweise Mensch geworden sind. Ich stelle Ihnen die bewussten Personen vor. Die erste heißt Torytan.«

Harvoon öffnete die Tür zu einer weiteren Zelle und zeigte Shorne eine fledermausähnliche Erscheinung, die in einer Ecke der Zelle kauerte. Sie stieß einen Schrei aus, der aber unhörbar blieb.

»Wir haben selbstverständlich besondere Schallfelder installiert, den die Schreie des Mutanten liegen in einem Bereich, der für Ihre Trommelfelle sehr schädlich wäre. Außerdem kann er fliegen. Ich glaube kaum, dass er Ihnen widersprechen wird. Das Wesen ist sehr gefährlich und schwer zu bändigen, ist aber auf Sie konditioniert.«

»Gute Arbeit!«

»Der zweite heißt Jevvrus. Auch er ist eine Chimäre, die wir wohl kaum in den Griff bekommen können. Sie wird Ihnen allerdings folgen, wen Sie das für nötig halten. Er ist eine Mischung aus einem Topsider, einem Dumfries und einem Dscherro.«

Die Gestalt hatte ein Horn wie ein Dscherro auf dem Kopf und war sehr stämmig gebaut. Sie stieß einige dumpfe Laute aus. Die vier Arme des Wesens schlenkerten herum, griffen nach allem, was sich bewegte, einschließlich der Person selbst. Das Wesen konnte sich aber nicht verletzen, Fesselfelder hinderten es daran.

»Das letzte der Wesen ist eine Frau. Nun, man sollte sie besser als Amphibie bezeichnen. Kylaka ist eine Mischung aus einer Terranerin und einem Fisch.«

Shorne verzog angewidert das Gesicht. »Diese drei Wesen sind zwar beeindruckend, aber im Augenblick wohl kaum hilfreich. Richten Sie ihre volle Aufmerksamkeit auf Rijon. Bringen Sie ihn dazu, alles zu tun, was ich ihm befehle. Er wird wohl der einzige werden, der mir helfen kann.«

»Selbstverständlich.«

Shorne beendete die Führung und entfernte sich schnell aus der Genstation. Irgendwie war das alles sehr belastend für ihn, er wollte nichts damit zu tun haben. Abgesehen von den Ergebnissen, die sollten natürlich in seinem Sine sein.

*

Harvoon kümmerte sich sofort um den Blue, der sich unter der Behandlung vor Schmerzen krümmte. Menschen oder Aras allerdings schickte Harvoon nicht mehr in die Zelle. Er überließ die Behandlung einem Roboter.

Rijons Augen weiteten sich. Er wandte sich von dem Roboter ab, der plötzlich vor ihm auftauchte. Seine nach hinten gerichteten Augen erfassten die Maschine, er konnte sie nicht aus den Augen verlieren. Er zitterte vor Angst. Er wollte nichts mit dem Roboter zu tun haben und konzentrierte sich wieder auf Bilder aus der Vergangenheit. Schemen trieben vor die Bilder, schienen sie verschleiern zu wollen. Der Blue wischte sie hinweg. Eine Nadel wurde in seinen Arm gesteckt, ein Serum drang in seinen Körper ein. Rijon konzentrierte sich auf die Gedanken an seine Schwester. Er versuchte, ihr Bild vor seinem geistigen Auge zu bewahren, konnte es aber nicht. Immer wieder drängte sich das Bild eines anderen Wesens vor das seiner Schwester. Ein Terraner, wie es schien, hinter ihm waren Galax-Zeichen abgebildet. Außerdem das Logo der Firma, für die sein Vater gearbeitet hatte. Shorne, so nannte sich der Mann wohl. Der Name entstand plötzlich im Kopf des jungen Jülziisch. Auf Bildschirmen, die in seiner Zelle angebracht waren, konnte er plötzlich Szenen erkennen, die diesen Mann in den unterschiedlichsten Positionen zeigten. Er schauderte. Er hasste diesen Menschen. Immer wieder bedrängten ihn die Bilder. Er verstand, dass dieser Mann verantwortlich war für die Experimente, die man mit ihm veranstaltete. Etwas verriet ihm, dass dieser Mensch Wesen züchten wollte, die Macht und Einfluss hatten, aber ihm hörig waren. Er wehrte sich gegen die Gedanken, die in ihm entstanden und alles übernehmen wollten. Fast verlor er das Bewusstsein. Er taumelte, kämpfte sich auf die Beine und presste sich gegen die Wand.

Panik kam in ihm hoch. Er versuchte, dem Roboter auszuweichen, der aber immer an seiner Seite blieb. Die Nadel steckte in seinem Körper. Er drängte den Roboter zurück, setzte dazu seine telekinetischen Fähigkeiten ein. Er wehrte sich gegen den Roboter und versuchte, auch den Bildschirmen auszuweichen. Er schloss die Augen, hatte aber die Bilder immer noch vor seinem geistigen Auge. Er konnte seine Schwester nicht mehr erkennen.

Verzweiflung drohte ihn zu übermannen und plötzlich verschwamm die Umgebung vor seinen Augen. Die Umrisse der Zelle veränderten sich, wurden durchscheinend, gewannen allerdings wieder an Substanz. Rijon wünschte sich die Wände weg und eine andere Umgebung herbei. Dabei hatte er allerdings keine konkreten Vorstellungen von seinem Ziel, er wollte einfach nur weg. Alles verschwamm vor seinen Augen, ungezielt sprang er aus der Zelle heraus.

Der Ara Harvoon sprang auf und schlug auf den Alarmknopf, als sich plötzlich der Körper des Jungen in Nichts auflöste.

»Ein Teleporter!«, schrie er den Wachen entgegen, die in die Zentrale gestürmt kamen. »Was kann dieser kleine Teufelsbraten eigentlich nicht?«

Der kleine Junge war nirgends mehr zu sehen. Er war in der ganzen Station nicht aufzufinden. Offensichtlich halfen ihm seine telepathischen Fähigkeiten dabei, den suchenden Wachmannschaften auszuweichen. Und seine neugewonnenen Fähigkeiten der Teleportation ließen ihn immer wieder verschwinden.

Lange Zeit verbrachten sie damit, den Mutanten zu suchen. Die Nacht brach herein, niemand konnte den Jungen entdecken.

 

5. Ausbruch der Mutanten

Mankind, 14. März 1298 NGZ

Der Jülziisch kauerte auf dem Boden der Zelle. Jeanne wusste nicht, was sie tun sollte. Wen die Wachen auf die Bildschirme blicken sollten, dann würden sie den jungen Blue erkennen können. Sie deckte seinen Körper mit einer Decke von ihrer Liege zu. Offensichtlich kam niemand auf die Idee, sich mit den Bildschirmen näher zu befassen. Oder Manipulationen an den Kameras waren doch möglich und sie zeigten im Augenblick nichts weiter an.

Der Blue schluchzte leise. Jeanne nahm den kleinen Körper in die Arme und wiegte ihn sanft, so lange, bis sich das Wesen beruhigt hatte. Stammelnd erzählte es seine Geschichte, nannte immer wieder einen Namen.

»Trützy«, stöhnte er.

Jeanne brachte aus ihm heraus, dass das seine Schwester war. Der kleine Blue suchte nach seinen Eltern und nach seinen Geschwistern. Sie waren sicher auch in der Station, irgendwann einmal waren sie das sicher gewesen. Ob sie allerdings noch lebten, war wohl eher zweifelhaft.

»Bring mich hier heraus«, flüsterte die Terranerin.

Sie fixierte das vordere Augenpaar des Jülziisch und zwang ihn dazu, über die derzeitige Situation nachzudenken. Für einen Moment schaffte sie es, ihn aus seiner Lethargie zu reisen. Die Umgebung verschwamm vor ihren Augen und sie landeten in einem anderen Raum in der Station. Nicht bei anderen Wesen, aber an einem Ort, an dem sich zumindest niemand aufhielt.

»Wir werden deine Familie schon finden«, flüsterte die Terranerin. Sie zog den Gataser in eine dunkle Ecke in dem Raum und dachte nach. Dann stieß sie den Blue an. »Setz deine Telepathischen Fähigkeiten ein. Hör dich um und versuche herauszufinden, wo sich die Labors befinden. Vielleicht finden wir heraus, was sie mit deinen Eltern gemacht haben.«

Minutenlang herrschte Schweigen. Dann löste sich der Raum um sie herum wieder auf, sie landeten in einem Labor. Wirklich daran gewöhnen, auf diese Art und Weise immer wieder den Standort zu wechseln, würde sie sich wohl nie. Aber es war auf der anderen Seite auch eine sehr angenehme Art der Fortbewegung.

Sie blickte sich um und erstarrte, als sie in einem der Tanks eine vertraute Gestalt erblickte.

Joak Cascal, durchzuckte es sie. Sie haben ihn auch hierher gebracht.

Dann aber dachte sie nach. Wenn der Terraner verschwunden sein würde, dann hätte man ihn sicher schon gesucht. Und die Terraner waren sehr gründlich in dieser Frage. Sie hätten ihn sicher auch gefunden, mit der Hilfe eines Mutanten wie Gucky aufgespürt. Und diese Station geschlossen. Und sie befreit. Das aber war nicht geschehen. Das bedeutete, entweder war die Entführung des Terraners noch nicht lange her, oder irgendetwas anderes war hier geschehen.

Ein anderer Tank war neben dem von Cascal. Die Terranerin ging zu ihm hinüber. Ein Somer lag darin. Sam war der einzige Somer, den Jeanne kannte.

Sie winkte den Blue zu sich. »Rijon, wer sind diese Wesen? Kannst du ihre Gedanken erfassen?«

»Nein.« Der Blue schüttelte den Kopf. Er sah verstört aus. »Die Gedanken dieser Wesen sind kaum greifbar, irgendwie unfertig, nicht ausgereift. Sie sind noch im Wachstum. Sie sind jünger als ich.«

Verwirrt hielt der Junge inne. Das konnte nicht sein, sie waren schließlich Erwachsene.

»Klone«, flüsterte die Terranerin. Jeanne sank gegen einen der Tanks. »Die klonen diese Wesen. Die wichtigsten zumindest. Wir müssen das den Behörden melden. Wir müssen sie alarmieren!«

Weitere Tanks standen in dem Raum. Uwahn Jenmuhs und der Marquês schienen auch zu den Geklonten zu gehören. Andere konnte sie nicht finden, den der Blue griff nach ihrer Hand und sie entmaterialisierten erneut.

*

Ein einsamer Ara saß vor Bildschirmen, die sein Gesicht in dem dunkeln Raum geisterhaft erleuchteten.

Sie hatten den kleinen Blue immer noch nicht gefunden. Dazu hatten sie feststellen müssen, dass noch eine weitere Mutantin nicht mehr in ihrer Zelle war. Offensichtlich waren sie nun zu zweit auf der Flucht.

Shorne ahnte noch nichts davon, der Ara hatte noch nichts weiter gemeldet. Er wollte diese Krise allein bewältigen, das würde er sicher leicht schaffen. Sie mussten nur die beiden irgendwann einmal lokalisieren. Dazu ließ der Ara mittlerweile Detektoren beschaffen, die Mutanten aufspüren können würden. Dass diese Orter nicht sofort verfügbar waren, war eigentlich unverzeihlich. Das würde sich aber bald ändern. Wen sie erst einmal da waren, würden die beiden Ausreißer schnell gefasst werden. Dann würde man solche Spürer überall installieren und ein solcher Vorfall würde sich nicht mehr wiederholen.

Seine Arme fühlten sich schwer an. Er wurde langsam müde. Vielleicht sollte er einfach ins Bett gehen und die Suche den Wachen überlassen, er konnte ihnen ohnehin nicht helfen. Er wollte sich erheben, konnte es aber nicht. Wie gelähmt saß er auf dem Stuhl, konnte sich nicht bewegen. Verzweifelt versuchte er, die Hände frei zu bekommen. Es ging nicht.

Langsam, wie in Zeitlupe, bewegte sich der Stuhl. Er rutschte einen halben Meter zurück und drehte sich dann langsam. Eine Gestalt tauchte im Blickfeld des Aras auf, die schlanke, sehr schöne Gestalt einer Frau, die er kannte. Jeanne, eine der flüchtigen Mutanten. Sie war aber nicht sein Problem, denn nur einen Augenblick später tauchte in seinem Blickfeld der Tellerkopf eines Blue auf. Die Mundöffnung an dem spindeldürren Hals war zu einem Grinsen verzerrt, das allerdings sicher nicht als Grinsen gedacht war. Der Ara konnte die Wut des Jungen spüren.

»Meine Eltern, wo sind sie? Sag es mir!«

Bedauern entstand in dem Ara, er blickte mitleidig auf den Jungen. »Ich werde dir alle Daten zugänglich machen. Lass mich nur an den Computer.«

Die Terranerin schüttelte den Kopf. »Sag uns einfach, wie wir da hinein kommen. Den Rest machen wir schon.«

Sie übernahm die Eingabe der Daten und ließ die Akte auf dem Bildschirm erscheinen. »Hier ist es. Ich werde den Ara übernehmen.«

Sie setzte nun ihrerseits die telekinetischen Fähigkeiten ein, über die sie verfügte. Der Blue trat an den Bildschirm und las die verfügbaren Daten.

»Nein«, flüsterte der junge Blue. Er konnte nicht verstehen, kaum nachvollziehen, wie jemand so grausame Dinge tun konnte. Der Ara hatte versucht, seine Eltern mit Zentrifaalern zu vermischen. Sie waren bei diesen perversen Versuchen gestorben. Auch seine Geschwister lebten nicht mehr. Der Blue trauerte stumm um seine Familie, dann entdeckte er noch einen Hinweis. Trützy war noch am Leben! Sie wurde in einem der Labore am Leben erhalten. Irgendetwas schien mit ihr nicht zu stimmen. Er ließ die Akte vom Schirm verschwinden und näherte sich dem Ara.

»Du bist ein Monster.« Seine Stimme war ruhiger, als er sich fühlte. Er konzentrierte sich auf den Ara und drückte seinen Adamsapfel zusammen. Jeanne konnte es nicht verhindern, allerdings versuchte sie es auch kaum. Jegliches Gefühl erlosch in dem Blue, als er mit ansah, wie sich der Ara röchelnd auf dem Boden wand. Er litt, konnte nicht mehr reden, kaum noch atmen. Der Tod griff nach ihm.

Jeanne beobachtete die Szene entsetzt. Sie konnte kaum fassen, dass das Kind zu solchen Taten fähig war. Was mussten sie ihm angetan haben, dass so etwas in ihm entstehen konnte?

Grausamkeit im Blick, trat der Blue ganz dicht vor den Ara, der sich auf dem Boden wand. Er setzte seine Fähigkeiten der Strukturerschütterung ein und ließ einen Teil des Körpers des Aras explodieren. Nur das Bein löste sich in einen roten Regen auf. Dann das andere. Dann die beiden Arme. Schließlich der Kopf. Nur der Rumpf blieb übrig, den der Blue nicht mehr beachtete. Er griff nach der Hand der Terranerin, die sich nicht bewegte und nur entsetzt auf die Überreste des Aras starrte.

Der Raum verschwand, ein Labor erschien vor ihren Augen.

Jeanne wusste nicht, was sie mehr entsetzte. Das Verhalten des Blue, oder das der Gen-Manipulatoren, denen sie in die Hände gefallen waren. Die Gestalt einer jungen Blue jedenfalls würde ihr keine Antwort geben können, denn ihr Bewusstsein war fast erloschen. Lebenserhaltungsmaschinen sorgten dafür, dass die Organe der Blue noch funktionierten. Eine Haut schien sie nicht mehr zu haben, jedes einzelne Organ lag blank. Auch das Gehirn der Blue. Ein Bewusstsein schien aber noch vorhanden zu sein.

Der Blue bestätigte, dass er Gedanken von ihr empfangen konnte. Sie dachte über ihre Kindheit nach und sie dachte an Rijon. Der Blue konnte es kaum ertragen, seine Schwester so zu sehen. Er sank auf die Knie und übergab sich. Fast verlor er das Bewusstsein und blickte die Terranerin nur noch hilflos an.

Sie konnte ihm nicht wirklich böse sein, dass er den Ara getötet hatte. Er war ein Monster, wie alle anderen Mitarbeiter, wie Shorne selbst. Unglaubliches geschah in dieser Station, das hatte sie am eigenen Leib erfahren müssen. Sie verstand den kleinen Kerl vollkommen, der da am Rande des Tanks kniete, in dem seine Schwester lag und sich nicht bewegte. Oder besser die Überreste der kleinen Gestalt.

»Du kannst sie nicht retten«, äußerte die Terranerin. Sie hasste sich dafür. Aber sie musste ihn aus seiner Lethargie reisen.

»Nein, ich werde sie nicht töten. Sie wird das überstehen.« Trotzig klammerte sich der Blue an die Hoffnung, die ihn erfüllte.

Verzweifelt blickte er auf die Organe, die frei in dem Tank an den Stellen schwebten, wo sie auch im Körper sein mussten. Aber einen Körper konnte er nicht erkennen.

Ihre Gedanken drehten sich weiterhin um Rijon, aber der Blue schaffte es nicht, sich bemerkbar zu machen. Sie konnte nichts und niemanden um sich herum erkennen. Dann allerdings schaffte es der Blue doch, in ihren Geist vorzudringen.

»Rijon...« Die Stimme war wie ein Windhauch, schien nur im Geist der Terranerin zu entstehen. »Beschütze mich! Du hast es mir versprochen. Erlöse mich davon...«

»Nein«, flüsterte er.

»Doch«, sagte die Terranerin in erschreckender Deutlichkeit. »Tu es für sie, sie will es so.«

Rijon weinte, aber seine Hand streckte sich nach der Bedienungseinheit der Lebenserhaltungssysteme. Er legte den Hebel um, unterbrach die Energiezufuhr. Er tötete seine Schwester.

»Danke...« Nur ein Hauch, ein letzter Gruß.

Trützy war tot.

»Sie werden es alle büßen«, flüsterte Rijon.

»Tu es nicht, es wird nicht helfen, wen du unschuldige Menschen tötest.«

»Niemand ist unschuldig.«

Er setzte seine telekinetischen Fähigkeiten ein, drückte die Terranerin an die Wand. Dann sperrte er sie in eine Kammer ein und rannte aus dem Labor. Er wollte sie alle finden, er wollte sie alle töten. Sie würden es ihm büßen.

Er hatte sie alle befreit, hatte auch einige gefunden, die sich ihm angeschlossen hatten. Jetzt würden sie es bereuen. Sie würden nicht mehr lange leben. Er richtete seine suggestiven Fähigkeiten auf die Mitarbeiter in der Station und impfte ihnen den Todesbefehl ein. Sie sollten sich alle selbst vernichten, leiden, für ihre Verbrechen sühnen, die sie an vielen Menschen und Fremdwesen begangen hatten.

 

 

 

6. In der Station

Jeanne richtete sich stöhnend auf. Zuerst hatte sie sich noch auf den Beinen halten können, aber die Kräfte des kleinen Blue waren dann doch zu viel geworden. Sie hatte das Bewusstsein verloren.

