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Baretus, Ertrus, 04. August 1295

Die Nacht über Baretus war hereingebrochen. Sterne funkelten am Himmel. Der Wächter kannte sie, weil er sie fast jede Nacht zu sehen bekam. Sterne, die über diesem Planeten schon seit Millionen von Jahren leuchteten, dort immer noch leuchten würden, wenn er selbst schon tot und zu Staub zerfallen sein würde.

Fröstelnd zog er die Schultern hoch. Die Nacht war sehr klar, sie hatte nur 18 Grad Celsius, auf dem Planeten Ertrus in dieser Gegend eine eher niedrige Temperatur. Die mittleren Temperaturen lagen bei 32 Grad Celsius, aber die Nacht war doch sehr kühl geworden.

Sehnsüchtig blickte er noch einmal auf die Sterne, die seine Heimat waren, als er noch jünger gewesen war. Vor vielen Jahren hatte er noch ein Handelsschiff befehligt. Er war bekannt gewesen, berüchtigt für seinen Mut. Er hatte Regionen der Galaxis gesehen, die kaum ein Mensch jemals zu Gesicht bekommen hatte. Einen guten Riecher für das Geschäft hatte ihm dazu noch zu einem bescheidenen Wohlstand verholfen. Eines Tages, in Zentrumsnähe, war er mit Springern zusammengeraten, die ihn gut kannten. Der Patriarch hatte noch eine Rechnung mit ihm offen, er hatte ihm Jahre zuvor einen Handel kaputtgemacht. Springer vergaßen so etwas nicht. Sie waren auch dafür bekannt, rücksichtslos zu sein.

Das war das Ende seiner Handelslaufbahn gewesen. Statistisch gesehen war es sogar unwahrscheinlich gewesen, überhaupt noch am Leben zu sein. Nachdem der Springer sein Schiff zusammengeschossen hatte, war er einfach weggeflogen und hatte ihn und das Wrack in der Unendlichkeit der Zentrumsregion allein gelassen. Die meisten Mitglieder seiner Besatzung waren nicht mehr am Leben, er selbst lag mit geschlossenem Raumanzug in der Zentrale unter einer Metallverstrebung und wimmerte leise vor sich hin. Sein Helmfunk war aktiviert und er sah den Tod schon auf sich zu kommen. Die Sauerstoffanzeige war immer tiefer gesunken, so dass er schon überlegte, den Helm einfach zu öffnen. Da stand plötzlich ein Schatten über ihm. Er hatte aufgeschrien, voller Panik um sich geschlagen, schon die Schergen des Springerkapitäns vor sich gesehen, die erschienen waren, um ihm den Garaus zu machen.

Als er die beruhigende Stimme in seinem Helmfunk endlich registrierte, hatte er vor Erleichterung zu weinen begonnen. Ein terranisches Forschungsschiff lag neben seinem wracken Raumer. Sie hatten die Laute aus seinem Helmfunk gehört, waren zu einem Orientierungsaustritt nur wenige Lichtsekunden von seinem Wrack aus dem Halbraum gekommen. Immer wieder betonten sie, wie gering die Wahrscheinlichkeit gewesen war, dass so etwas hätte geschehen können.

Letztendlich war ihm das aber doch egal gewesen. Er hatte seine Freunde verloren, seine gesamte Besatzung und einen großen Teil seiner Reichtümer, die in der BARETISSIMA steckten, seinem Schiff, das ihn treu durch das Universum begleitet hatte. Es war gestorben wie seine gesamte Besatzung, alle, außer ihm.

Eine Träne schimmerte in seinem Auge. Hätte ihn in diesem Augenblick jemand gesehen, hätte er sich doch sehr gewundert. Ein Umweltangepasster, ein Koloss, ein Riese von einem Menschen, der an 3,4 g gewöhnt war, stand in der Nacht dieses Planeten, in einem Industriegebiet von Baretus, und weinte leise vor sich hin.

Er schämte sich seiner Tränen nicht. Langsam wandte er sich von dem Bild der Sterne ab und ging wieder zurück ins Innere der Fabrik. Er beschloss, einen Rundgang zu machen.

Er zog das linke Bein nach, eine alte Verletzung, die noch von seinem Unfall stammte. Er hatte diese Verletzung nie wirklich heilen lassen, hatte nie zugelassen, dass sie ihm ein künstliches Bein gaben. Lieber wollte er für den Rest seines Lebens nicht richtig laufen können. Deshalb hatte er heute ein steifes Knie, eine Verletzung, die ihn immer an sein Schicksal erinnern sollte. Eigentlich wäre er im Nachhinein lieber gestorben. Aber das hätte er seinen Rettern, die so stolz darauf waren, ihn, entgegen jeder Wahrscheinlichkeit gefunden zu haben, niemals begreiflich machen können. Er hatte nie wieder über diesen Unfall geredet. Aber er hatte auch niemals wieder die Gelegenheit einer Arbeit erhalten, die ihn in den Weltraum führte.