Langsam schob sie sich an die Wand, ihr Rücken berührte das kalte Material. Sie lehnte den Kopf dagegen, presste beide Hände gegen die Schläfen und stöhnte. Grausame Bilder schossen durch ihre Gehirnwindungen. Sie sah noch einmal den Körper des Bluesmädchens, oder besser, was davon übrig geblieben war. Es war nicht viel gewesen, nur Organe, die ein Gehirn versorgten. Ein nicht lebensfähiger Organismus, der aber trotzdem existierte, am Leben gehalten nur durch einen Tank, der die Organe wie eine Haut zusammenhielt.

Wozu dieses Experiment gedient haben sollte, war ihr nicht klar. Vor allem aber diente es dazu, den kleinen Blue zu quälen, ihn mehr und mehr zu einer Bedrohung zu verwandeln. Einer Bedrohung für jedes lebende Wesen. Dieses Kind hatte einen Hass auf jedes Leben entwickelt, mit dem er zu tun hatte, weil seit kurzem sein Leben nicht mehr normal war, auf eine Art verändert, dass er einfach jeden für einen Feind halten musste. Nur bei ihr hatte er kurzfristig eine Ausnahme gemacht, vermutlich deshalb, weil sie ihm geholfen hatte, als er in ihrer Kabine gelandet war. Hoffentlich würde er sich daran erinnern.

Sie stemmte sich hoch, kam auf die Beine, wandte sich zur Tür um. Ihre mutierten Sine richteten sich auf die Tür, griffen langsam, tastend, in den Mechanismus und bewegten kleine Teile, die wie Zahnräder ineinander griffen und den Verschluss öffneten. Der Blue hatte gewusst, dass sie sich befreien konnte. Trotzdem hatte er ihr nicht mehr angetan. Das war immerhin beruhigend.

Sie orientierte sich kurz, als sie den Raum verlassen hatte. Teleportieren konnte sie nicht, ohne den Blue war sie auf ihre Fähigkeiten der Empathie und der Telekinese angewiesen. Aber das reichte zumindest, um sich gegen etwaige Feinde zu wehren und sie rechtzeitig zu erspüren.

Sie richtete ihre Fähigkeiten nach außen, ließ Gefühle an sich heran und erspürte die Schwingungen zweier Lebewesen, die nicht sehr weit entfernt waren. Mutanten, wie sie erkannte. Vorsichtig bewegte sie sich durch die Räume, an den Tanks vorbei, in denen absurde Monstrositäten schwammen, kaum als lebende Wesen erkennbar, entstellt oder durchaus als Mensch oder Außerirdischer zu identifizieren. Dann aber sicher das Ergebnis von Klonexperimenten, mit denen diese Verbrecher weiß ES was vorhatten.

Sie schüttelte sich, huschte schnell an den Kreaturen vorbei, die in den Tanks schliefen. Dann erreichte sie eine der Türen und öffnete den Mechanismus, was von außen kaum ein Problem darstellte. Die Tür glitt lautlos nach innen. Vorsichtig blickte sie auf die Pritsche. Der Lichtschein von außen erhellte den Raum nur bis zu einem gewissen Punkt, die Pritsche jedenfalls lag im Dunklen. Sie betrat den Raum und ging auf die Gestalt zu, deren Umrisse kaum zu erkennen waren.

Trotzdem berührte sie die Schulter des Wesens, das sich nur unwillig bewegte. Offensichtlich schlief es. Sie schubste ihn an, seine Emotionen waren sehr verschwommen, kaum zu identifizieren. Verzweiflung, Angst, Entsetzen, aber auch eine gewisse Schläfrigkeit, ein Fatalismus, den sie nur zu gut verstehen konnte.

Die Gestalt erwachte. Sie wirbelte auf der Liege herum, glitt zu Boden, kauerte vor der jungen Frau und zog die Lefzen hoch. Jeanne fuhr zurück, zog die Luft durch die Nase und war kurz davor zu schreien, biss sich aber auf die Lippen.

Als sie bemerkte, dass das Wesen nicht angreifen würde, wurde sie ruhiger. Sie kam aus einer leicht gebückten Stellung hoch, die sie eingenommen hatte, um den Angriff abzuwehren. Ohne ihre telekinetischen Fähigkeiten hätte sie da allerdings schlechte Chancen gehabt.

»Wer bist du?« Ihre Stimme zitterte. Mitleid nahm für einen Moment überhand, dann beherrschte sie sich aber.

Der Mensch mit dem Wolfsschädel hob die Nase, schnupperte für einen Moment in der Luft und beschloss dann offensichtlich, der Frau zu vertrauen.

»Wulf nennt man mich.« Seine Stimme war mehr ein Knurren, anscheinend war er mit seinem missgebildeten Rachen kaum in der Lage, Worte hörbar zu formulieren.

Offensichtlich war der Mann durchaus Intelligent. Und er kam ihr auch bekannt vor. Irgendwie jedenfalls, wen sie die Gesichtszüge auf sich wirken ließ, die noch aus dem Wolfsschädel hervorschauten, dann hatte sie das eindeutige Gefühl, dass sie ihn kennen musste.

»Eigentlich heiße ich Hank Lane.«

Ja, dachte sie, das ist dieser Wrestler. Oder besser, er war es einmal gewesen.

»Ich denke, wir sollten zusammen nach weiteren Insassen dieser Einrichtung suchen und sie befreien«, schlug sie vor.

»Einverstanden«, knurrte der Mann.

Gemeinsam machten sie sich auf den Weg. Jeanne nutzte ihre Fähigkeiten der Empathie aufs Neue und steuerte auf eine der nächsten Türen zu.

Wulf schnupperte und schaute verunsichert in eine andere Richtung, aber er folgte der jungen Frau. Offenkundig hatte er nichts dagegen einzuwenden, wohin sie ging, anscheinend war diese Richtung sicherer, als die andere, sonst hätte er sicher Alarm geschlagen.

Eine Tür zu öffnen, erwies sich nicht als Problem. Jeanne brauchte nicht einmal ihre telekinetischen Fähigkeiten zu bemühen, von außen ging es auch ohne, da waren die Türen nicht gesichert. Nur von innen waren sie blockiert.

Nur nützte das in diesem Fall nicht sonderlich viel. Der Insasse dieser Zelle war offenbar ein Teleporter, deshalb war seine Zelle zusätzlich mit einem Paratron gesichert. Die beiden Mutanten konnten zwar die Zelle von Brad Callos betreten, aber das war dann auch die Endstation. Ratlos standen die drei Personen vor dem Paratron, nur zwei davon auf der richtigen Seite.

»Wie kommen wir da durch?«

Wulf schnupperte, dann wandte er sich in Richtung der Wand. Er senkte den Kopf und rannte gegen das Stahlplastik, das sich unter dem Ansturm des kräftigen Mutanten verformte.

Jeanne erkannte, was er vorhatte, und verstärkte seine Anstrengungen noch telekinetisch. Teile des Stahlplastiks brachen aus der Wand und ermöglichten dem kräftigen Wolfsmenschen so, einen neuen Ansatz zu finden. Er riss weitere Teile aus der Wand und legte schließlich eine Leitung frei, die von der Steuerungseinheit des Schirmes an die Stelle führte, an der der Schirm begann. Offenkundig war hier eine Möglichkeit gegeben, den Energiezufluss zu unterbrechen. Von außen war das sicher eher möglich als von innen. Noch einfacher wäre es gewesen, direkt die Steuereinheit zu beeinflussen, aber die war nicht im Raum und auch nicht davor. Sie war irgendwo weiter weg und damit nicht erreichbar. Damit blieb nur die Leitung.

Jeanne griff mit ihren telekinetischen Fähigkeiten nach der Leitung und riss sie aus der Wand.

Der Wolfsmensch griff nicht nach der Leitung und überließ alles weitere der Telekinetin, die den Vorteil hatte, das Kabel nicht anfassen sondern nur mit ihrem Geist berühren zu müssen.

Es gelang ihr, das Kabel zu zerstören. Der Energiezufluss wurde unterbrochen und der Schutzschirm brach zusammen.

Jeanne sank stöhnend zu Boden. Wulf dachte zuerst, es liege an der Anstrengung, aber es steckte offensichtlich noch mehr dahinter. Er warf einen fragenden Blick auf die Frau, die sich auf dem Boden krümmte.

*

Brad Callos hielt sich nicht mit Formalitäten auf. Er kümmerte sich um die Frau. Er griff nach ihr und teleportierte mit ihr in die Zentrale der Station, wo er sie einem Medoroboter überließ. Ein Sprung zurück, er griff nach dem Wolfsmenschen, der nur einen Augenblick lang geschockt reagierte, dann sprang er mit ihm zusammen zu der Mutantin, die immer noch auf dem Boden lag und stöhnte. Aber sie war ruhiger geworden.

Konzentriert blickte sie ins Leere und ignorierte die beiden anderen Mutanten.

Achselzuckend wandte sich der Teleporter den Syntroniken zu und suchte nach Unterlagen über seine Familie. Er wollte wissen, ob Shorne die Wahrheit gesagt hatte, ob seine Frau und sein einziges Kind wirklich nicht mehr am Leben waren. Zu seiner Überraschung waren die Unterlagen nicht gesichert.

Er konnte nicht wissen, dass Jeanne und der Blue Rijon hier bereits gewesen waren und in die Datenbanken eingedrungen waren. Sie hatten alle Sicherungen beseitigt, so dass die Unterlagen nun offen für jeden zugänglich waren.

Konzentriert suchte er mit Stichworten nach den Namen seiner Familie. Er fand nur eine Akte, die seinen Namen trug. Er öffnete die Datei und überflog die Daten. Die meisten waren für ihn uninteressant und auch kaum verständlich, sie zeigten eigentlich nur, was man ihm alles angetan hatte, um ihn zu einem Teleporter zu machen. Offenkundig war man dabei sehr gezielt vorgegangen, was nahe legte, dass solche Forschungen von Shorne schon länger betrieben wurden. Oder besser von seinen Ärzten, die ihre Kenntnisse mit den Experimenten der Vergangenheit sicher noch weiter hatten steigern können.

Da war der Hinweis. Seine Frau und sein Kind waren in die Räume der Station geschafft worden, kurz nachdem er selbst hier gelandet war. Man hatte sich nicht lange mit ihnen aufgehalten; der Ara, der sie behandelt hatte, hatte sie als genetisch ungeeignet eingestuft. Minderwertiges Material, wie er sich ausdrückte. Callos ballte eine Faust und knallte sie auf den Tisch. Sie waren deshalb als Organbanken verwendet worden und retteten so manchem Mutanten das Leben, dessen Organe verschiedenen Belastungen nicht mehr gewachsen waren. Dazu mussten sie nicht unbedingt am Leben sein. Sie waren vermutlich kurz nach ihrer Einlieferung getötet worden. Von beiden war heute nichts mehr übrig geblieben, außer Einzelteilen in den Körpern anderer Mutanten.

Ein Unfall? Das war eiskalter Mord gewesen.

Angewidert wandte sich der Teleporter von den angezeigten Ergebnissen ab und wollte schon den Rechner ausschalten, aber dann ließ er es sein. Eine Welle der Trauer übermannte ihn. Tränen, die er schon versiegt glaubte, rannen über seine Wangen. Er schluchzte und bemerkte nicht, dass sich die beiden anderen näherten.

Jeanne legte ihm eine Hand auf die Schulter, er zuckte zusammen. Sie verstand zwar nicht, was den Mann belastete, aber angesichts von all den Dingen, die hier geschahen, konnte sie es sich denken – und empathisch fühlen.

»Beruhige dich, wir haben noch andere Probleme. Was, wen uns die Männer finden, die hier arbeiten? Immerhin sind wir hier im Allerheiligsten.«

»Lass sie ruhig kommen«, knurrte die heisere Stimme des Wolfsmenschen. »Ich werde sie mit Freuden erwarten.«

Callos erwachte aus seiner Trauer und blickte in die Augen der Mutantin. »Warum bist du zusammengebrochen, vorhin?«

»Aus zwei Gründen. Zum einen, wegen deiner Gefühle, die für mich als Empathin deutlich zu spüren waren. Das allein wäre es aber noch nicht gewesen. Da war noch ein anderes Gefühl, ein Gefühl, dass ich mich töten muss. Es kam aber nicht aus mir, sondern von außen. Ich verstehe nicht, was es gewesen ist. Aber es muss etwas mit den Menschen und sonstigen Wesen zu tun haben, die hier in dieser Fabrik sind. Sie müssen sich offensichtlich den Tod wünschen, einige von ihnen. Ich konnte mit Hilfe dieses Medoroboters diese Gefühle kontrollieren und schließlich aussperren. Es ist grauenhaft.«

Sie verstummte, senkte für einen Moment den Blick, dann heftete sie ihn auf den Teleporter. »Du sitzt gerade vor dem Terminal. Wir sollten alles Material aus den Rechnern holen, auf Datenspeichern ablegen und diese mitnehmen. Dann haben wir Beweismittel gegen Shorne und seine Fabrik in der Hand. Danach sollten wir machen, dass wir von hier verschwinden. Irgendetwas stimmt hier nicht. Wir sollten so schnell wie möglich von hier weg gehen. Rijon ist sicher noch hier.«

»Wer ist das?«, Callos reagierte verständnislos.

Jeanne schüttelte den Kopf. »Nicht so wichtig. Kümmern wir uns lieber um die Daten.«

Wulf schnupperte misstrauisch. Auch er schien zu spüren, dass etwas nicht stimmte. Er hatte sich sehr schnell in seine Rolle hineingefunden. Während Callos begann, nach bestimmten Dateien zu suchen, heftete Jeanne ihren Blick auf den Wolfsmenschen. Sie konzentrierte sich nur auf ihn und ließ seine Gefühle auf sich wirken. Nur für einen Augenblick, aber der genügte ihr. Der Wolfsmensch war bei weitem nicht so ruhig, wie er erschien. Und in diesem Augenblick machte sie auch eine dünne Tränenspur auf seinen Wangen aus, die in den Haaren auf seinem Gesicht kaum zu erkennen war. Sie verstand ihn sehr gut.

Sie beschloss, seine Privatsphäre zu respektieren und sich aus seinen Gefühlen herauszuhalten. Sie alle mussten mit dieser Situation fertig werden. Und sie alle mussten das alleine schaffen. Niemand würde ihnen dabei helfen. Sie waren zu Monstren geworden, auch wenn das bei einigen von ihnen äußerlich kaum zu erkennen war. Ihr Leben würde sich ändern, viele würden ihnen misstrauen und PsIso-Netze anwenden, um sich vor ihnen zu schützen.

»Such nach Dateien über Pläne, die Mitglieder der Regierung durch Klone zu ersetzen«, wies sie den Teleporter an, der ihr einen verblüfften Seitenblick zuwarf.

»Wie bitte?«

»Ich habe hier Personen gesehen, die kaum länger fehlen könnten, ohne dass es zu Suchaktionen kommen würde. Und wäre das der Fall gewesen, dann wüssten wir es längst, meinst du nicht?«

»Was für Personen?«

Sie berichtete kurz über ihre Abenteuer mit Rijon und stellte ihnen dabei auch den jungen Supermutanten vor, der sicher noch für Probleme sorgen würde. Sie hatte seine Drohungen nicht vergessen.

Beeindruckt schwieg Callos und suchte nach Dateien, die nähere Informationen darüber beinhalten würden. Es gelang ihm, einige Datenträger mit entsprechenden Informationen zu füllen. Dann deaktivierte er den Rechner. »Verschwinden wir, aber diesmal zu Fuß.«

Jeanne nickte und wies den Weg zur Tür. Dabei stolperten sie über den kopflosen Rumpf eines Aras, der auch keine Arme und Beine mehr hatte. Callos reagierte entsetzt, auch Wulf verharrte für einen Augenblick.

»Das ist Harvoon. Oder das, was von ihm übrig geblieben ist. Rijon hat sich auf grausame Weise an ihm für den Tod seiner Eltern und seiner kleinen Schwester gerächt. Ich kann ihn irgendwie verstehen.«

Trotz dieser Worte blickte sie angewidert auf die Leiche nieder. Dann stieg sie zusammen mit den beiden anderen über den Leichnam hinweg und verließ die Zentrale.

Kaum hatten sie den Raum verlassen, überfielen sie wieder diese Selbstmordgefühle, die überall in der Station zu sein schienen. Sie gingen aber nicht von ihr oder einem der beiden Begleiter aus, sondern von Ärzten und Pflegern und Schwestern, die in dieser Klinik beheimatet waren. Sie wollten sterben und legten Hand an sich. Sie empfing das Gefühl eines sterbenden und überließ sich für einen Augenblick diesem Gefühl, dann schüttelte sie sich.

»Da sind die Gefühle wieder.«

Sie merkte, dass die Gefühle alle einen Ausgangspunkt hatten und tastete sich langsam in Richtung dieses Ausgangspunkts. Die Hassgefühle, die sie empfing, lähmten sie für einen Moment.

»Es ist der Mutant«, keuchte sie. »Offensichtlich kann er noch mehr, als ich dachte. Bisher kenne ich nur seine Fähigkeiten als Telepath, Teleporter und Strukturerschütterer. Aber da muss noch mehr sein. Er muss auch noch als Suggestor fungieren. Er zwingt die Mitarbeiter der Station zum Selbstmord.«

Entsetzt blickten sich die drei Mutanten an. Der Teleporter sprang zurück in den Raum, den sie gerade verlassen hatten. Er holte ein Versäumnis nach und konsultierte die Überwachungseinrichtungen der Station. Auf einem der Schirme konnte er einen Blue mit drei merkwürdigen Gestalten erkennen. Die Chimären umgaben ihn, als wollten sie ihn beschützen. Und vermutlich taten sie genau das. Sie arbeiteten offensichtlich mit ihm zusammen.

Er prägte sich die Bereiche der Station ein, in denen er die vier Mutanten finden würde. Dann sprang er zurück zu den beiden anderen, die ungeduldig auf ihn warteten.

»Ich weiß, wo er ist.« Er nahm die beiden anderen Mutanten an der Hand und sprang in die Nähe der vier entarteten Mutanten.

Sie bogen um die Ecke und konnten gerade noch erkennen, wie eine fledermausähnliche Gestalt sich kurz in die Luft erhob, allerdings nur für einen Augenblick. Der Raum war für wirklichen Flug viel zu niedrig.

Er richtete seinen Blick in Richtung der drei Mutanten, konnte sie aber kaum erkennen, dafür waren sie noch zu weit entfernt und durch die Biegung geschützt, hinter der sie hervorlugten.

Dafür aber nicht die Schwester, die aus einer Tür gestürzt kam und verwirrt auf die vier Mutanten blickte. Sie griff an ihren Hals, als sie den Selbstmordimpuls empfing. Aber sie brauchte sich nicht mehr zu bemühen. Offensichtlich hatte der Fledermausähnliche ihr Erscheinen als Bedrohung empfunden und öffnete den Mund. Es war zwar nichts zu hören, aber dafür konnten sie sehen, wie die Gestalt der jungen Terranerin plötzlich wie mit einer Riesenfaust getroffen zurück flog und an die Wand krachte. Blut quoll aus ihrem Mund. Anscheinend war mehr passiert, als mit dem Aufprall zu erwarten war. Eine flüchtige Untersuchung zeigte, dass kein Knochen in ihrem Körper heil geblieben war.

»Ultraschall«, meinte der Wolfsmensch. Er schüttelte sich und wollte auf die vier Personen zustürzen.

Jeanne hielt ihn zurück. »Wir haben keine Chance gegen diese vier. Wir sollten verschwinden.«

Callos nickte zustimmend. Bevor sie verschwinden konnten, wurden sie allerdings von den anderen Mutanten entdeckt.

Rijon drehte sich nach den drei Mutanten um, nachdem er den Warnruf der Fledermaus empfangen hatte. Er sah die Gestalten und wandte seine Fähigkeiten an.

Der Teleporter verspürte ein Kribbeln in den Eingeweiden, das sich fast sekündlich verschlimmerte. Ohne zu zögern griff er nach den beiden anderen und sprang hinter den Blue. Er blickte auf die kleine Gestalt des Wesens, während Jeanne ihre telekinetischen Fähigkeiten einsetzte. Die Gestalt des Blue wurde durch den Gang geschleudert. Bevor sie allerdings die Wand erreichte, entmaterialisierte sie. Einen Sekundenbruchteil später stand sie wieder im Gang und blickte in ihre Richtung.

»Verschwinde!« Er blickte ruhig in ihre Richtung, sein Blick heftete sich auf die schlanke Gestalt der jungen Frau. Offenkundig wollte er ihr nichts tun, aber er wollte auch ihre Anwesenheit nicht dulden.

Sie nickte und griff nach den beiden anderen. »Gehen wir.«

Sie warf noch einen Blick auf den jungen Blue. »Lass sie leben. Ihr Tod wird nichts ändern.«

Ihr Blick verschwamm in Tränen, aber damit konnte sie den Blue nicht mehr erweichen.

»Sie werden dafür von mir bestraft werden. Und daran wird nichts vorbeiführen. Nun geh endlich.«

Er blickte auf die Wand und konzentrierte sich für einen Moment. Direkt neben ihnen brachen große Teile der Wand zusammen, tragende Teile des Gebäudes bebten, während mutantische Kräfte an ihnen zerrten.

Die drei Mutanten rannten schleunigst davon und sahen hinter und neben sich das Gebäude zusammenbrechen.

Rijon beobachtete ungerührt, wie sich das Gebäude nach und nach auflöste. Donnernder Lärm der zusammenbrechenden Gebäudeteile machte eine Unterhaltung fast unmöglich. Er hörte kaum, wie Kylaka ihm ins Ohr schrie.

»...verschwinden...« war das einzige, was er verstand. Er richtete seine telepathischen Fähigkeiten auf sie und nun verstand er sie. Sie wollte, dass sie sich absetzten, bevor das ganze Bauwerk über ihnen zusammenbrach.

Er nickte zustimmend und nahm sie an der Hand. Er entmaterialisierte und sprang mit der Fischfrau aus dem Gebäude. Dann kehrte er zurück und holte die beiden anderen. Aus einiger Entfernung beobachteten sie das Gebäude.

Rijon nahm nun keine Rücksicht mehr. Er schleuderte seine mentalen Feuerbälle auf das Gebäude und sah, wie es nach und nach zusammenbrach. Schließlich war nur noch ein Trümmerhaufen übrig. Im Geist des jungen Blue waren Todesschreie von sterbenden Menschen zu hören. Viele waren gestorben. Aber nicht alle. Trotzdem war es genug.

Der junge Blue zitterte am ganzen Körper. Er war hochintelligent und wusste sehr genau, was er getan hatte. Aber er wusste auch, dass er nicht anders konnte. Das Bild seiner Schwester, deren Organe in dem Tank schwammen, wollte nicht aus seinem Geist weichen. Er schluchzte.

Zusammen mit seinen drei Begleitern tauchte er unter. Kylaka übernahm die Führung, solange der Mutant in diesem Zustand war. Bald waren sie vom Tatort verschwunden.

*

Der Copter von Scorbit und Andrews war ganz in der Nähe, als es passierte. Fassungslos beobachteten sie auf den Bildschirmen, wie das Gebäude einstürzte. Sie sahen sich einen Moment lang entgeistert an, dann lenkten sie das Luftfahrzeug in die Nähe des Unfallortes. Sie konnten nicht mehr viel tun, als das Gebäude zusammenbrach.

In der Nähe sahen sie vier Gestalten, die auf einer Anhöhe standen. Sie flogen in diese Richtung und versuchten, an die Personen heranzukommen. Es gelang ihnen auch, aber dann sahen sie erstaunt, wie sich eine der Gestalten vom Boden löste.

Wie eine Fledermaus schwebte sie heran und öffnete den Mund. Schallwellen trafen den Space-Copter, der daraufhin abzusacken begann.

Scorbit zerrte an der Steuerung, dann brüllte er die Syntronik an. Sie reagierte nicht, schaffte es nicht, den Copter in der Luft zu halten. Hilflos mussten die beiden Piloten mit ansehen, wie die vier Gestalten verschwanden. Sie konnten nichts dagegen tun. Und das, obwohl sie mit einem Space-Copter das modernste und beste Mittel für die Verteidigung der Sicherheit auf den Straßen der Hauptstadt von Mankind zur Verfügung hatten.

 

7. Nach der Tragödie

Die beiden Unglückspiloten hatten sofort Verstärkung angefordert. Sie war auch gekommen, zusammen mit der Presse und einem Mann, den sie nun wirklich nicht sehen wollten.

Alcanar Benington, ihr heißgeliebter Ausbilder, hatte die Leitung der Operation übernommen. Und natürlich sparte er nicht mit Spott darüber, dass sie es geschafft hatten, gleich in einer der ersten Nächte ihres Einsatzes den Space-Copter zu verlieren. Andererseits konnte er kaum erklären, was eigentlich passiert war. Er gab aber immerhin zu, dass die Schäden durch Schallwellen kaum vorhersehbar waren.

Die Armee unterstützte die beiden Piloten bei der Suche nach Verletzten und wurde auch fündig. Viele Menschen hatten das Unglück aber nicht überlebt. Die ersten Verletzten, die sie fanden, lagen in der Nähe des Einganges und hatten deshalb Glück gehabt. Sie waren kaum von Trümmerteilen getroffen worden. Es handelte sich um drei Personen, eine Frau und einen Mann, sowie einen Menschen, der wie ein Wolf aussah. Die drei Personen wurden sofort in ein Krankenhaus gebracht, wo sie die beste Versorgung erhielten, die nur möglich war.

Schnell wurden die Trümmer durchkämmt und brachten immer mehr Tote zum Vorschein. Insgesamt waren 155 Wesen unter den Trümmern für immer begraben. Den Leiter der Fabrik, einen Ara namens Harvoon, fanden sie unter einigen Trümmern. Allerdings erkannten sie ihn kaum wieder, erst eine genetische Untersuchung erbrachte Klarheit über die Identität des zerschmetterten Torsos. Irgendwie hatten die Rettungskräfte den Eindruck, dass das Wesen bereits vor dem Zusammenbruch der Fabrik tot gewesen war.

Neben den drei Wesen, die gleich zu Anfang gefunden worden waren, wurden nur noch neun Personen lebend geborgen.

Michael Shorne reiste mit einem Gleiter an und blickte schockiert auf die Überreste seiner Fabrik. Als ihn die Presse fragte, was er von dem Unglück halte und was dahinter stecke, warf er nur einen wütenden Blick in die Kameras. Er kündigte an, eigene Untersuchungen anstellen zu wollen, unabhängig von TLD und der neuen USO. Er wollte sich nicht von diesen Versagern in seine Geschäfte hineinreden lassen, wie er sich ausdrückte.

Währenddessen trafen auch Perry Rhodan und die Sozialbeauftragte der Regierung, Uthe Scorbit, am Ort des Unglücks ein. Erschüttert sahen sie die Trümmer und schauten den Sicherheitskräften der Armee dabei zu, wie sie überwiegend tote Körper aus den Trümmern brachten.

Uthe Scorbit kündigte spontan ihre Unterstützung für die Hinterbliebenen an.

Auch Jan Scorbit und Will Dean trafen mittlerweile am Unglücksort ein. Sie vertraten die neue USO und den TLD.

Jonathan Andrews war beeindruckt von dem Aufgebot an Menschen, das sich um den Ort der Tragödie versammelte. Er blickte in Richtung des TLD-Agenten, der plötzlich in einen Gleiter sprang und Jan etwas zurief. Der Vertreter der neuen USO schaffte es gerade noch in das Flug-Fahrzeug, dann starteten die beiden in Richtung der Trümmer. Inmitten der Ruine hielten sie an und sprangen aus dem Fahrzeug.

»Hände hoch und Waffen weg!«, brüllte Jan Scorbit.

Dean stand neben dem Beauftragten der neuen USO und hielt seinen Strahler im Anschlag. Er zielte auf eine der Gestalten, die gerade damit beschäftigt war, etwas zu vernichten.

Der Einsatz von Strahlern war den beiden Agenten aufgefallen, deshalb waren sie in die Trümmer geflogen, um sich vor Ort zu überzeugen. Offensichtlich waren die Menschen Angestellte von Shorne, darauf wies jedenfalls die Arbeitskleidung hin, die ähnlich wie eine Uniform in den Werken des Industriemagnaten getragen werden musste. Sie waren dabei, etwas zu vernichten.

Nachdem die Gestalten entwaffnet waren, untersuchten die Agenten den Ort, an dem die Wesen tätig gewesen waren.

Die Menschen schwangen die Waffen in Richtung der beiden Störenfriede. Sofort feuerte Will Dean und schickte zwei der Männer in die Bewusstlosigkeit. Auch Jan Scorbit erwischte einen der Männer. Dann knieten sie sich an der Stelle nieder, an der die Menschen zugange waren.

»Das sieht ziemlich merkwürdig aus«, meinte Dean. Er bückte sich und griff in die Trümmer. In seiner Hand lagen Knochen, die allerdings keinem Menschen gehörten. Vermutlich auch keinem sonstigen intelligenten Wesen. Es sah mehr aus wie der Oberschenkelknochen eines Hundes. Allerdings lagen daneben noch weitere Gebeine und diese waren nun eher menschlich. So, wie die Gebeine lagen, mussten aber der Hundeoberschenkel und die Menschenknochen zusammengehören. Und das konnte eigentlich nicht sein.

»Das war doch keine normale Fabrik hier. Was haben die hier gemacht?«

»Ich weiß es nicht. Aber ich denke mal, wir werden das herausfinden.«

Gucky materialisierte neben den beiden Agenten und blickte auf die Funde. »Was ist den hier los?«

Er drang in die Gehirne der beiden Agenten ein und holte sich die Informationen heraus, die er noch brauchte. Dann nickte er. Er nahm die Funde an sich und brachte sie zu den wartenden Freunden um Perry Rhodan, die vor allem einige der Menschenknochen sofort untersuchten.

Verwirrung machte sich breit, als die Ergebnisse der Gentests vorlagen.

»Das sind eindeutig Cascal und der Marquês, die hier vor mir liegen«, meinte der Arzt, der die Untersuchung durchgeführt hatte.

De la Siniestro blickte verständnislos auf den Mann. Er wusste genau, was Shorne in dieser Genfabrik gemacht hatte. Wahrscheinlich waren dort auch seine Kinder produziert worden. Er betete zu Gott, dass man keine Hinweise fand.

Niemand sprach ein Wort.

»Da stimmt was nicht«, brach schließlich Gucky das Schweigen.

Er griff nach den Händen von Will Dean und Jan Scorbit, die neben ihm standen. Er sprang ins Nichts, als er rematerialisierte, krümmte er sich auf dem Boden.

»Parafallen«, stöhnte er. Dann verlor er das Bewusstsein.

Die beiden Agenten zogen die Waffen. »Wo sind wir hier?«

Scorbit ermittelte ihren Standort mit Hilfe eines Satelliten. »In einem privaten Sanatorium, das Shorne gehört. Wieso hat er uns hierher gebracht?«

Er forderte Verstärkung an. Andere würden bald kommen und ihnen bei der Durchsuchung dieses Bauwerkes helfen. Aber jetzt mussten sie erst einmal den Mausbiber in Sicherheit bringen.

Dean identifizierte eine der Apparaturen, die in dem Raum standen, als die Ursache für die Übelkeit des Mausbibers. Er richtete die Waffe darauf und vernichtete sie kurzerhand. Ein Mittel, das die Bewusstlosigkeit des Mausbibers überwinden konnte, spritzte er dem Wesen und dann warteten sie auf sein Aufwachen.

Währenddessen blickten sie sich in dem Raum um und konnten drei Gestalten auf den Liegen identifizieren, die sich stöhnend bewegten. Eine Frau schlug die Augen auf und sah die Männer.

»Hilfe«, stöhnte sie.

Sofort stand Dean neben ihr. »Wir sind ja da. Wie kann ich dir helfen?«

»Das sind Mutanten«, flüsterte der Mausbiber, der sich langsam aufrichtete. »Ich kann ihre Gedanken nicht erfassen. Sie schirmt sich ab. Aber das sind eindeutig Mutanten. Deshalb bin ich hierher gesprungen.«

»Shorne...« Die Stimme der Frau brach ab.

»Was ist mit ihm?«

»...Experimente mit Genen... Mutanten. Er hat uns entführt und verändert.«

»Jetzt verstehe ich. Ich bin in ihre Gedanken vorgestoßen, sie hat ihre Abschirmung für mich geöffnet. Shorne hat da eine Fabrik für Genforschungen eingerichtet und darin illegal Mutanten herangezüchtet. Dazu hat er eine Menge Menschen und sonstiger Wesen verwendet, nach denen unsere Sicherheitsbehörden schon seit einiger Zeit suchen. Diese drei sind noch einigermaßen gelungene Exemplare seiner Versuche, drei weitere Mutanten sind entkommen. Dabei ist noch ein vierter, den man getrost als Supermutanten bezeichnen kann.«

Der Mausbiber wurde etwas blass um die Nase, als er die Gedanken der Frau erfasste.

»Der Kerl hat außerdem einige Prominente von Mankind geklont, wie zum Beispiel Cascal, den Marquês und einige andere. Das ist unglaublich.«

Dean griff nach seinem Funkgerät. »Schnappt euch Shorne! Dieser Mistkerl hat mehr Dreck am Stecken als ihm lieb sein kann. Und hier gibt es einige Zeugen gegen ihn.«

»Verstanden«, bekam er gerade noch mit, dann verfolgte er, wie Gucky versuchte, das Vertrauen der drei Mutanten zu erlangen. Er machte das gar nicht ungeschickt.

*

Remus Scorbit und Jonathan Andrews warfen sich in einen Space-Copter, den einige der anderen Besatzungen hinterlassen hatten. Sie schwangen sich in die Luft und flogen dem Gleiter des Industriellen hinterher, der in der Nacht des Planeten verschwunden war. Die Ortungen des Fluggerätes erfassten den Gleiter allerdings, und die Triebwerke, die auch im All bis zur Lichtgeschwindigkeit für Schub sorgen konnten, brachten den Copter näher und näher an den Gleiter heran.

Sie sahen auf einem der Monitore den Industriellen, der in dem Gleiter an der Steuerung stand und verzweifelt Schub gab. Er schaffte es allerdings nicht, sich abzusetzen.

Andrews verließ seinen Sitz und ging in Richtung des Ausstiegs, während Scorbit den Copter näher an den Gleiter heransteuerte.

»Was hast du vor?«, brüllte Scorbit.

»Ich kauf mir diesen Mistkerl.«

»Lass den Blödsinn, mit dem Copter kriegen wir ihn ohne Probleme.«

»Ja, aber wie wollen wir ihn zur Landung zwingen, wen er nicht will?«

»Wie auch immer, zur Not holen wir ihn vom Himmel.«

»Damit er seiner Strafe entkommt, was? Das wird nichts. Steuere den Copter genau über seinen Gleiter.«

Scorbit gab auf und gehorchte. Er brachte den Copter, der von seiner äußeren Form tatsächlich an einen altmodischen terranischen Helikopter erinnerte, direkt über den Gleiter des Magnaten, der nach oben schaute und mit verzerrtem Gesicht gegen den Beschleunigungshebel seines Gleiters schlug. Das Gefährt wollte nicht schneller fliegen.

Andrews öffnete die Luke, die ihn nach draußen entlassen würde. Der Wind in dieser Höhe war enorm, dazu kamen noch Flugwinde, die für zusätzliche Gefahr sorgten. Andrews nahm seinen ganzen Mut zusammen. Für einen Augenblick verfluchte er seine große Klappe, dann stieß er sich ab. Mit ausgebreiteten Armen prallte er gegen den Rücken des Industriellen, der mit der Nase gegen den Beschleunigungshebel prallte und ihn fast abbrach. Blut tropfte aus der Nase des Mannes, der sich einfach dem Impuls folgend nach vorne fallen ließ.

Andrews landete neben Shorne und kam taumelnd auf die Beine. In dem schwankenden Gleiter war es fast nicht möglich, das Gleichgewicht zu halten. Aber irgendwie schaffte er es.

Allerdings auch Shorne, der sich aufrichtete und seine Faust auf die Reise schickte. Mitten im Gesicht des Space-Copter-Piloten landete die Faust des Industriellen, allerdings richtete sie keinen großen Schaden an. Shorne war zwar nicht gerade schwach und der Schlag tat durchaus weh. Aber er wandte die falsche Technik an, schaffte es so nicht, die Kraft voll wirksam werden zu lassen.

Andrews kam auf die Beine und suchte breitbeinig halt. Dann schlug er seinerseits zu. Er erwischte den Mann im Solarplexus und dann direkt am Kinn und beendete den Kampf sofort. Shorne verdrehte die Augen und bekam einen leicht glasigen Blick. Dann legte er sich in den luxuriös gepolsterten Sitz des Gleiters.

Andrews hatte keine Probleme, das Gefährt unter Kontrolle zu bringen. Er landete es in der Nähe und brachte den Industriemagnaten an Bord des Space-Copters, wo sie ihn in der zusätzlichen Kabine unterbrachten. Langsam rührte sich der Kerl.

»Diesmal kommst du nicht so einfach davon. Diesmal landest du vor Gericht«, knurrte Andrews. Dann knallte er die Tür zu der kleinen Kabine zu und überließ den Verbrecher seinen eigenen Gedanken.

*

Gucky hatte aus den Mutanten alles an Informationen herausgeholt, was sie wussten. Unter anderem hatte er die Straße in Erfahrung bringen können, in der Rijon vor seiner Entführung gewohnt hatte. Er suchte das Haus des kleinen Blue auf und beschloss, dort zu warten.

Während er in der Wohnung herumwanderte, konnte er nachempfinden, was den kleinen Blue bewegte. Er sah viele der Spielsachen, mit denen er und seine Schwester wohl gespielt hatten. Und auf dem Tisch im Wohnzimmer fand er einen Hologrammwürfel, in dem Aufnahmen einer Blue-Familie zu erkennen waren. Der kleinste war vermutlich Rijon. Nun waren fast alle davon tot.

Ein Schluchzen ließ ihn aufhorchen. Er ging in das Nebenzimmer, in dem einige der Kinder untergebracht gewesen waren. Ein kleiner Blue stand dort und griff nach einem Spielzeug.

»Trützy«, verstand der Ilt. Er blickte mitleidig auf den Mutanten, der die Puppe in seinen Armen wiegte, ein Spielzeug, das seiner Schwester gehört hatte. Er hielt die Puppe in den Armen und weinte.