Heute war er nur ein einfacher, unbedeutender Wächter.

Dachte er jedenfalls.

Nach der Rückkehr Perry Rhodans aus der fernen Galaxis DaGlausch hatte sich in der Milchstraße viel verändert, das hatte er aber nicht mitbekommen, weil er sich für Nachrichten nicht mehr interessierte. Die Terraner hatten Anfang des Jahres einen Virus mit in die Galaxis gebracht, das Menschen nicht schaden konnte. Wohl aber wertvollen Syntroniken.

Positroniken lautete das Zauberwort, das bei Insidern begehrt war. Denn viel war über den Virus nicht bekannt. Er schlummerte wohl irgendwo in den Datenbankarchiven auf Camelot. Dennoch gab es Überlegungen, Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Er wusste nichts über technische Einheiten, nur so viel, dass in dieser Fabrik deshalb Positroniken gebaut wurden, da einige Geschäftemacher einen riesigen Boom erwarteten, sollte dieser Virus einmal in Umlauf geraten. Natürlich wurde der Öffentlichkeit nichts darüber erzählt.

Es gab nur noch wenige Positronikfabriken. Viele Galaktiker wussten nicht, dass P-Chips sich auch heute noch verkauften. Niemand dachte an unterentwickelte Völker, die gerade auf dem Weg ins Weltall waren und billige und unmoderne P-Chips von der Völkergemeinschaft der Galaxis kauften, weil sie nicht nur billig waren, sondern auch erreichbarer, als die modernen Syntrons. Kein Produkt erreichte wirklich jemals das Ende seines Lebenszyklus, die meisten wurden nur in eine Nische zurückgedrängt. Außer den unterentwickelten Völkern gab es noch einen Markt für billige kleine Rechner, die man einsetzte, wenn man auf teure Syntroniken verzichten wollte, oder als reich verzierte Tischrechner, die sich viele auf den Schreibtisch stellten. Viele P-Chips steuerten heute ganz profane Taschenrechner.

Nur wenige Welten hatten noch nennenswerte P-Chip-Fabriken, die man in diesen Monaten ausbaute und allmählich zu wichtigen Unternehmen im Bereich der Wirtschaft wachsen sah.

Auch die P-Chip-Fabrik auf Ertrus, neben Plophos und Olymp die größte in der Galaxis, wurde auf die Erfordernisse der neuen Zeit ausgerichtet. Der Wächter hatte sich gewundert, warum man in den letzten Wochen in die marode Fabrik investiert, alte Maschinen gegen neue ausgetauscht und dazu noch Gelände in der Umgebung angekauft und teilweise ganze Viertel abgerissen hatte. Offenbar hatte man große Pläne mit der Fabrik, wobei dem Wächter nicht klar war, wozu man die Mengen an P-Chips brauchen sollte. Daher vermutete er, man wollte die Fabrik auf etwas vollkommen Neues umrüsten. Dem war aber nicht so gewesen.

Also hatte er sich einfach damit abgefunden und weiterhin seine Arbeit getan. Es hatte ihn nicht mehr länger interessiert.

Langsam schritt er durch die Gänge der Fabrik, vorbei an den Räumlichkeiten der Geschäftsleitung. Er warf einen Blick in die Räume, stellte aber nichts Außergewöhnliches fest.

Dann ging er nach unten in den Teil der Anlage, der auch während der Nachtschicht vollautomatisch produzierte.

Vollkommen lautlos liefen die Maschinen, P-Chips zogen an seinen Augen vorbei, allerdings hinter einer Scheibe aus Spezialglas, die Umwelteinflüsse von den empfindlichen Chips während der Produktion fernhielt. In einem Überwachungsraum döste ein Techniker vor sich hin, der während der Nachtschicht über die Rechner wachen sollte. Er winkte dem Wächter gelangweilt zu. Er grüßte zurück und ging aus der Halle. Alles war in Ordnung.

Wer sollte sich auch für P-Chips interessieren?