»Hab keine Angst«, sagte der Ilt in beruhigendem Tonfall. »Ich werde dir nichts tun.«

Der Blue öffnete die Augen am Hinterkopf und blickte erschrocken auf den Ilt. Angst hatte er wohl keine. Eher stellte er eine Gefahr dar, denn er reagierte sehr unbeherrscht.

Gucky spürte die Kräfte, die auf ihn einwirkten. Er teleportierte auf die andere Seite des Jungen und versuchte, ihn zu beruhigen. Mit telekinetischen Kräften hielt er ihn auf Distanz. Aber der Junge entwand sich dem Griff ohne Probleme, indem er teleportierte.

Der Ilt sah sich um und konnte gerade noch ausweichen, als eines der Möbelstücke auf ihn zu stürzte. Er verließ den Raum, konnte aber den Blue nirgends erkennen.

Das Haus erzitterte. Das warnte den Ilt und er teleportierte ins Freie. Nicht weit von dem jungen Blue entfernt materialisierte er. Er sah gerade noch, wie das Haus, in dem sie sich aufgehalten hatten, zusammensackte.

Der Blue blickte den Ilt wütend an. »Das wirst du büßen. Du hast das Haus meiner Eltern vernichtet.«

Dabei umklammerte er immer noch das Spielzeug, das ihn immer an seine Schwester erinnern würde und seiner Erinnerung wach halten würde.

Er schlug unbeherrscht zu und vernichtete mehrere Häuser in der Gegend. Gucky konnte den Angriffen nur durch Teleportation entgehen. Aber er hatte keine Chance gegen den Mutanten.

Schließlich teleportierte er keuchend zurück zu den drei Mutanten. Er schüttelte traurig den Kopf, als Jeanne ihn ansah.

»Er hört nicht. Er kennt nur seinen Hass. Wir haben ein großes Problem.«

»Wir werden dir dabei helfen«, sagte die Terranerin. Sie erhob sich und stellte sich vor den Ilt. Die beiden anderen Mutanten standen ebenfalls auf und stellten sich an ihre Seite. »Sicher kannst du uns auch helfen. Wir haben kaum Erfahrung darin, wie es ist, als Mutant unter Menschen zu leben. Hilf uns dabei.«

Nachdenklich nickte der Ilt. »Gerne, Freunde.« Er grinste und warf einen Seitenblick auf Will Dean, der ebenfalls anwesend war. »Ich glaube, die Insel hat damit ein Mutantenkorps.« Er sah Jeanne in die Augen. »Wir werden euch dafür ewig dankbar sein.«

*

Während Michael Shorne in Untersuchungshaft war und sich wegen der illegalen und verwerflichen Genversuche verantworten musste, hatte Cartwheel einen neuen Feind – den kleinen Bluejungen Rijon. Ein kleines, unschuldiges Kind, welches nach dem Tod seiner Familie zu einer Bestie wurde. Gefoltert, gequält und genmodifiziert wurde aus dem Kind ein Supermutant. Ein Junge, der nur noch hassen kann, nachdem man ihm alles genommen hatte, was ihm etwas bedeutete.

Niemand wusste, wozu der Mutant, der seine Gefühle nicht unter Kontrolle hatte, noch alles in der Lage war.

Gucky begann mit der Ausbildung der drei Mutanten, während Rijon zusammen mit seiner Brut an die nächste Vergeltung gegen alle Intelligenzwesen dachte.

Am 15. März 1298 NGZ brach Perry Rhodan mit der LEIF ERICSSON nach Paxus auf, um sich auf die Konferenz vorzubereiten. Der Marquês von Siniestro verweilte noch einen Tag länger auf Mankind, um die Sache mit Shorne und Rijon genauer zu untersuchen. Auch wen eine neue Gefahr in der Galaxis war, so strebte sie immer noch nach ihrer Unabhängigkeit...

*

Das metallene Schleusenschott fuhr zischend auf. Doch der unsterbliche Terraner hielt noch kurz inne, bevor er auf das schimmernde Transportfeld trat. Er blickte über die ebenso eleganten wie zweckmäßigen Gebäude am Rande des Landesfelds. Er betrachtete die spiegelnden Fassaden und die architektonischen Feinheiten der Bauwerke. Und er blinzelte hinüber zum beeindruckenden CASSADO-TOWER, in dessen obersten Stockwerken die Hauptleitzentrale des Raumhafens von Paxus untergebracht war.

Rhodans Gedanken waren von jener Ruhe geprägt, die er in solchen Augenblicken oft empfand.

Dies sind die Momente, in denen du immer wieder kurz stehen bleibst, Major Rhodan, dachte er. Es kann geschehen, was will. Doch die Arbeit von Siedlern und Auswanderern wird dich immer wieder tief berühren.

Der Terranische Resident lächelte versonnen. Dann machte er einen kleinen Schritt nach vorne.

 

8. Unabhängigkeit

Mankind, Büro des Marquês de la Siniestro

27. März 1298 NGZ, 17:49 Uhr Standard-Terrazeit

Ein dumpfer Gong hallte durch den Raum und riss den Marquês aus seinen Gedanken. Sinnierend war er vor dem Kunstwerk des zeitgenössischen, terranischen Malers Hakedo Karunate gestanden und hatte sich in grübelndes Brüten zurückgezogen.

Nun aber kündigte der Syntron auf akustische Weise eine wichtige Eilmitteilung an. Wenige Schritte nur, dann stand Don Philippe de la Siniestro an seinem Schreibtisch. Er beendete mit einem Fingertippen auf einen Sensorpunkt den Stand-by-Betrieb des Syntrons.

Seine weißen Augenbrauen zogen sich in überraschter Verblüffung empor. »Syntron, Sammelverbindung zu meinen Kindern. Höchste Priorität!« wies er den Rechner an.

Nur wenige Sekunden später meldete sich sogleich Stephanie, die Tochter des Marquês. Ihre blauen Augen strahlen ihren Vater an. Mit einer damenhaften Geste strich sie sich eine Strähne ihrer glatten, dunkelblonden Haare aus dem zauberhaft hübschen Gesicht.

Sie ist wirklich bildschön! dachte der Marquês. Es ist schon verblüffend, dass sie aus meinem Genmaterial hergestellt wurde. Wenn solche Schönheit in meinen Genen schlummert – was hält dann das Universum für uns hier in Cartwheel wohl noch bereit?

»Stephanie, ich werde bereits heute schon nach Paxus abfliegen«, eröffnete Don Philippe seiner Tochter. Ein optisches Signal zeigte ihm, dass nun auch Orlando, Peter und Brettany zugeschaltet waren.

»Nun, Rhodan hat entschieden, die Konferenz des Paxus-Parlaments nicht erst am 20. März abzuhalten, sondern um einige Tage vorzuverlegen. Ich werde noch heute mit der BARCELONA starten.«

Der Syntron hatte dem Marquês inzwischen die Bildverbindungen mit seinen Kindern als Hologramme auf den Schreibtisch projiziert. Don Philippe sah, wie Peter III. in einer Mischung aus Erstaunen und Empörung seine Augen aufriss.

»Aber Vater!«, presste Peter heraus. »Ist die BARCELONA nicht ein wenig... zu unstattlich für den Anlass? Sie ist nur ein 100 Meter-Raumer, Vater!«

Ein Schmunzeln huschte dem Marquês über die Lippen. So hübsch Stephanie war, so sehr war Peter auf Militärisches und Uniformen fixiert.

»Keine Angst, mein Sohn. Die BARCELONA hat hervorragende Leute an Bord und hat in diesen Tagen ihren Stapellauf gehabt. Sie ist mit neuester Technik vollgestopft. Dieses Raumschiff, Peter, ist ein Symbol für die technischen Möglichkeiten der Terraner hier in Cartwheel«, erwiderte der Marquês und bemerkte, wie Orlando in der Bildübertragung unmerklich nickte.

Orlando ist der Vernünftigste von den vieren, dachte der Marquês. Sie alle wurden von SHORNE INDUSTRIES aus meinem Genmaterial geklont, aber er ist der Vernünftigste!

Peter war offenbar mit der Erläuterung seines Vaters zufrieden. Sein Oberkörper schien sich zu straffen, dann hob er seine rechte Hand zu einem stummen Gruß an die rechte Schläfe. Fast, als wollte der damit ein zackiges Verstanden! rückmelden.

Der Marquês lächelte in sich hinein. »Gut, soweit dieses. Ich möchte, dass ihr euch während meiner Abwesenheit etwas nützlich macht. Sucht euch etwas Arbeit, lest euch in das eine oder andere meiner Projekte ein, oder geht meinen Mitarbeitern zur Hand. Wollt ihr das tun?«

Ein Strahlen erschien auf Stephanies Gesicht. »Natürlich, Vater!« antwortete sie.

Und auch Orlando schloss sich ihr an: »Keine Frage, selbstverständlich!«

Während Peter nochmals salutierte und mit einem »Jawohl, Sir!« auch sein Einverständnis mitteilte, lächelte Brettany nur unsicher in die Optik. Sie war die kindlichste der vier geklonten Menschen.

»Also dann, in...« Der Marquês blickte auf sein Chronometer. »In etwa einer Stunde, um 19 Uhr Terra-Zeit, wird die BARCELONA abheben. Vielleicht sehen wir uns ja vorher noch kurz.«

Mit einem aufmunternden Lächeln beendete der Marquês die Verbindung zu seinen Kindern und ließ sich in seinen Sessel zurücksinken.

Don Philippe fuhr sich mit den Händen durchs Gesicht, strich über die Falten und Runzeln in der Haut.

Meine Kinder. So kurze Zeit sind sie nun erst bei mir. So kurz, und doch sind sie mir so sehr ans Herz gewachsen! Sollten sie mein einziges Vermächtnis sein, nach meinem Tod? Geklonte Menschen? Reproduziert aus meinen Genen?

Niemand kann sagen, wann es soweit ist. Wann der Tod kommt. Wann ich sterben werde. Aber ich empfinde mehr und mehr, wie schnell die Stunden vergehen. Im Handumdrehen sind Tage vergangen. Wochen sind manchmal wie ein Augenblinzeln. Je älter man wird, sagt man, desto schneller vergeht die Zeit... Ich wurde im Jahre 1761 alter Zeitrechnung geboren. Und schneller als jetzt ist mir der Lauf der Zeit nie vorgekommen.

Der Marquês seufzte. So lange war es her, dass er in Spanien gelebt hatte. Und nun regierte er über jene Menschen, die aus der Milchstraße nach Cartwheel gezogen waren, um sich ein neues Leben aufzubauen.

»Syntron, Sicherheitsverzeichnis Isabella Sieben Delta öffnen!« befahl Don Philippe dem Rechner.

Zwei Hologramme blitzten auf und stellten ihm verschiedene Optionen dreidimensional dar.

Der Marquês zögerte kurz.

Ich misstraue meinen Kindern. Den Wesen, die von meinem Fleisch und Blut sind – und das im wahrsten Sinne des Wortes. Ist dieses Misstrauen angebracht? Gerechtfertigt? Oder entspringt es nur meiner krankhaften Neigung, Kontrolle ausüben zu wollen?

Don Philippe schloss die Augen, atmete einige Züge tief durch. Seine faltenübersäten Hände waren zu zitternden Fäusten geballt.

Meine Kontrollsucht war es, die dafür sorgte, dass ich Isabella verlor! Würde ich meine Kinder nun auch verlieren, weil ich ihnen misstraue?

Ein Ruck ging durch den alten Körper des Marquês. Es half alles nichts! Er musste tun, was nötig war. Er konnte die von Shorne geklonten Wesen nicht einfach ohne Überwachung hier auf Mankind zurücklassen.

Noch immer waren die beiden Hologramme aktiv. Don Philippe ließ vom Syntron die Abschnitte SPY2813 und SPY2814 im Sicherheitsverzeichnis aufrufen, suchte einige Minuten und wurde dann fündig. Einige Schaltungen später entrang sich ein zufriedenes Brummen der Brust des alten Spaniers.

Es klopfte an der Türe.

»Ja bitte?« antwortete der Marquês etwas schärfer, als er es beabsichtigt hatte. Die Macht der Gewohnheit...

Herein kam ein junger Mann, vielleicht 25 Jahre alt, mit Bürstenhaarschnitt und glatt rasiertem Gesicht. Sein uniformähnlicher Kombi war körperbetont geschnitten und war von weißer Farbe mit dunkelblauen Absätzen.

»Don Philippe, die BARCELONA ist startklar, Sir!«

Der Marquês erhob sich aus seinem Sessel. »Sehr gut! Sie sind sicherlich hier, um mir Geleit zu geben?«

»Ja, Sir. Wir können gehen, wann immer Sie möchten, Sir.« Der junge Kerl erschien dem Marquês etwas ungeduldig.

»Wie ist ihr Name, junger Mann?« fragte Don Philippe.

»Jason, Sir. Jason Wentik, Sir.«

Der Marquês nickte ihm zu. »Nun gut, Mister Wentik. Ich benötige nur noch einige Minuten. Warten sie bitte draußen. Ich bin gleich soweit!«

»Natürlich, Sir!« Jason Wentik verschwand und schloss die Türe hinter sich.

Der Marquês wandte sich wieder hinüber zu der Wand zu seiner Linken. Dort hing das Gemälde von Hakedo Karunate. »Verhandlungssache« hatte der Künstler sein Werk genannt. Don Philippe hatte es vor einigen Tagen erst über Mittelsmänner ersteigern lassen.

In den nächsten Tagen wird viel verhandelt werden auf Paxus, dachte der alte Spanier bei sich. So vieles ist reine Verhandlungssache in der Politik. Wollen wir hoffen, dass die Völker auf der Sterneninsel Cartwheel ihre Unabhängigkeit durch Verhandlungen erlangen werden!

Er stand noch einige Herzschläge lang vor dem Bild. Betrachtete die Farben. Die glimmernden Resena-Pigmente, die nur auf einer Handvoll Planeten der Milchstraße zu finden waren, schimmerten abwechselnd in blauer und silberner Farbe.

Dann aber riss er sich los von dem Anblick, ging zurück zum Schreibtisch und packte die wichtigsten Unterlagen zusammen.

Den Start der BARCELONA beobachteten die vier Kinder des Marquês von einer VIP-Lounge des zentralen Raumhafens von Mankind aus. Hochstabile Panzerglasscheiben trennten sie von den Böen, die von startenden Raumern verursacht wurden, während die Geräuschkulisse durch Lärmschutzfelder aufgefangen wurde.

»Oh sieh nur, Schwester!«, staunte Peter III. dem Raumer nach. Seine grauen Augen leuchteten vor Erregung in seinem bleichen, pockigen Gesicht. »So schön, so wunderschön. Unglaublich majestätisch, nicht wahr?«

Stephanie sah ihn zweifelnd an. Ihr Blick schien ihr verwirrtes Unverständnis laut heraus zu rufen. Doch stand sie ganz ruhig neben ihrem Bruder.

»Natürlich, Peter. Wunderschön«, hauchte sie leise. Und in ihren Worten schwang an Angst grenzende Unsicherheit.

Neben Stephanie stand Brettany, die lächelnd den Ionisationseffekten des aufsteigenden Raumschiffs nachblickte. »Ich finde es auch schön, Stephanie. Sieh nur, wie das Raumschiff durch die Wolken dort fliegt!«

Stephanie verdrehte nur die Augen. Dann aber meinte sie mit zuckersüßem Unterton: »Stimmt schon, Schwesterherz. Du hast selbstverständlich auch recht, Brettany.«

Nur Orlando de la Siniestro stand schweigend da. Der sportlich gebaute junge Mann mit der markanten Ausstrahlung beachtete seine Geschwister kaum.

»Ich hoffe, Vater, alles wird soweit in Ordnung gehen auf Paxus«, murmelte er. »Mir ist nicht wohl dabei, wenn ich dich so davon fliegen sehe. Ein seltsames Gefühl ist das, aber ich werde die Ahnung nicht los, dass irgendetwas geschehen wird.«

Unbemerkt von den vier Kindern des Don Philippe schwebte eine winzige Spionsonde in einem Abstand von etwa drei Metern unter der Zimmerdecke. Ihre Kodierung lautete SP-0714.

*

Auf Paxus war gerade der 17. März angebrochen, als auf dem Kontinent Erisor des Planten Paxus ein Raumschiff eintraf. Hier war es fast Mittagszeit. Am strahlend blauen Himmel war fahl und klein der Mond Etan zu erkennen.

Die BARCELONA schwebte von Antigravfeldern gehalten auf den Landeplatz ZH337 des Raumhafens von Paxus zu. Es schien, als setzte sie sacht wie eine Feder auf.

»Sir, wir haben Paxus erreicht«, meldete Jason Wentik dem Marquês unnötigerweise. Der alte Spanier hatte die Landung des Raumers auf einem Hologramm verfolgt.

»Nun gut, Mister Wentik. Dann wollen wir unsere Gastgeber nicht warten lassen. Ist die Transmitterverbindung geschaltet?«

Don Philippe und Jason Wentik befanden sich in der Kommandozentrale der BARCELONA.

»Ja. Sir. Soeben erfolgt.«

Im Gesicht des Marquês deutete sich ein Lächeln an. »Wohlan, Mister Wentik.«

Und während die Besatzung der BARCELONA die letzten Handgriffe nach der Landung des Raumschiffes erledigte, schritt Don Philippe hinüber zum Transmitter, der in einer Nische der Kommandozentrale untergebracht war. Nur Augenblicke später materialisierte er im Haupttransmitterraum in der 115. Ebene des CASSADO-TOWERs.

 

9. Die Repräsentanten

Paxus, Ratshalle des Paxus-Parlaments

28. März 1298 NGZ, 8.53 Uhr Ortszeit

Nor'Citel betrat die Ratshalle und steuerte sofort auf die Loge der Pariczaner zu. Den Delegierten, an denen er vorbeikam, schenkte er kaum Beachtung. Langsam ließ er sich in den schweren Konturensessel sinken, der sich augenblicklich an seine mächtige und massive Körperform anpasste.

Nur wenige unter den Abgesandten der vielen Völker wussten um Nor'Citels wahre Existenz. Tatsächlich saß mitten unter ihnen, inmitten des Parlaments aller Völker der Sterneninsel Cartwheel, ein alter Feind der Menschheit, dessen Name vor Jahrhunderten Leticron lautete.

Nun agierte Leticron wieder. Der Körper des Überschweren Siddus diente ihm als Sitz für sein Bewusstsein, das knapp tausend Jahre lang in einem mit PEW-Metall präparierten Steinsockel auf dem Saturnmond Titan gefangen gewesen und schließlich von Cau Thon befreit worden war. Nachdem er Siddus' Bewusstsein getötet und einen Zellaktivator erhalten hatte, nannte sich Leticron jetzt Nor'Citel.

Von seinem Sessel aus nickte Nor'Citel einigen anderen Pariczanern zu, die sich mit ihm in der Loge befanden. Wie er waren sie sogenannte Überschwere, Angehörige einer einst abgesplitterten Sippe der Springer. Und wie er waren sie Delegierte für Paricza, den dritten Planeten im Zehn-Planeten-System der Sonne Punta-Pono, wenn auch Nor'Citel als einziger unter ihnen Handlungsbefugnisse besaß.

Handlanger eben! dachte Not'Citel amüsiert. Der Blick des Überschweren wanderte zu Uwahn Jenmuhs, dem arkonidischen Regenten vom Planeten Bostich. Der weißhaarige, dicke Mann war in hektische Gespräche mit seinen Beratern vertieft und wirkte selbst aus dieser Entfernung trotz seiner Hässlichkeit arrogant und herrisch. In seinem Mundwinkel hing eine terranische Zigarre, und seine ungepflegten Haare standen wieder einmal in alle Richtungen von seinem Kopf ab.

Welch ein Anblick! Wahrhaft ein passender Vertreter seines Volkes! dachte Nor'Citel ironisch. Aber du wirst heute noch eine gehörige Überraschung erleben, Arkonide! Seine Gedanken waren voller Hochmut und Verachtung.

Schließlich wurde seine Aufmerksamkeit auf Sruel Allok Mok gelenkt. Der vogelähnliche Somer war der Generalsekretär des Paxus-Rates und war mit 1,20 m Größe ein relativ kleiner Angehöriger des dominierenden Volks der Galaxis Siom-Som. Er hatte ein in terranischen Augen wunderschönes blaues Federkleid und glich stark einem amerikanischen Seeadler. Aufgrund dessen und durch seine Initialen wurde der Somer meist einfach Sam genannt.

Sam, dieser flügellahme Einfaltspinsel! Auch nur einer der Idioten, die sich für Rhodans Ziele einspannen ließen! Nor'Citel fühlte den Hass in sich aufwallen.

In diesem Augenblick eröffnete Sam die Vollversammlung der Delegierten von Cartwheel.

Bevor Sruel Allok Mok zu sprechen begann, hatte er noch einmal die Atmosphäre der Ratshalle auf sich wirken lassen. Er hatte in die Runde das voll besetzten, kreisrunden Plenums geblickt. Hatte die in Richtung Decke steil ansteigenden Ränge, deren einzelne Logen für die Vertreter des jeweiligen Volkes vorgesehen waren, betrachtet. Und hatte schließlich einen Blick über seine linke Schulter geworfen, zum Dorgonen Jatunius.

Jatunius hatte schräg hinter dem Rednerpult Stellung bezogen. Eine eher symbolische Geste, denn der Dorgone repräsentierte als Leiter der Paxus-Wache mehr die grundsätzlichen Sicherheitsmaßnahmen, als dass er tatsächlich Wachdienst versah.

Dann aber hatte der Somer begonnen zu sprechen. Die Worte, die Sruel Allok Mok wählte, waren ruhig und bescheiden.

Sehr geehrte Delegierte, liebe Freunde, hoch geachtete Völker von Cartwheel! Es ist mir eine große Ehre, heute diese Konferenz eröffnen zu dürfen. Maßgeblich beteiligt am Zustandekommen dieser Versammlung war jedoch der Terranische Resident, Perry Rhodan. An ihn will ich nun das Wort übergeben, auf das er uns die Hintergründe erläutert, die zu unserem Treffen hier und heute geführt haben. Perry, bitte!«

Perry Rhodan nickte dem Somer zu, der den Platz hinter dem Rednerpult verließ, indem er zwei Schritte zurücktrat, und es somit für den Terranischen Residenten frei machte. Rhodan verließ die Loge der Terraner, und als er Sam auf halber Strecke zwischen Tribüne und Rednerpult traf, stieß der Somer ein leises und melodisches Pfeifen aus, so als wollte er den Unsterblichen beruhigen und sagen: Keine Sorge, alles halb so wild!

Perry Rhodan musste unwillkürlich lächeln. Sorgen hatte er wohl. Weniger aufgrund dieser Delegierten-Versammlung des Paxus-Rates, die gerade begonnen hatte, sondern vielmehr wegen der Ereignisse, die dazu geführten hatten. Ereignisse, die wieder einmal, wie so oft im Leben des unsterblichen Terraners, von kosmischer Bedeutung waren.

Perry betrat das Rednerpult. Im gleichen Augenblick wurde jener Mechanismus aktiviert, der dafür sorgte, dass er für jeden der Delegierten in Frontalansicht dargestellt wurde, unabhängig davon, wo sich die Loge in dem aufsteigen Rund befand. Er legte seine Hände links und rechts an die Kanten des Pultes und ließ seinen Blick über die 51 Delegierten und ihre Attachés schweifen. Zu jedem Volk der hier Anwesenden hätte er schier unzählige Geschichten erzählen können. Geschichten aus seinem eigenen Leben und aus den Berichten von Freunden.

In der nun herrschenden Stille, in dem Moment gespannter Erwartung auf das Kommende, wurde ihm einmal mehr bewusst, wie sehr sein eigenes Schicksal und seine Person mit den Geschicken der Milchstraße und ihrer Bewohner verknüpft war.

»Verehrte Delegierte!« begann er schließlich mit fester und tragender Stimme. Die ungeteilte Aufmerksamkeit aller gehörte ihm. »Ich habe euch zu dieser Versammlung gebeten, da die Situation in Cartwheel in den vergangenen Monaten eine unerwartete Wendung genommen hat.«

Rhodan legte eine Kunstpause ein. Damit sagte er den Delegierten nichts Neues. Die Nachricht hatte sich wie ein Lauffeuer über die Insel verbreitet und wurde innerhalb kürzester Zeit auch in die Milchstraße getragen. Und deswegen war er auch unverrichteter Dinge hierher aufgebrochen. Die Nachricht war zu unglaublich, zu unwahrscheinlich – geradezu unmöglich!

Perry Rhodan fixierte den Mann in der Gästeloge mit den Augen, bevor er weiter sprach. »Im Januar dieses Jahres ist Cauthon Despair nach Cartwheel gekommen und hat uns eine Botschaft von MODROR überbracht. MODROR bot den Völkern ein Friedensabkommen an, und der in der Folge vom Paxus-Rat erarbeitete Text wurde vom Parlament angenommen.

Damit wurde entschieden, unter Vorbehalt auf das Angebot von MODROR einzugehen. Dennoch soll die Sterneninsel Cartwheel in ihren Mitteln ausgebaut und gefestigt werden. Und schließlich wurde beschlossen, dass die Völker von Cartwheel die Unabhängigkeit anstreben. Dies wurde auch in einer in meinen Augen sehr wichtigen Wahl des Volkes entschieden. Die Unabhängigkeit von ihrer jeweiligen Heimat, und die Unabhängigkeit vom Projekt DORGONs.«

»Nicht das Volk entscheidet, sondern wir!« brüllte ein unbekannter Delegierter aus den Reihen.

Rhodan presste die Lippen zusammen und fuhr fort: »Es geht immer um das Volk. Ich sehe diese Abstimmung vor allem nicht als eine Meinungsumfrage, sondern als einen repräsentativen Wunsch von über 80 Prozent der Lebewesen in Cartwheel an, die die Unabhängigkeit ihrer neuen Heimatgalaxis wünschen.

Dieser Punkt nun ist Thema unserer heutigen Versammlung. Wir müssen über das Wie dieser Unabhängigkeit beraten.

Grundlage unserer Diskussionen ist jedoch noch immer das Angebot MODRORs auf Frieden. Cauthon Despair überbrachte uns die Friedensbotschaft von MODROR. Ich möchte ihn nun an dieser Stelle bitten, diese Botschaft nochmals im Rahmen dieses Auditoriums vorzubringen. Damit wir uns alle noch einmal ein Bild davon machen können, auf welcher Basis wir hier beraten.«

Rhodan trat zwei Schritte zurück, so wie Sam es vor ihm getan hatte. Mit einer einladenden Geste deutete er auf das Rednerpult vor sich.

Cauthon Despair zögerte keine Sekunde. Mit einer fließenden Bewegung erhob er sich aus seinem Sessel, verließ die Loge und strebte gemessenen Schrittes auf Perry Rhodan zu. Als er ihn fast erreicht hatte, räumte Rhodan den Platz hinter dem Rednerpult und begab sich auf seinen Platz in der Terra-Loge zurück.

Der Mann, den man auch den »Silbernen Ritter« nannte, bot einen imposanten Anblick. In dem Raumanzug, der unweigerlich an eine Ritterrüstung des terranischen Mittelalters erinnerte, wirkte er seltsam unwirklich, unnahbar und...

Beinahe zeitlos! Fast wie ein Wesen aus einer anderen Daseinsebene, befand Perry Rhodan in Gedanken, als er seine Loge erreicht hatte und zu dem Silbernen Ritter blickte.

Cauthon Despair war inzwischen hinter das Pult getreten. Die Beleuchtung schuf matt schimmernde Lichtreflexe auf seiner Rüstung, die bei jeder leichten Bewegung Despairs ein Eigenleben zu entwickeln schien. Augenblicklich wurde sein Abbild als Frontalansicht für jeden Anwesenden in dem großen Rund der Logenhänge projiziert.

Wenn noch eine Steigerung der Anspannung in dem Auditorium der Ratshalle möglich war, so trat sie jetzt ein. Eine erwartungsvolle Stille hatte die Delegierten gepackt, hatte sie fest im Griff.

Despair wartete kurz, ganz als ob er die Ruhe dieses Augenblicks genoss. Seine behandschuhte Rechte legte behutsam einen kleinen, schwarzen Gegenstand auf dem Pult ab.

Dann aber begann er zu sprechen.

»Völker von Cartwheel!« Die Stimme des silbernen Ritters war voller Leidenschaft und klang trotzdem gleichsam nach Ruhe und Ausgeglichenheit.

Die Anrede war geschickt gewählt. Durch die Ränge der Delegierte brandete ein leises Raunen. Cauthon Despair verstand es, die Zuhörer sofort in seinen Bann zu schlagen.

»MODROR hat mich aus seiner Obhut entlassen, um euch eine wichtige Botschaft zu überbringen.«

Eine dramaturgisch perfekt gesetzte Pause.

Despair beugte sich leicht vor, so dass jeder Delegierte den Eindruck bekommen musste, dass er persönlich von den Augen hinter den Sehschlitzen des Raumhelms gemustert wurde. Mit leiserer Stimme fuhr er fort: »Euch den Frieden anzubieten.«

Knisternde Spannung tobte lautlos durch den Saal. Niemand wagte, sich zu rühren.

Niemand, außer Nor'Citel. Der Überschwere saß in der Loge der Pariczaner und blätterte in Unterlagen. Das kennen wir ja nun schon, dachte er bei sich.

Derweil richtete sich Despair am Rednerpult wieder zu seiner vollen Größe auf, die Stimme fand zu ihrer alten Lautstärke zurück.

»Ihr werdet euch nun fragen: Meint es MODROR ehrlich mit uns?

Verehrte Delegierte, ich kann jedoch leider nur sagen, dass ich keine Antwort auf diese Frage weiß.«

Unruhe entstand in den Logen der Saggittonen und des Terrablocks.

»Sollen wir einem Massenmörder trauen, der von einem diabolischen Wesen geschickt wird?« brüllte Carjul, der Anführer der Okefenokees.

Einige andere Delegierte und ihre Attachés erhoben sich ebenfalls. Allen voran Männer und Frauen aus dem Arkonblock.

Sam versuchte für Ruhe zu sorgen, doch alle redeten laut durch den Raum, und dabei interessierten sie sich nicht für das, was der andere sagte. Schließlich entschloss sich der Somer, die Sitzung zu unterbrechen.

 

10. Aufzeichnung der Überwachungssonde SP-0714

Mankind, IMPERIUM ALPHA

28. März 1298 NGZ, 10.25 Uhr Ortszeit

Komm nur herein, Schwester!«

Peter von Siniestro winkte die junge Frau, die soeben seine Suite betreten hatte, mit der linken Hand heran. Er saß bequem zurückgelehnt in einem Formenergiesessel, die Beine weit von sich gestreckt, und wandte seine Aufmerksamkeit sofort wieder dem Holokubus zu, der vor ihm, nur eine Handbreit über der Antigravtischplatte schwebte. Das Wort Schwester hatte er dabei besonders betont.

Stephanie, seine beiden anderen Geschwister und er wurden erst vor einigen Tagen vom Marquês von Siniestro adoptiert. Nicht viel länger ist es her, dass ihre Eltern bei einem katastrophalen Brand auf ihrer Heimatwelt Herodis ums Leben kamen. Da ihr Vater ein weit entfernter Nachfahre der de la Siniestros war, hatte sich der Marquês ihrer schließlich angenommen.

So zumindest die eingeimpfte Erinnerung der Klone.

Die neue Umgebung auf Mankind und in der großen Stadt New Terrania war für sie ziemlich ungewohnt. Blutsbande und Vertrautheit bekamen da eine neue Bedeutung. Die Beziehung zwischen seiner Schwester und ihm war dadurch inniger geworden.

Gedanklich war Peter aber längst woanders. Mit einem fanatischen Glitzern in den Augen betrachtete er die Projektionen in dem Holokubus.

Stephanie von Siniestro zögerte kurz in ihrem Schritt und betrachtete das vor Erregung gerötete Gesicht ihres Bruders mit einem spöttischen Lächeln. Die kindliche Begeisterungsfähigkeit ließ den jungen Mann in ihren Augen eher unreif erscheinen. So wie die meisten seiner Charaktereigenschaften sie eher an einen kleinen, verzogenen Jungen denken ließen, denn an einen jungen, selbstbewussten Mann. Aber Peter war nun mal ihr Bruder. Und seit der Katastrophe regten sich Gefühle in ihr, wie sie einer älteren Schwester zustehen mochten. Er war für sie der kleine Bruder. Stephanie implizierte darin eine gewisse Verantwortung. Sie mochte ihn mehr als ihre in ihren Augen naive Schwester und ihren eitlen älteren Bruder, der immer rechtschaffend und so schrecklich ehrenhaft sein musste. Unerlaubte Dinge waren für ihn ein Tabu. Ein Langweiler in Stephanies Augen.

Schließlich umrundete sie die frei schwebende Arbeitsplatte, stellte sich hinter ihren Bruder und legte ihm die Hände auf die Schultern. Eine Geste, mit der sie bewusst eine gewisse Vertrautheit ausdrücken wollte.

»Was betrachtest du dort so fasziniert?«

»Ist sie nicht beeindruckend? Majestätisch?« Peter von Siniestro zögerte kurz. »Bedrohlich?«

Sein Blick war unverwandt auf den Holokubus gerichtet, die Stimme leise, vibrierend von unterdrückten Emotionen.

Stephanie betrachtete die Projektionen, die dargestellt wurden. Sie zeigten Konstruktionspläne und Designstudien eines gigantischen Raumschiffes. Ein zweiter Holowürfel entstand auf einen Wink ihres Bruders. In ihm spielte sich die Simulation eines Raumgefechtes ab, in dem ein riesiger Kugelraumer, der die Szene die ganze Zeit über beherrschte, nach kurzer Zeit als Sieger hervorging. Stephanie sagte nichts, aber sie spürte den vor Erregung und Begeisterung bebenden Körper ihres Bruders.

»Sie ist ein Schlachtschiff der neuen 5000-Meter-Klasse«, flüsterte er.

»Sie?«

»Die PETER DER GROSSE...« kam es wie ein Hauch.

Mit einem Ruck drehte Stephanie ihren Bruder mitsamt dem Sessel um. Ihre Hände stemmte sie autoritär in die Hüften und ihren Oberkörper beugte sie leicht vor.

»Träumst du?« fuhr sie ihn an. »Ein Raumschiff dieser Größe...« Sie ließ den Satz unvollendet, ahnte, dass es sich hierbei um mehr als nur Träumerei handelte. Instinktiv hatte sie begriffen, dass ihr Bruder hier mehr als nur seinen Phantasien nachhing.

»Schlacht-Schiff!« korrigierte sie Peter von Siniestro und sank dabei sichtlich in seinem Sessel zusammen, nur um kurz darauf unvermittelt aufzuspringen. Er wirbelte um seine Schwester herum und fuchtelte aufgebracht mit den Armen. »Der Terrablock muss Macht und Autorität demonstrieren!« brüllte er. Sein von Pockennarben gezeichnetes Gesicht rötete sich zusehends. »Sonst kommen die anderen noch auf dumme Gedanken!« Bei den letzten Worten überschlug sich seine Stimme fast.

Stephanie blinzelte irritiert. An die Gefühlsausbrüche ihres Bruders, die sie immer an ein kleines Kind erinnerten, würde sie sich wohl nie gewöhnen. Kurze Zeit herrschte Schweigen im Raum und Peter ließ seine herrisch erhobenen Arme kraftlos sinken.

»Schließlich muss man vorbereitet sein«, brummte er und setzte sich wieder in den Sessel. Finster starrte er in den Holokubus. Wenn seine Schwester nun versuchen sollte, ihm sein Schlachtschiff wieder wegzunehmen? Sein Herz klopfte wild.

Die PETER DER GROSSE gehört mir! dachte er verzweifelt. Niemand darf sie mir wegnehmen!

Stephanie von Siniestro hatte sich sofort wieder in der Gewalt. Sie lehnte sich an die Arbeitsplatte und blickte ihrem Stiefbruder in die Augen, die zwischen ihr und dem Holokubus hin und her wanderten.

»Aber wieso PETER DER GROSSE?« fragte sie. »Bist du hier nicht etwas anmaßend?«

»Peter der Große war ein russischer Zar des präatomaren Zeitalters der Erde«, antwortete er unwillig. »Ein großartiger Herrscher und Feldherr, der tausende ruhmreicher Schlachten geschlagen hat.« Seine Stimmung steigerte sich bei den Gedanken daran zusehends. »So wie ich es auch sein werde, wenn Vater meine militärstrategischen Fähigkeiten endlich erkannt hat.«

Stephanie von Siniestro runzelte die Stirn. Ihr Blick wanderte zu den Projektionen im Holokubus. Lange Zeit sagte sie nichts, betrachtete geistesabwesend die technischen Darstellungen

»Du hast Recht«, säuselte sie schließlich. »Wenn Vater« – eine besondere Wärme war hier in ihrer Stimme – »von Paxus zurück ist, werden wir mit ihm darüber sprechen. Er wird die Notwendigkeit eines Superschlachtschiffes als Flaggschiff für den Terrablock sicherlich erkennen.«

Stille. Ihr Bruder hatte den Kopf gesenkt, betrachtete vermutlich die Hände, die er im Schoß zusammengefaltet hatte.

»Ich habe die Fertigung bereits veranlasst«, sagt er schließlich.

Stephanie war wie vor den Kopf geschlagen. Wie konnte sich ihr Bruder nur zu einer solchen Unüberlegtheit hinreißen lassen? Ihr Vater hatte sie sicherlich nicht mit umfangreichen Vollmachten während seiner Abwesenheit ausgestattet, um für eine außerordentliche Aufrüstung der Raumflotte zu sorgen und ein neues Flaggschiff bereitzustellen. Allein die Kosten, die der Bau eines solchen Raumschiffes verursachte! Ihr schwirrte der Kopf.

Andererseits hat Peter Recht, dachte sie. Der Terrablock muss Stärke beweisen.

Die gewohnte Nüchternheit kehrte in ihre Gedanken zurück.

Und schließlich braucht mein Bruder ein Schiff, das seiner Stellung gerecht wird, dachte sie mit leiser Ironie.