Ein Geräusch ließ ihn sich umdrehen, aber nur sehr langsam. Er sah eine Bewegung in der Nähe des Überwachungsraumes und machte einen Schritt zurück in die Produktionshalle. Nichts zu sehen, nur der Techniker, der über den Tisch gebeugt saß, als sei er vollends eingeschlafen. Der Wächter zuckte die Schultern. Was kümmerte es ihn, wie der Techniker sein Geld verdiente? Er wollte gerade den Raum verlassen, als sich die Tür vor ihm öffnete, ohne dass er in den Bereich der Strahlenerfassung getreten wäre. Er stutzte und trat einen Schritt zurück. Seine Hand glitt zum Gürtel, wo sich seine Waffe befand, die er bisher noch nie gebraucht hatte. Er hatte sie gerade halb gezogen, als er einen Schlag auf seiner Hand verspürte, der die Hand lähmte. Er zog sie mit einem Schmerzensschrei zurück und warf einen Blick nach rechts, wo eine weitere Gestalt erschienen war, die ihm einen Elektroschock verpasst hatte, der seine Hand gefühllos werden ließ.

Er taumelte zurück, bis er mit dem Rücken zu einer der gläsernen Bandstraßen stand. Aus dem Augenwinkel sah er, wie in dem Überwachungsraum eine weitere Gestalt erschien, die den Techniker aus seinem Sessel riss und ihn über die Leiter einfach nach draußen warf. Vier Meter tiefer schlug der Körper mit einem dumpfen Geräusch zu Boden.

Direkt neben dem Wächter kam der Techniker zur Ruhe. Sein Genick war seltsam verdreht, seine Augen gebrochen. Offensichtlich hatte man ihn bereits getötet.

Erschauernd warf er einen Blick auf die beiden Gestalten, die vor ihm standen. Er rührte sich nicht und offensichtlich reichte das den beiden, um ihn ungeschoren zu lassen.

Erst jetzt erkannte er, dass es Roboter waren.

»Was wollt ihr von uns«, keuchte er »wir haben hier nichts, was euch interessieren könnte. Ich meine, das sind doch nur billige P-Chips.«

Einer der Roboter schnarrte »Zerstörungssequenz eingeleitet, Explosion in dreißig Sekunden.«

»Dreißig Sekunden«, bestätigte der andere Roboter. Weitere Bestätigungen kamen von allen Seiten. Unhörbar erreichten den Roboter noch weitere Bestätigungen, aber das war dem Wächter mittlerweile egal. Er hatte verstanden. Sie wollten die gesamte Anlage zerstören, vermutlich mit Sprengsätzen, die in ihren Körpern eingearbeitet waren, in die Luft jagen. Eine ganze Armee von Robotern musste sich auf dem Gelände befinden.

Endlich erreichte er das Ziel seiner langen Reise, die eigentlich schon im Zentrum der Milchstraße zu Ende gewesen war, nur noch einige Jahre verlängert. Endlich würde er wieder mit seinen Kameraden vereint sein, seine junge Freundin von damals wiedersehen. Er entspannte sich und fixierte den Roboter vor sich. Jeden Augenblick würde es soweit sein. Freudig streckte er die Arme zu den Seiten. Als der Roboter explodierte, sah es für einen Moment so aus, als würde er den Feuerball umarmen, dann verschlangen ihn die Energien der Explosion. Die Maschinenstraße hinter ihm wurde innerhalb der zweiten Sekunde in Stücke gerissen, weitere Maschinen explodierten. Aus der Ferne sah es aus, als würde ein Feuerwerk über einem Teil der Stadt Baretus explodieren. Menschen, die den Heiligen Abend feierten, rannten ans Fenster, als sie den Lärm hörten. Erschrocken blickten sie auf das Viertel, in dem die P-Chip-Fabrik stand.

Noch einige Augenblicke krachten Explosionen über Baretus, dann wurde es fast gespenstisch still.

Zwei Menschen waren ums Leben gekommen. Die Wirtschaft der Galaxis hatte einen großen Schaden erlitten.

Die ersten Rettungstruppen näherten sich dem Gelände, das weiträumig abgesperrt wurde. Es dauerte mehrere Stunden, bis man sich einen Überblick verschafft und die Toten gefunden hatte. Die Untersuchung des Geländes war nur mit speziellen Schutzanzügen möglich. Radioaktive Strahlung machte sich über den Ruinen aus Stahlplastik breit.

Die Helfer riegelten den Stadtteil ab und evakuierten alle Menschen daraus. Ein Raumschiff wurde angefordert, das über dem Katastrophengebiet in Stellung ging. Es errichtete einen Schutzschirm über dem Gebiet, das die Strahlung vom Rest der Stadt fernhalten sollte.

Ein unbekannter Gegner hatte zugeschlagen. Was dahintersteckte wusste niemand.

Baretus versank in Trauer.