Sie legte ihrem Bruder eine Hand auf die Schulter. »Du hast richtig gehandelt. Vater wird begeistert von deiner Idee und deiner Eigeninitiative sein.« Ihre Hand rutschte von Peters Schulter. Für Sekunden wirkte sie wie geistesabwesend, dann huschte ein leichtes Lächeln über ihre Lippen. »Und ich werde dafür sorgen, dass der Brocken nicht zu groß für uns wird.«

Ohne ihren Bruder eines weiteren Blickes zu würdigen, verließ Stephanie von Siniestro das Zimmer.

Mit einem strahlenden Lächeln und leuchtenden Augen verfolgte Peter ihren Abgang.

 

11 Die Söhne des Chaos

Paxus, Ratshalle des Paxus-Parlaments

28. März 1298 NGZ, 11.34 Uhr Ortszeit

Uwahn Jenmuhs strebte mit kurzen schnellen Schritten, sein Gefolge aus Beratern im Schlepptau, auf den Ausgang des Ratsgebäudes zu. Die Geschwindigkeit, die er dabei vorlegte, war für seine Fettleibigkeit erstaunlich.

Kurz vor dem Portal stellte sich die massive Gestalt eines Überschweren in seinen Weg. Der arkonidische Regent hielt abrupt an, so dass die eilig nachfolgenden Berater beinahe mit ihm zusammen gestoßen wären.

Die Augen Jenmuhs' verengten sich zu schmalen Schlitzen, während er den Pariczaner vor sich eingehend musterte. »Auf ein Wort, Regent!« sagte dieser mit dröhnender Stimme.

»Was willst du von mir, Nor'Citel?«

Der Überschwere deutete mit einer schwungvollen Geste auf das Portal und die grüne und blühende Parklandschaft die dahinter sichtbar war. »Ein kleiner Spaziergang in den erquickenden Gärten des Ratsgebäudes.« Der leicht ironische Unterton war nicht zu überhören.

Uwahn Jenmuhs zögerte. Was bezweckte Nor'Citel mit dieser Aktion?

»Unter vier Augen...« setzte der Überschwere mit vertraulichem Tonfall leise nach. In seinen Augen blitzte es dabei verräterisch auf. Jenmuhs war sich darüber klar, dass Nor'Citel etwas im Schilde führte. Dieser hatte seine Körpersprache normalerweise perfekt unter Kontrolle. Diese offensichtliche Vertrautheit, verknüpft mit der unausgesprochenen Lockung eines Geheimnisses, war zu offensichtlich und damit bewusst gesteuert.

Mit einer herrischen Geste bedeutete der arkonidische Regent seinem Gefolge zu verschwinden. Schweigend und mit geneigtem Haupt zogen sich die Männer und Frauen zurück. Nor'Citel wandte sich wortlos um und verließ das Ratsgebäude. Uwahn Jenmuhs folgte ihm in einigem Abstand und schloss erst im Freien, wo der Überschwere gemächlich über einen der breiten, gepflasterten Wege durch das üppige Grün des Parks wandelte, zu ihm auf. Seite an Seite schritten sie einige Zeit durch die blühende Landschaft. Die beiden bildeten ein merkwürdiges Paar. Von der Statur her – dem Verhältnis Körpergröße zu Körperfülle – waren sie sich sehr ähnlich. Was jedoch bei dem einen kraftstrotzende Muskelpakete und durchtrainiertes Körpergewebe war, waren bei dem anderen schwammige und aufgequollene Fettmassen.

Die kühle Luft, die hier auf dem Kontinent Erisor vorherrschte, ließ den Arkoniden frösteln. Der Wind wehte stark, da das Parlament nahe an der Küste lag. Von seiner Heimatwelt war er angenehmere Temperaturen gewöhnt.

»Also!« fauchte er schließlich aggressiv, nachdem Nor'Citel keine Anstalten machte, das Gespräch zu eröffnen.

»Wenn sich die Arkoniden aus Cartwheel auf die Seite MODRORs stellen, wird MODROR dies bei seinen weiteren Aktionen gegen DORGON und die Milchstraße wohlwollend berücksichtigen.« Der Überschwere sagte dies in einem Tonfall, als würde er das Wetterprogramm des nächsten Tages verlesen.

Uwahn Jenmuhs hingegen wäre vor Schreck beinahe gestolpert. Er blieb wie angewurzelt stehen, als ihm die Bedeutung der Worte in vollem Umfang bewusst wurde. Er beeilte sich Nor'Citel wieder einzuholen, der unterdessen wie teilnahmslos weitergegangen war. Dabei schaute er sich immer wieder verstohlen um.

»Bist du wahnsinnig?« raunte er, als er wieder neben dem Überschweren war. »Hier kann jeder Busch Ohren haben. Mit solchen Scherzen kannst du mich ganz schön in Schwierigkeiten bringen! Womöglich nimmt jemand diesen Unfug noch als bare Münze!«

»Keine Sorge, Arkonide!« antwortete Nor'Citel und legte dabei seine rechte Hand an den breiten Multifunktionsgürtel, den er trug. »Akustikschirm!«

»Es gibt andere Methoden, unser Gespräch zu belauschen«, knurrte Jenmuhs zurück.

Das erste Mal, seitdem sie den weitläufigen Park betreten hatten, schaute ihn der Überschwere direkt an. Um seine Lippen zuckte ein verächtliches Lächeln. »So wichtig sind wir nun auch wieder nicht.«

Der arkonidische Regent schien halbwegs beruhigt und war mit den Gedanken wieder voll bei der Sache. »Was sollte das mit MODROR? Willst du meine Loyalität Cartwheel gegenüber in Frage stellen?« Uwahn Jenmuhs wusste nicht, wie er mit der verqueren Äußerung Nor'Citels umgehen sollte.

»Natürlich nicht«, antwortete dieser gedehnt. »Ich weiß, dass deine Loyalität zu DORGONs Projekt ähnlich ausgeprägt ist wie meine.«

Jenmuhs fluchte innerlich. Er hasste solche Wortgeplänkel voller Zweideutigkeiten. Man bewegte sich dort auf sehr trügerischem Boden. Jedes Wort konnte den Schritt in die Falle bedeuten.

»Ich will aufrichtig zu dir sein«, sprach der Überschwere weiter und hielt schließlich in seiner Wanderung inne. Er blickte den Arkoniden von der Seite her an. »Ich habe eine besondere Affinität zu MODROR. Ich bin der vierte Sohn des Chaos.«

Der arkonidische Regent antwortet nicht. In seinem Kopf schwirrten die Gedanken. Das Gespräch nahm schon beinahe groteske Formen an. War Nor'Citel wahnsinnig? Wollte er ihn aus der Reserve locken, damit ihm irgendwelche Vertraulichkeiten entschlüpften? War das eine perverse Art von Spaß, den der Koloss neben ihm da trieb?

»Du kennst mich eigentlich unter einem anderen Namen. Ich bin Leticron, der Corun von Paricza!«

Uwahn Jenmuhs keuchte entsetzt auf. Das ging jetzt entschieden zu weit. »Du bist wirklich wahnsinnig!« schrie er Nor'Citel an, kurz davor, die Beherrschung zu verlieren.

»Durchaus nicht!« Und Leticron begann in wenigen, aber eindringlichen Worten die Geschichte seiner Befreiung aus den unterirdischen Katakomben der einstigen Mondfestung des Saturnmondes Titan zu erzählen. Dort wo er über tausend Jahre als Bewusstsein in der geborstenen Säule aus PEW-Metall vegetiert hatte.

Unbändiger Hass stieg in ihm auf, den er im Wesentlichen auf eine einzige Person fokussierte: Perry Rhodan! Der unsterbliche Terraner hatte alle seine ehrgeizigen Pläne zerstört. Ein penetranter Widersacher mit enervierenden Moralvorstellungen, die einer Superintelligenz zur Ehre gereicht hätten. Leticron ballte vor Wut die Fäuste, eine Geste, die dem arkonidischen Regenten nicht entging.

Jenmuhs war sehr nachdenklich geworden. In der Tat war es eine phantastische Geschichte, die Leticron ihm da erzählt hatte. Auch die vielen Details passten stimmig zueinander. Alles zusammen warf ein völlig neues Licht auf das Projekt DORGONs, und auch auf die Wesenheit MODROR – was oder wer sich auch immer dahinter verbergen mochte. Ihm schauderte leicht bei dem Gedanken, wer da neben ihm stand, die Hände vor Zorn und Wut geballt und mit finsteren Blicken in das beginnende Dämmerlicht des frühen Abends starrend. Und voller Neid musste er an den Zellaktivator denken, den der Überschwere von MODROR erhalten hatte, und der somit in die kleine Riege der potentiell Unsterblichen erhoben wurde.

Auch für ihn selbst ergaben sich völlig neue Perspektiven. Imperator Bostich I. war gegenüber MODROR nur ein Winzling. Sicherlich verfügte Bostich über enorm viel Macht, und wenn der Imperator es geschickt anstellte, konnten die Arkoniden wirklich noch zu seinen Lebzeiten wieder zur vorherrschenden Rasse in der Milchstraße werden. Aber Bostich hatte nicht die Möglichkeiten oder Fähigkeiten einer übergeordneten Entität. Er konnte keine Zellaktivatoren vergeben, Körperlosen keine neuen Körper schenken, und nicht nahezu nach Belieben schalten und walten, so wie es MODROR tat...

Es bot sich ihm die einmalige Gelegenheit, die andauernde Gängelei und Abhängigkeit vom Heimatsystem in der Milchstraße abzuschütteln und trotzdem ein gehöriges Machtpotential im Rücken zu haben, das seine Stellung stärkte und für neue, ehrgeizigere Pläne Möglichkeiten bot. Und wer weiß – wenn er sich bewährte, sprang vielleicht sogar das ewige Leben für ihn dabei heraus. Der Gedanke erheiterte ihn über alle Maßen: Er würde – vor Kraft und Vitalität strotzend – am Sterbebett des Imperators stehen und voller Ironie die letzten Sekunden seines Lebens beobachten.

»Ich könnte mich mit dem Gedanken anfreunden, im Sinne MODRORs zu agieren«, sagte er schließlich zu dem Überschweren.

Leticron hatte sich inzwischen beruhigt und musterte den Arkoniden aufmerksam. Jenmuhs begriff schnell und kalkulierte in kürzester Zeit mögliche Konsequenzen, stellte er in Gedanken fest. Er würde brauchbare Ergebnisse für ihre Sache erzielen, und nur darauf kam es an.

»Es ist im Sinne MODRORs, dass Cartwheel eine selbständige und unabhängige Galaxis wird, deren Geschicke nicht länger durch die Völker in den Heimatgalaxien bestimmt wird. Und es ist wichtig, dass Arkoniden und Pariczaner in dieser Galaxis der Selbstbestimmung eine bedeutende Rolle spielen.«

Die Reihenfolge, in der Leticron die bedeutenden Völker Cartwheels genannt hatte, gefiel Uwahn Jenmuhs außerordentlich. Er nickte zustimmend.

»Ziel der Ratsversammlung muss es sein«, fuhr der Überschwere fort, »dass wir Unabhängigkeit für Cartwheel erreichen. Oder zumindest den Grundstein dafür legen. Das Friedensangebot, das uns Cauthon Despair von MODROR überbracht hat, relativiert die Bedrohung für DORGON deutlich. Ein Cartwheel als Polizei- und Einsatztruppe macht eigentlich keinen Sinn mehr. Aber...« Leticron grinste schief. »...man kann ja auch nicht alle Vorsicht fahren lassen!« Er schaute nachdenklich in den Himmel. »Das werden natürlich auch die anderen Delegierten denken, und wir werden sie dabei kräftig unterstützen. Selbst Perry Rhodan wird es sich nicht leisten können, eine womöglich trotzdem weiter bestehende Gefahr durch MODROR zu ignorieren.«

Leticron deutete nach vorne und die beiden Männer setzten ihren Weg fort. »Aber wie immer wird er eine für alle Beteiligten zufriedenstellende Lösung finden«, knurrte er gehässig.

Sie kehrten in einer weiten Schleife zum Eingangsportal zurück, viele Details wurden dabei besprochen. Bevor sie in den unmittelbaren Bereich vor dem Ratsgebäude hinaustraten, hielt Leticron den arkonidischen Regenten noch einmal zurück.

»Ich betrachte den Pakt als geschlossen!«

Uwahn Jenmuhs nickte heftig und wollte zu einer wortreichen Antwort ausholen.

Der Überschwere deutete ihm mit einer herrischen Bewegung zu schweigen. »Dir ist klar, dass es kein Zurück mehr gibt. Und du weißt aus meiner Vergangenheit, wie ich mit Verrätern umzugehen pflege.«

Seine Worte waren bar jeder Aggression. Dann wandte er sich einfach ab und marschierte mit schweren Schritten auf das Eingangsportal zu, um kurze Zeit später darin zu verschwinden.

Zurück blieb ein deutlich blasserer Uwahn Jenmuhs, dessen Kehlkopf nervös hüpfte. Ihm war klar, dass er sich hier auf den Tanz mit einer Bestie eingelassen hatte.

*

Perry Rhodan trat an Cauthon Despair heran, als dieser den großen Ratssaal verließ und auf die umlaufende Galerie hinaustrat. Der silberne Ritter war allein. Für Despair waren die meisten Delegierten unbedeutend und er legte keinen Wert auf ihre Gesellschaft. Andererseits fühlten sich die Regenten der Cartwheel-Völker in seiner Gegenwart nicht wohl. Er war für sie wie mit einer mystischen Aura umgeben. Ein Umstand, der ihm eigentlich nur Recht sein konnte.

Der unsterbliche Terraner kannte solche Voreingenommenheiten nicht. Er hatte in seinem langen Leben schon viele schillernde, mysteriöse und unglaubliche Persönlichkeiten kennen gelernt. Die Erscheinung von Despair konnte ihn nicht beeindrucken. Außerdem kannten sie sich ja schon.

»Ich würde gerne unter vier Augen mit dir sprechen, Cauthon«, sagte Rhodan freundlich und deutete dabei auf den Eingang zu einem der an die Galerie angrenzenden kleinen Besprechungsräume.

Auf dem breiten Gang, der den Ratssaal wie einen Ring umschloss, herrschte reger Betrieb. Die Regenten trafen sich mit anderen Mitgliedern ihrer Delegation, standen in kleinen Gruppen zusammen, diskutierten mit den Vertretern anderer Völker. Ausschließlich die vorangegangene und so turbulent unterbrochene Versammlung war Inhalt der unzähligen Gespräche. Es wurde weiterhin heftig debattiert, teilweise mit sehr viel emotionalem Engagement.

Der silberne Ritter nahm die Einladung Rhodans mit einem Kopfnicken an. Seite an Seite durchquerten sie den Gang, wurden von Delegierten gekreuzt, die mit geschäftigem und schnellem Schritt in Richtung Ausgang strebten. Sie blickten in die erhitzten Gesichter leidenschaftlich argumentierender Männer und Frauen – und blieben plötzlich wie angewurzelt stehen.

Vor den beiden hatte sich Nor'Citel aufgebaut. Der Überschwere war wie aus dem Nichts aufgetaucht – zumindest war er Perry Rhodan nicht aufgefallen – und stand nun wie ein Fels vor ihnen. Der Blick des Terraners wanderte zu den beiden Fäusten an den gerade herabhängenden Armen des Pariczaners, die sich wie unter Krämpfen immer wieder öffneten und schlossen. Der gesamte Körper wirkte seltsam angespannt, und Rhodan glaubte sogar ein leichtes Beben der gewaltigen Muskelberge und Fleischmassen zu bemerken.

Als er in das breitflächige Gesicht des Überschweren sah, stieg jäh ein ungutes Gefühl der Vorahnung in ihm auf. Nor'Citel war hochgradig erregt und schien seine Emotionen nur mühsam unter Kontrolle zu haben. Perry Rhodan machte sich auf alles gefasst.

Ich spürte, wie mein neuer, junger Körper vor Erregung bebte, Adrenalinstöße durch die Adern gepumpt wurden, der Muskelapparat vor heißer Erwartung zu glühen begann. Die Hitze der Rache durchpulste jede Faser meines Körpers – die Rache, auf die ich über tausend Jahre warten musste, gefangen in der Säule aus PEW-Metall in den Tiefen des Saturnmondes Titan, in den verfallenen Ruinen der ehemaligen Stahlfestung.

Wie Blitzlichter zuckten die Bilder der Vergangenheit durch meinen Geist, so klar und deutlich als wäre es erst gestern geschehen. Der Kampf mit dem verhassten Maylpancer, der Moment als er... und schließlich mein Tod. Die Flucht meines Bewusstseins in die Säule aus PEW-Metall. Wie in einem Kaleidoskop zogen die Bilder an meinem inneren Auge vorüber.

Plötzlich verengte sich mein Gesichtsfeld. Schwarze Balken schoben sich von links und rechts und oben und unten vor meine Wahrnehmung, ließen sie zu einem kleinen leuchteten Punkt zusammenschrumpfen, der schließlich mit einem hellen Gleißen verschwand. Dunkelheit in meinem Geist! Das Vergessen! Sie ließen mich in meinem Gefängnis und haben mich dann einfach vergessen! Jahrhundert um Jahrhundert in der Einsamkeit, der Finsternis, der Kälte... des Todes... den ich in der Ewigkeit zu lieben gelernt habe.

Eisige Klammern legten sich um mein Herz, versuchten das Schlagen zu drosseln, zu beenden. Um mich spürte ich die Kälte der verfallenen Mauern der Stahlfestung, die bedrohliche Lautlosigkeit des Ewigen und Immerwährenden kriecht in mein Bewusstsein. Es war alles nur Fiktion! Ein Produkt meines dem Wahnsinn nahen Geistes! Cau Thon war niemals hier, hat mich nie aus meinem Kerker befreit! Panik überflutet meine Gedanken und unendliche Verzweiflung, die wie ein Schwarzes Loch mein Ich zerfetzt, die Bruchstücke an sich reißt und verschlingt. Alles nur Fiktion!

Ich keuchte entsetzt auf. Schlagartig wurde es wieder hell um mich herum, Stimmengewirr drang in meine Gedanken. Ich starrte in das erschrockene Gesicht eines Dorgonen, der hastig ein, zwei Schritte vor mir zurück wich, sich dann hastig umwandte und schleunigst verschwand. Ein schneller Rundumblick überzeugte mich davon, dass sonst niemand den Vorfall mitbekommen hatte. Ich verfluchte meine emotionale Unausgeglichenheit, die Trugbilder, die meine aufgestachelte Psyche mir vorgaukelte. Aber der Zeitpunkt der Rache war so nahe! Das Gefühl der Beklemmung und des Eingesperrt seins wich wieder dem Fieber des Bevorstehenden.

Dort drüben stand Perry Rhodan, der gerade Cauthon Despair, den silbernen Ritter ansprach. Rhodan, mein schlimmster Widersacher seit über tausend Jahren.

Rhodan, der nicht wusste, dass ich aus meinem kalten, einsamen Grab auferstanden war.

Rhodan, der sich mit seinem überzogenen Moralvorstellungen und ethischen Grundsätzen als der Beschützer der Milchstraße und ihrer Völker aufspielte.

Rhodan, der sich anmaßte, mit seiner Menschheit einen Dritten Weg zu gehen, vorbei an den Kosmokraten und Chaotarchen.

Thoregon! Pah!

Pure Verachtung brodelte in mir hoch.

Rhodan, dieser alles wissende, alles könnende, alles beherrschende Rhodan.

Rhodan, dieser verhasste Rhodan!

Ich spürte, wie meine Fingerspitzen zu zucken anfingen, die Hände sich zu verkrampften Fäusten ballten. Ich tat einen schweren und doch zaghaften Schritt vorwärts. Mit meinen mutantischen Sinnen als Handlungsahner erkannte ich, dass die beiden einen Besprechungsraum nahe des Eingangs zum Ratssaal aufsuchen wollten.

Mein Entschluss stand fest. Zügig bahnte ich mir einen Weg durch die Gruppen und Grüppchen von Männer und Frauen, schob mich seitlich an Rhodan und Despair heran. An einer großen Traube von Delegierten und Beamten vorbei, trat ich direkt in den Weg der beiden Männer.

Sie blieben ruckartig stehen. Rhodan starrte wie gebannt auf meine Hände, die sich immer wieder, wie bei einer motorischen Störung, zu Fäusten ballten und wieder öffneten. Ich konnte das einfach nicht abstellen. Dann starrte mir Rhodan direkt ins Gesicht, und ich musste mit Genugtuung feststellen, dass der unsterbliche Terraner erblasste. Oder bildete ich mir das nur ein?

Ich war meinem Ziel so unglaublich nahe! Endlich Rache! Wie ferngesteuert hob ich meine Arme. Ich brauchte sie nur auszustrecken, meine Hände um den dünnen Hals des Terraners zu legen und zuzudrücken. Endlich Rache! Zuzudrücken bis die Halswirbelsäule des Unsterblichen mit einem trockenen Krachen splitterte, der dann nicht mehr unsterblich war, sondern seinen letzten Atemzug zwischen meinen Händen aushauchte.

Ich wollte gerade den entscheidenden Schritt nach vorne tun, als mein Blick auf Cauthon Despair fiel, der reglos neben Perry Rhodan stand. Ich spürte, wie sich Despairs Blicke, verborgen hinter den Sehschlitzen des Raumhelms, förmlich in mein Gesicht fraßen, versuchten, in mein Inneres vorzudringen. Plötzlich verschob sich meine Wahrnehmung, so als würden zwei Hologramme mit unterschiedlichen Szenen übereinander projiziert werden. Für kurze Zeit wurde mir schwindelig und ich konnte mich nicht richtig orientieren, dann war dieses unangenehme Gefühl vorbei.

Entsetzt ließ ich meine Hände sinken. Was hätte ich nur beinahe angerichtet? Die Pläne MODRORs! Es war jetzt noch nicht an der Zeit! Wieder verfluchte ich meine unkontrollierten Emotionen, schrie meinen Zorn und meine Wut gedanklich heraus. Nicht jetzt! hämmerte ich mir ein, versuchte meine brodelnden Gefühle in den Griff zu bekommen. Nach entsetzlich langen Sekunden hatte ich mich wieder unter Kontrolle. Die beruhigenden, gleichmäßigen Signale des Zellaktivators taten ein Übriges.

Schließlich sagte ich, statt seinen Hals umzudrehen: »Deine Arroganz ist schon beinahe impertinent, Perry Rhodan!«

Perry Rhodans Haltung entspannte sich etwas. Nor'Citel ließ in einer langsamen Bewegung seine mächtigen Arme sinken. Für einen Moment hatte er geglaubt, der Überschwere wollte ihn angreifen. Zumindest seine Gemütsverfassung schien nicht im Gleichgewicht zu sein. Er machte einen emotional aufgewühlten Eindruck, was zwar für einen Pariczaner grundsätzlich keine Besonderheit darstellte, in diesem Fall jedoch das Maß des Üblichen überschritt.

»Deine Arroganz ist schon beinahe impertinent, Perry Rhodan!« dröhnte Nor'Citel los.

Schlagartig verstummten alle Gespräche um sie herum. Alle Gesichter wandten sich ihnen zu und in manch einem konnte Perry die Lüsternheit und Gier nach einer Sensation erkennen.

Er bekam eine Ahnung davon, was in dem pariczanischen Regenten vorging.

Die Versammlung scheint nicht gänzlich in seinem Interesse verlaufen zu sein, dachte er ironisch. Äußerlich blieb er völlig ruhig und ließ die Provokation an sich abprallen.

»Das ist deine Meinung, Nor'Citel«, antwortete er distanziert, aber nicht unterkühlt. »Was möchtest du von mir?«

»Dass du dich nicht immer in die Belange und Interessen anderer Völker einmischst. Deine Geltungssucht und Besserwisserei kannst du an deinen Terranern auslassen. Die scheinen ja einen Narren an dir gefressen zu haben, wie ihr so schön zu sagen pflegt.« Nor'Citel verzog seinen Mund zu einem schiefen, fast abfälligen Grinsen.

Rhodan entging die subtile Gradwanderung zwischen Beleidigung und diplomatischer Aggressivität nicht. Nor'Citel hatte sich wieder soweit in der Gewalt, dass er eine solch differenzierte verbale Auseinandersetzung beinahe schlafwandlerisch bewältigte. Und er schien Gefallen daran zu finden, wie Perry Rhodan feststellen musste. Der Pariczaner schien sich eindeutig als der Überlegene und im Recht zu sehen. Der Terranische Resident kannte solche Auseinandersetzungen aus dem Laufe seines Lebens zur Genüge, als dass er sich davon hätte aus der Reserve locken lassen.

Um seine Lippen spielte ein offenes Lächeln, als er jovial antwortete: »Du weißt doch, dass ich nur in beratender Funktion hier auftrete – und natürlich die Interessen Terras vertrete. Was sicherlich auch für dich einleuchtend ist.« Diese kleine Spitze konnte er sich einfach nicht verkneifen. »Es sollte sich keines der Völker, die an DORGONSs kosmischem Projekt teilnehmen, in irgendeiner Weise gegängelt fühlen.«

Dabei schaute er auffordernd in die Runde und suchte den direkten Blickkontakt zu den Umstehenden. Einige nickten bestätigend, andere blickten trotzig, fast finster, zurück. Wieder andere senkten den Kopf, um einer Beurteilung seiner forschenden Augen zu entgehen.

Auch Nor'Citel ließ seinen Blick schweifen und musste feststellen, dass es durchaus einige Sympathisanten gab, die auf seiner Seite standen. Es schlug ihm aber auch Ablehnung aus den Reihen der Regierungs- und Ratsmitglieder entgegen, die sein forsches und aggressives Verhalten verurteilten.

»Das soll jedes Volk für sich selbst entscheiden!« rief er lautstark, damit es auch sicher jeder hören konnte.

Unruhiges Gemurmel antwortete ihm. Leticron nahm es befriedigt zur Kenntnis. Jetzt senkte er die Stimme fast zu einem Flüstern – für die Verhältnisse eines Überschweren – ab und beugte sich leicht in Rhodans Richtung vor.

»Ich möchte nur, dass du die Meinung des pariczanischen Volkes kennst und dich danach richtest.« Dann richtete er sich wieder zu seiner vollen Größe auf und blickte beinahe herablassend auf Rhodan hinunter. »Wir fühlen uns gegängelt!«

Damit ließ er Rhodan und Despair stehen und stapfte Richtung Ausgang. Er hatte erreicht was er wollte, da war er sich sicher. Das hektische Stimmengewirr, das hinter ihm auf einmal los brach, bestätigte seine Einschätzung.

 

12. Aufzeichnung der Überwachungssonde SP-0714

Mankind, IMPERIUM ALPHA

28. März 1298 NGZ, 14:25 Uhr Ortszeit

Missmutig starrte Stephanie von Siniestro auf die Datenzeilen, die im Holodisplay vor ihr vorbei wanderten. Der Syntron hatte die Anzeige an ihre Lesegeschwindigkeit angepasst, so dass sie die detaillierten Informationen mühelos in sich aufnehmen konnte. Vornüber gebeugt saß sie an ihrem Schreibtisch, die Ellenbogen auf der Arbeitsplatte abgestützt, das Kinn in ihren aneinander gelegten Handballen ruhend.

Vor ihren Augen wurden die Zahlungsverpflichtungen des Terrablocks für die nächsten drei Monate aufgelistet. Ihre Suche hatte sie nach Zahlungen jenseits der 100-Millionen-Galax-Grenze eingeschränkt. Das Ergebnis aber war frustrierend.

Hier lässt sich nichts machen, dachte sie ernüchtert. Alle Ausgaben sind notwendig und sinnvoll. Hier willkürlich Streichungen vorzunehmen, wäre töricht.

Sie schloss erschöpft die Augen. Die Darstellung der Datenzeilen im Display stoppte. Der Syntron hatte ihre Unaufmerksamkeit registriert.

Aber irgendwo muss ich die Kosten für die Eskapaden meines Bruders wieder hereinholen. Zumindest einen Teil davon! Leichter Zorn über die Unbeherrschtheit Peters wallte in ihr hoch. Der Marquês – Vater! – kann eine solche Investition ohne entsprechende Finanzierungssicherheit niemals vor der Öffentlichkeit rechtfertigen.

Sie atmete tief ein und aus und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Holodisplay.

»Weiter«, murmelte sie, und konzentrierte sich auf die Datenkolonnen, die sich neuerlich über das Anzeigefeld bewegten.

Schließlich wurden ihre Hartnäckigkeit und Geduld belohnt.

»Stopp!« rief sie laut.

Die Darstellung im Display fror ein.

»Syntron, erläutere die vorgesehene Zahlung im Mai 1298 an den BAMBUS-Unterstützungsfond!«

»Die Zahlung von 10 Millionen Galax ist die dritte von insgesamt fünf Teilzahlungen mit der Gesamtsumme von 40 Millionen Galax, mit der sich der Terrablock an dem Fonds zur Unterstützung Geschädigter und Hinterbliebener der BAMBUS-Katastrophe beteiligt.«

Auf Stephanie von Siniestros Stirn erschien eine steile Falte. BAMBUS-Katastrophe? Das sagt mir gar nichts...

»Was war die BAMBUS-Katastrophe, Syntron?«

»Mitte des Jahres 1296 NGZ stürzte das Raumschiff BAMBUS auf dem Planeten Xamour ab, als es von Dscherro angegriffen wurde. Bei dem Unglück und der nachfolgenden Geiselnahme durch die Dscherro kamen 739 Passagiere sowie 167 Soldaten des cartwheelschen Befreiungskommandos ums Leben. Don Philippe Alfonso Jaime Marquês de la Siniestro hat zusammen mit der Sozialbeauftragten Uthe Scorbit einen Hilfsfonds für die Geschädigten und Hinterbliebenen der Katastrophe eingerichtet.«

Auf dem Gesicht der jungen Frau erschien ein triumphales Lächeln.

Das ist es! Was für eine rührende Gefühlsduselei, dachte sie. Und so völlig unnütz! Geld bringt die Toten auch nicht wieder zurück.

Manchmal musste sie sich über ihren Vater schon wundern. Dass er sich zu so etwas hinreißen ließ?

Mit einem Ruck stand sie auf und hieb mit der flachen Hand auf den Deaktivierungssensor ihres Schreibtisches. Das Holodisplay fiel in sich zusammen.

»Syntron, besagte Zahlung an den BAMBUS-Unterstützungsfond und alle folgenden Zahlungen stornieren!«

»Die verbleibenden Zahlungen in Gesamthöhe von 20 Millionen Galax wurden storniert«, kam die Bestätigung sofort.

Zwar bei weitem nicht so viel wie nötig, aber immerhin etwas! Mit einem Gefühl der Erleichterung verließ Stephanie von Siniestro ihr Arbeitszimmer.

 

13. Mankind, IMPERIUM ALPHA

28. März 1298 NGZ, 18.45 Uhr Ortszeit

Uthe Scorbit trank den heißen, belebenden Tee mit kleinen, vorsichtigen Schlucken. Sie stand am Panoramafenster ihres Büros und starrte nachdenklich auf das pulsierende Leben der Stadt New Terrania. Die Sonne hatte sich bereits hinter den Silhouetten der riesigen und trotzdem anmutig wirkenden Wohnblöcke, Bürogebäude und Einkaufszentren verborgen. Die Dämmerung brach über New Terrania herein und ließ die Umgebung in einem allgemeinen Grau und Blau verschwimmen. Die Neonreklamen und Lichtquellen in den Straßen wirkten wie Inseln in einem stillen und grauen Ozean, das pulsierende Leben aus Körpern, Gleitern und Transportbändern wie quirlende und rauschende Strömungen in der sonst ruhigen und stillen Oberfläche.

Sie drehte sich mit einem Seufzer um und setzte sich wieder hinter ihren Schreibtisch, die halb leere Tasse mit ihrem Lieblingstee stellte sie vor sich auf die Arbeitsplatte. Uthe Scorbit hatte ihr Tagespensum fast geschafft, nur Routinearbeiten mussten noch erledigt werden. Und dann? Ein Lächeln huschte unversehens über ihre Lippen. Remus – ihr Mann – würde heute für zwei Tage nach Hause kommen. Das erste Mal seit mehreren Wochen! In ihren gemeinsamen Visiophongesprächen hatte er ihr angedeutet, dass die Ausbildung in Redhorse Point kein Zuckerschlecken war. Auch er freute sich sehr darauf, den Mühlen der Militärakademie für wenige Tage zu entkommen.

Wieder kam ein Seufzer über ihre Lippen, mit dem sie die verbleibenden, lästigen aber unaufschiebbaren Aufgaben bedachte.

»Syntron, die Meldungen und Nachrichten des Tages mit niedriger Priorität anzeigen.«

Vor ihr entstand ein Holodisplay mit dunklem Hintergrund, in dem die Informationen sortiert nach dem Zeitpunkt ihres Eingangs in einer hellen und gut lesbaren Schrift aufgelistet wurden. Bedächtig überflog Uthe Scorbit die Überschriften und Schlagwörter, die der Syntron zur leichteren Orientierung aus den Meldungsinhalten generiert hatte.

Plötzlich stutzte sie. »Lese die Meldung des Verbundrechners der Finanzkammer von 15 Uhr 43 Ortszeit vor«, forderte sie den Syntron mit rauer Stimme auf.

»Routine-Information des Verbundrechners der Finanzkammer an die an der Sache Fonds zur Unterstützung Betroffener und Hinterbliebener der BAMBUS-Katstrophe beteiligten Personen: Die ausstehenden und avisierten Zahlungen des Terrablocks in Gesamthöhe von 20 Millionen Galax wurden storniert.«

Uthe Scorbit runzelte irritiert die Stirn und hielt unwillkürlich den Atem an. Nur mühsam konnte sie sich den Inhalt der Nachricht begreiflich machen. Warum sollte der Marquês die Zahlungen des Terrablocks stornieren? Schließlich hatte er mit ihr zusammen den Fonds ins Leben gerufen. Prustend ließ sie die aufgestaute Luft aus ihren Lungen entweichen.

»Rückverfolgung! Wer hat die Stornierung durchgeführt?« wies sie den Syntron an.

Die Antwort kam nur einen Atemzug später: »Die Stornierung wurde von Stephanie von Siniestro vorgenommen.«

Sie ließ sich in ihrem Sessel zurücksinken. Ärger kochte in ihr hoch.

Warum in aller Welt storniert die Stieftochter des Marquês die Fonds-Zahlungen? dachte sie grimmig. Handelte sie in seinem Auftrag?

Es gab nur eine Möglichkeit das herauszufinden – vor Ort! Sie musste mit Stephanie persönlich sprechen!

Abrupt sprang sie auf und stieß dabei gegen die Arbeitsplatte ihres Schreibtisches. Die dunkle Flüssigkeit des köstlichen Tees schwappte aus der Tasse und bildete eine kleine Pfütze in der Untertasse. Uthe bemerkte es gar nicht. Sie war schon durch die Tür und auf den Gang hinaus.

Stephanie von Siniestro war gerade mit einem Dossier über die Pressearbeit des Terrablocks beschäftigt, welches sie bei einer unabhängigen Unternehmensberatung in Auftrag gegeben hatte, als der Türmelder summte. Die getroffenen Aussagen und Resultate des Dossiers stimmte sie nicht gerade milde. Ihr Vater schien sich in Sachen Öffentlichkeitsarbeit mit einer Reihe von Versagern zu umgeben!

»Herein!« rief sie unwillig und der Zimmerservo ließ die Tür zur Seite gleiten.

Eine junge Frau betrat mit stürmischen Schritten ihr Arbeitszimmer und eilte unverzüglich auf sie zu. Das dunkelblonde Haar der Besucherin war kurz geschnitten und ihre grünen Augen funkelten energisch. Sie mochte einige Jahre älter sein als sie selbst, von Statur und Größe her waren sie sich jedoch sehr ähnlich. Die junge Frau blieb zwei Schritte von der Sitzgruppe entfernt stehen, in der Stephanie von Siniestro es sich bequem gemacht hatte und sie nun erwartungsvoll ansah. Der rasante und selbstbewusste Auftritt der Frau hatte sie neugierig gemacht.

»Mein Name ist Uthe Scorbit...«

Stephanie schaltete sofort. Diesen Namen hatte sie erst vor wenigen Stunden gehört.

Der BAMBUS-Unterstützungsfond, dachte sie. Ich kann mir denken, was jetzt kommt.

»...ich bin die Sozialbeauftragte des Terrablocks!«

Die Tochter des Marquês deutete auf einen freien Platz in der Sitzgruppe und nickte. »Ich habe schon von dir gehört«, sagte sie unverbindlich. »Bitte setz dich doch. Was kann ich für dich tun?«

Nach kurzem Zögern nahm Uthe Scorbit Platz. Stephanie von Siniestro legte das Dossier beiseite, schlug die Beine übereinander und blickte ihrem Gegenüber mit einem offenen Lächeln direkt in die Augen. Innerlich amüsiert stellte sie fest, dass sie Uthe Scorbit damit ein wenig den Wind aus den Segeln genommen hatte.

Die Sozialbeauftragte des Terrablocks holte tief Luft. »Ihr Vater...« begann sie, zögerte dann kurz und schüttelte unmerklich den Kopf. »Der Marquês von Siniestro«, korrigierte sie sich, »und ich haben vor fast zwei Jahren einen Hilfsfonds für die Betroffenen der BAMBUS-Katastrophe eingerichtet.«

Sie machte eine kurze Pause, wartete auf eine Reaktion. Doch Stephanie schaute sie nur unverwandt an.

»Ich wurde davon unterrichtet, dass die verbleibenden und zugesagten Zahlungen des Terrablocks in diesen Fonds heute von dir storniert wurden!« Ihre Erregung steigerte sich wieder sichtlich. »Und ich möchte gerne wissen, warum?«

Die Frau hat Courage, kommt ohne Umschweife sofort auf den Punkt, dachte Stephanie mit leichter Anerkennung. Zugleich wurde ihr bewusst, dass sie in Uthe Scorbit eine Kontrahentin gefunden hatte, eine Gegenspielerin. Die Sozialbeauftragte würde sich jetzt und in Zukunft nicht mit fadenscheinigen Erklärungen abgeben und zweifelhaftem Vorgehen massiv entgegentreten, sofern es ihre Kompetenz und ihre Möglichkeiten erlaubten. Sie musste höllisch aufpassen! Durch eine Uthe Scorbit wollte sie ihre hehren Pläne nicht gefährden lassen.

»Der Fonds musste sich gewissen Einsparungsmaßnahmen beugen«, antwortete sie.

»Einsparungsmaßnahmen?« fragte Uthe Scorbit gedehnt. Sie runzelte die Stirn und überlegte, ob ihr irgendwelche außerordentlichen Ausgaben oder Investitionen des Terrablocks in den Sinn kamen. Aber ihr viel nichts Entsprechendes ein.

»Das verstehe ich nicht«, sagte sie deshalb. »Der Haushalt für das Jahr 1298 ist doch verabschiedet, und die Zahlungen für den Fonds sind dort berücksichtigt.«

»Das ist richtig.« Stephanie von Siniestro spürte ein leichtes Unbehagen in sich hoch steigen. »Es handelt sich auch um eine außerordentliche Investition.«

Uthe Scorbit beugte sich in ihrem Sessel vor: »Die wäre?« Die Frage hatte einen lauernden Unterton. Hier stimmte doch etwas nicht.

»Das geht dich nichts an!« Stephanie von Siniestros Stimme klang scharf. Ihr Gesicht wurde zur steinernen Maske und sie musste an sich halten, vor Zorn und Wut nicht aufzuspringen.

Anders hingegen Uthe Scorbit. Sie hielt nichts mehr in ihrem Sessel. Vehement sprang sie auf und rief: »Und ob mich das etwas angeht. Als Sozialbeauftragte bin ich schließlich Mitglied des Führungsgremiums des Terrablocks!«

Das stimmt allerdings, musste die Stieftochter des Marquês in Gedanken zugeben. Sie zwang sich mit äußerster Willensanstrengung ruhig sitzen zu bleiben und sich auch sonst den Anschein einer selbstbewussten und autoritären Frau zu geben. Aber sie musste jetzt mit der Wahrheit herausrücken. Alles andere könnte sich später als Bumerang herausstellen.

»Es wurde der Bau eines neuen Flaggschiffes beauftragt. Die neue 5000-Meter-Klasse, du verstehst? Das kostet einiges und da muss jeder Opfer bringen.«

»Ein neues Flaggschiff...« murmelte Uthe Scorbit fassungslos und für lange Sekunden herrschte Schweigen. »Aber die 20 Millionen Galax Einsparung aus dem Fonds sind doch nichts im Vergleich zu den Anschaffungskosten für ein Raumschiff – vor allem ein Raumschiff dieser Größenordnung! Das bringt doch nichts!«

»Irgendwo muss man anfangen«, entgegnete Stephanie von Siniestro kühl.

»Aber nicht im sozialen Bereich! Nicht bei meinem Fonds!« Uthe hatte sich in Rage geredet. Am liebsten hätte sie mit der Faust auf den Couchtisch geschlagen.

»Ich wiederhole es gerne noch einmal: Irgendwo muss man anfangen!« Die Stieftochter des Marquês war jetzt ein Eisklotz in Person. Alle Emotionen ließ sie an sich abprallen. Was wollte diese Frau überhaupt von ihr? Sie hatte ihr nichts zu sagen!

»Weiß der Marquês darüber Bescheid?« fragte sie Uthe aggressiv.

»Es war meine Entscheidung.« Kühle. Distanz. Eine Mauer aus Arroganz und Überheblichkeit.

Wieder war es an Uthe Scorbit, für Sekunden sprachlos zu sein. »Was bildest du dir überhaupt ein!« schnappte sie schließlich.

Stephanie von Siniestro riss der Geduldsfaden. Herrisch stand sie auf, ihre Augen funkelten Uthe Scorbit angriffslustig an. »Ich bin von meinem Vater mit den notwendigen Vollmachten ausgestattet worden«, antwortete sie eisig. »Und wenn ich zu dem Ergebnis gekommen bin, dass die Zahlungen in deinen Fond« – hier sprach sie abfällig – »nicht weiter tragbar sind, dann hat das schon seine Richtigkeit. Deine Einwände habe ich zur Kenntnis genommen! Und nun verlasse mich bitte! Ich habe zu tun.« Mit den letzten Worten deutete sie mit ausgestrecktem Arm auf die Tür.

Uthe Scorbit wurde rot vor Zorn. Sie ballte die Fäuste vor Wut. Am liebsten hätte sie dieser arroganten Ziege eine geknallt. Aber das war nicht ihr Stil.

»Wir sprechen uns noch«, quetschte sie zwischen den Zähnen hervor. Dann drehte sie sich abrupt um und verließ den Raum.

 

14. Verhandlungssache

Am zweiten Tag der Konferenz wollte Perry Rhodan unbedingt Erfolge erzielen. Die Verhandlungen liefen äußerst zähflüssig, doch im Laufe des Tages änderte sich die Meinung vieler Delegierter. Insbesondere die Arkoniden pochten nun auf die Unabhängigkeit, was Perry Rhodan sehr verwunderte.

Er konnte auch nicht ahnen, dass Uwahn Jenmuhs einen geheimen Pakt mit Leticron eingegangen war.

Es kam zur geheimen Abstimmung der Delegierten und 47 von 51 stimmten dafür. Allerdings legte offiziell dann kein Volk Einspruch gegen diese Entscheidung ein. Das bedeutete, dass auch die vier Völker, die dagegen waren, sich dem Entschluss der Mehrheit beugten.

Perry Rhodan war zufrieden. In den folgenden Stunden wurde eine Agenda aufgesetzt. Die erste Cartwheel-Agenda. Sie hatte die folgenden Punkte:

Cartwheel soll eine von den Heimatgalaxien unabhängige Galaxis werden.

Die momentane Regierungsweise bleibt bestehen. Die Völker werden durch regionale, gewählte Repräsentanten regiert. Das Paxus-Parlament entscheidet in Fragen, die alle Völker angehen. Der Paxus-Rat ist das höchste Organ in Cartwheel.

Die Bewohner Cartwheels agieren im Sinne DORGONs und errichten eine Festung gegen die Armeen MODRORs.

Cartwheel geht einen Bund mit den Thoregon-Galaxien und den Heimatgalaxien der jeweiligen Völker ein, der einen Angriff auf der im Bund befindlichen Galaxien verbietet und einen Hilfepakt bei Angriffen Fremder garantiert.

Die Verfassung von Paxus, die im September 1296 NGZ in Kraft trat, gilt für alle Völker in der Galaxis Cartwheel.

Die Völker sollen friedlich und brüderlich auf der Insel koexistieren, einander respektieren, helfen und tolerieren.

Sollte sich in den nächsten 50 Jahren kein Angriff von MODROR und seinen Gefolgsleuten auf einer der im Bund befindlichen Galaxien oder auf Regionen, die nachträglich diese Galaxien schädigen könnten, erfolgen, haben die Völker das Recht, von dem Projekt DORGONs zurückzutreten.

Die Agenda wurde verabschiedet. Abschließend wurde entschieden, dass man einen Vertrag aufsetzten würde, den die Regierungsoberhäupter der Heimatgalaxien unterzeichnen müssten. Perry Rhodan trat mit einem Lächeln ans Rednerpult und blickte zu den Delegierten. Kugelförmige Kamerasonden schwebten um ihn herum.

»Völker von Cartwheel! Heute ist ein historischer Tag in der noch jungen Geschichte dieser Galaxis. Die Agenda der Insel ist verabschiedet worden. Die Verträge zur Unterzeichnung der Unabhängigkeit sind aufgesetzt und in diesem Moment bricht die IVANHOE zu den Heimatgalaxien auf, um die Verträge von den dortigen Regenten des jeweiligen Volkes unterzeichnen zu lassen. Ich habe eine Botschaft von mir mitgeschickt, in der ich mich für die Unabhängigkeit einsetze. Sobald diese Verträge unterzeichnet sind, ist Cartwheel eine unabhängige Galaxis!«

Tosenden Beifall erntete Perry Rhodan. Sein Gesicht wurde ernst, als er mit der Rede fortfuhr: »Dennoch appelliere ich an die junge Nation Cartwheel, weiterhin wachsam zu sein. Die Gefahr durch MODROR scheint gebannt, doch wir haben keine Garantien. Der SONNENHAMMER ist eine gefährliche Waffe und kann eine ganze Galaxie vernichten. Wir wissen nicht, was für verheerende Waffen MODROR noch besitzt. Seine Söhne des Chaos streifen wie die apokalyptischen Reiter durch das Universum und stiften Chaos.

Seid daher wachsam und lebt als Symbiose zusammen. Jedes Volk braucht das andere bei diesem Aufbau. Lebt als Brüder, egal ob Terraner, Arkonide, Blue, Topsider, Somer, Kartanin oder Dscherro. Ihr seid eine Galaxis, ein Volk, welches brüderlich zusammenstehen soll in Zukunft.«

Dem hatte Rhodan und auch sonst niemand mehr etwas hinzuzufügen. Eine warme Stille trat ein. Jeder verinnerlichte sich diese Worte, doch es gab welche, die genau wussten, dass diese Worte nicht eingehalten werden konnten: Leticron und Uwahn Jenmuhs waren zwei von den dreien...

*

Perry Rhodan war voll und ganz zufrieden. Etliche Journalisten scharrten sich um ihn, doch er lehnte für den heutigen Nachmittag alle Interviews ab. Jetzt wollte er nur noch seine Ruhe haben. Kaum hatte er das Parlamentsgebäude verlassen, blickte er auf den 340 Meter hohen CASSADO-TOWER, der nur noch von dem Paxus-Parlament mit seinem 700-Meter-Turm überboten wurde. Und natürlich von der LEIF ERICSSON, die etwa zwei Kilometer vom CASSADO-TOWER entfernt stand.

Sam und Joak Cascal traten an Rhodans Seite.

»Eine gute Rede, Sir«, lobte Cascal den Terranischen Residenten.

Rhodan lächelte und legte seine Hand auf Cascals Schulter. »Nun, ich hoffe, dass Sie ein Auge auf alle haben werden. Unabhängigkeit ist eine wundervolle Sache, doch in den falschen Händen kann sie viel Unheil anrichten.«

Cascal nickte stumm. Die beiden gingen alleine in Richtung des gewaltigen CASSADO-TOWERs, um zur LEIF ERICSSON zu gelangen.

Ein neues Zeitalter für Cartwheel war angebrochen.

ENDE

 

 

Cartwheel emanzipiert sich von ihren Heimatgalaxien. Perry Rhodan unterstützt diesen Schritt, damit sich die Bevölkerung nicht wie unterdrückte Kolonisten fühlen könnten. Doch nicht alles ist so rosig. Der jülziische Supermutant sinnt auf Rache. Mehr darüber schreiben Nils Hirseland und Roman Schleifer in Band 45 Rijon, der Supermutant.

 

 

 

Kommentar

Die Geister, die ich rief...

Es herrscht nicht nur eitel Sonnenschein. Die Firma SHORNE INDUSTRIES, die ebenfalls auf die Insel wechselte, beschäftigt sich mit Genmanipulationen an ahnungslosen Terranern und anderen Völkern um sich eine (etwas) andere Machtbasis zu schaffen. Egal ob es sich um Jeanne Blanc, der Empathin und Telekinetin, oder um Hank Lane, den mit Tiergenen behandelte Wrestler, handelt. Auch die anderen Wesen, die genetisch verändert wurden, stellen Kreuzungen von Terranern und anderen Wesen dar oder wurden mit speziellen Medikamenten behandelt. So wurde zum Beispiel eine Terranerin mit einem Fisch gekreuzt. Der wohl gefährlichste Mutant ist aber der kleine Blue Rijon, der in jungen Jahren seiner Familie weggenommen wurde. Er ähnelt dem Supermutanten Ribald Corello und ist nur von seinem Hass beseelt, seine Familie zu rächen. Er besitzt die Fähigkeiten eines Telepathen, eines Teleporters, eines Strukturerschütterers und sogar die Fähigkeit der Suggestion.

Es ist natürlich klar, was passiert: Rijon bricht aus seinem Gefängnis aus und versucht seine Eltern wiederzufinden. Dabei stoßen die Mutanten auf eine andere Spur, denn Shorne hat auch den Versuch gestartet, prominente Leute von Mankind zu klonen. Rijon und die anderen Mutanten bringen aber das Gebäude zum Einsturz und die Klone werden vernichtet. Gucky nimmt die anderen Mutanten unter seine Fittiche, während Rijon weiterhin seinen Hass auslebt. Ob wir noch mal was von ihr hören werden?

Und Shorne? Der wurde verhaftet und wartet auf sein Urteil.

Ein altes Sprichwort sagt: »Die Geister die ich rief...«

Shorne erschuf Geister, die er nicht mehr beherrschen konnte und das wurde ihm zum Verhängnis. Eine andere Frage, die sich hier aufwirft, ist die Frage nach dem Warum. Warum begeht ein Mensch solche Gräueltaten? Nur um an die absolute Macht zu kommen? Schwer vorstellbar. Eins hat dieser Roman ganz deutlich offenbart: Shorne ist ein Mann ohne Gewissen, der über Leichen geht um an sein Ziel zu kommen. Ich bin gespannt, ob man noch mal etwas von ihm hört.

Und zum Schluss noch eine persönliche Anmerkung: Genetik ist ein heikles Thema. Sie hat durchaus ihre Berechtigung in der heutigen Medizin. Krankheiten können geheilt, neue Medikamente können hergestellt werden und so weiter. Aber die Genetik birgt auch Risiken, denn wenn man mal zu weit geht, könnten einige Leute sagen: »Die Geister, die ich rief...«

Björn Habben

 

 

GLOSSAR

Mutanten

Mutanten spielen in der PERRY RHODAN Serie eine wichtige Rolle. Die ersten Mutanten auf Terra schlossen sich früh der Dritten Macht an. Es waren John Marshall und Tako Kakutta, wenig später folgten ebenso legendäre Paras wie Fellmer Lloyd, Ras Tschubai, Anne Sloane, Ishi Matsu und Ernst Ellert.

Der bekannteste Mutant ist sicherlich Gucky, der Mausbiber.

Terraner mit Parafähigkeiten werden in der Serie als Mutanten bezeichnet. Im Perryversum traten auf Terra im 20. Jahrhundert erstmals Parabegabte auf, deren Fähigkeiten man meist mit Mutationen in Zusammenhang brachte. Diese Mutationen erfolgten im Mutterleib oder bereits durch die Veränderung des Erbguts ihrer Eltern, durch die freigesetzte Strahlung bei Atombombenexplosionen oder durch Unfälle bei Versuchen mit der Atomenergie. Bekannt waren auch spontane Mutationen ohne vorherige Einwirkung ionisierender Strahlung, wie bei Ernst Ellert, Homer G. Adams oder Allan D. Mercant.

Wesen mit mehreren Paragaben werden auch als Supermutanten oder Multimutanten bezeichnet.

Es gibt im Perryversum allerdings auch nichtmenschliche Arten, wie zum Beispiel Ilts, Mooffs, Okefenokees, Paramags, oder menschliche Volksgruppen, wie zum Beispiel Antis, Moduls, Vincraner, bei denen nahezu alle Individuen über Parafähigkeiten verfügen.

Mehr darüber in der Perrypedia: http://www.perrypedia.proc.org/wiki/Mutanten

Hank Lane

Geboren: 1253 NGZ

Geburtsort: Kanada, Terra

Größe: 1,91 Meter

Gewicht: 94 kg

Augenfarbe: braun

Haarfarbe: braun

Bemerkungen: Muskulös, sportlich, wolfsähnliches Gesicht und starker Haarwuchs, besitzt Parafähigkeiten wie ausgeprägte Instinkte und Bärenkräfte sowie eine niedrige Erholungsrate.

Lane ist ehemaliger Profi-Wrestler und hat kurz vor dem Durchbruch gestanden.

Jedoch überwirft er sich mit dem Promoter und wird arbeitslos. Als er ein Comeback startet, zieht er sich eine schwere Verletzung zu. Fortan jobbt der Einzelgänger, als er plötzlich von einem Mitarbeiter von SHORNE INDUSTRY angesprochen wird, für Shorne zu arbeiten.

Lane sagt zu und wird gegen seinen Willen mit Tiergenen behandelt. Er entwickelte ausgeprägte Instinkte, besitzt eine schnellere Regenerationszeit und wird bärenstark.

Die Kehrseite des Experiments macht sich jedoch in teilweisen Sprachverlust, starken Haarwuchs überall auf dem Körper und wolfsähnliche Verformung des Schädels bemerkbar. Daher der Beiname "Wulf".

Lane wird seitdem in den Forschungslaboren gefangen gehalten und sinnt nach Rache an Shorne.

Brad Callos

Geboren: 17.05.1262 NGZ

Geburtsort: Plophos

Größe: 1,84 Meter

Gewicht: 81 kg

Augenfarbe: grün

Haarfarbe: schwarz

Bemerkungen: Athletisch gebaut, besitzt die Fähigkeit der Teleportation durch genetische Experimente künstlich angelernt, schwarzer Humor und hat oft bissige Kommentare auf Lager, ist in Jeanne Blanc verliebt.

Brad Callos lebt auf Plophos und arbeitet als Gleitermechaniker. Irgendwie ist ihm dieser Job zu langweilig und er zieht mit seiner Frau und seinem Kind nach Cartwheel.

Dort bekommt er einen Job als Mechaniker bei SHORNE INDUSTRY. Callos fallen Ungereimtheiten bei dem Unternehmen auf und er forscht zu viel nach. Daraufhin wird Callos als Versuchsobjekt der Genetiker missbraucht. Seine Frau und Kinder werden ermordet. Callos wird genetisch verändert, so dass er mutantische Fähigkeit der Teleportation erlernt.

Jeanne Blanc

Geboren: 28.08.1260 NGZ

Geburtsort: Frankreich, Terra

Größe: 1,71 Meter

Gewicht: 64 kg

Augenfarbe: blau

Haarfarbe: rotbraun

Bemerkungen: Attraktiv, natürliche Schönheit, besitzt nach Genmanipulation die Fähigkeit der Empathie bis hin zur Telepathie und der Telekinese.

Jeanne Blanc ist Kauffrau in Frankreich gewesen. Sie lebt ein ganz normales Leben. Für ihren Geschmack jedoch zu normal. Deshalb beschließt sie dem Ruf DORGONs zu folgen, und nach Cartwheel zu reisen. Dort nimmt sie einen Job bei SHORNE INDUSTRY an.

Sie entdeckte durch Zufall die illegalen Genmanipulationen und will Shorne unter Druck setzen. Jedoch vergebens. Sie wird aus dem Weg geräumt und selbst zu Testzwecken missbraucht.

Dabei wird ihr Gehirn so manipuliert, dass sie die Fähigkeit der Empathie und bedingten Telepathie sowie Telekinese bekommt.

Als der Supermutant Rijon aus dem Forschungslager ausbricht, kann auch Jeanne entkommen.


Die DORGON-Serie ist eine nicht kommerzielle Publikation des PERRY RHODAN ONLINE CLUB e. V.  —  Copyright © 1999-2015

Internet: www.proc.org & www.dorgon.netE-Mail: proc@proc.org

Postanschrift: PROC e. V.; z. Hd. Nils Hirseland; Redder 15; D-23730 Sierksdorf

— Special-Edition Band 44, veröffentlicht am 30.10.2015 —

Titelillustration: Lothar BauerInnenillustration: Lothar Bauer

Lektorat: Jürgen Freier und Jürgen SeelDigitale Formate: Jürgen Seel