24. Oktober 1290 NGZ
New Malmö, Sverigor
Blitze zuckten durch den Himmel und erhellten die Nacht. Erste Regentropfen prasselten auf die weiche Körperbehaarung von Sha-Hir-R’yar. Zuerst zögerlich, dann nahm der Regen stark zu und ergoss sich geradezu über sie. Der von der leichten Kampfkombination ungeschützte Teil ihres gelbschwarzen Fells war innerhalb weniger Momente völlig durchnässt.
Es störte sie nicht, auch wenn Feliden generell zu viel Wasser auf dem Körper nicht mochten. Sie säuberten sich auf andere Weise und galten dennoch als äußerst reinliche Geschöpfe.
Shahira, wie sie von jenen genannt wurde, denen ein kartaninischer Name zu lang war, hatte sich auf dem Nachbargebäude des Krankenhauses von New Malmö Zentrum eingerichtet. Von hier aus bereitete sie ihre Operation vor. Der Auftrag ihres Herren und Meisters war eindeutig. Die Zielperson befand sich im fünften Stockwerk – der Entbindungsstation. Die trächtige Terranerin hieß Zantra Solynger und war zum Tode verurteilt, weil die Führung der MORDRED annahm, dass der Silberne Ritter Cauthon Despair nicht richtig funktionieren würde, wenn er sich romantischen und melancholischen Gefühlen hingab. Diese Solynger war offenbar eine Verflossene des geheimnisvollen Ritters gewesen.
Shahira war das eigentlich gleich, obwohl sie von ihrem selbst ernannten Meister den Auftrag erhalten hatte, persönliche Informationen über die Nummer Zwei der MORDRED zu sammeln.
Darüber hinaus verachtete Shahira die MORDRED. Sie war eine Organisation der Menschen. Menschen logen, töteten und kannten keinerlei Moral. Wieder drohte der Hass sie zu überwältigen. Sie dachte an ihre geschändeten, ermordeten Schwestern. Sie dachte an das Versprechen, das ihr diese Terranerin einst gegeben hatte. Lügen und schändlicher Verrat! Niemand war gekommen, um sie und ihre Schwestern zu retten. Und ihre Schwestern hatten den Preis bezahlt. Für einen Moment versank sie in eine kurze Meditation. Sie musste den Hass und ihr Streben nach Rache tief in sich verschließen. Noch war ihre Zeit nicht gekommen. Noch war sie ihrem Herren und Meister zu Dank verpflichtet, der ihr einst das Leben gerettet hatte, doch irgendwann würde ihre Lebensschuld erlöschen: Leben gegen Leben. Und dann würde sie auch ihm die Rechnung präsentieren. Unwillkürlich fuhr sie ihre Krallen aus und spürte den Schmerz, als diese sich in ihre Unterarme bohrten.
Leben gegen Leben!
Fast war es eine bittere Ironie des Schicksals, dass sie sich auf einer Welt befand, die die Menschheit ebenso verachtete. Angeblich zählte hier nur das Individuum. Vorgeblich genossen Extraterrestrier besondere Rechte. Sie durften nach Herzenslust ihre Sitten und Gebräuche ausleben. Hier wäre Shahira vielleicht ein Teil der Gesellschaft gewesen. Ja, aber als Monster und genetische Absurdität. Die Menschen auf Sverigor glaubten, dass sie mit ihrer antilemurischen Haltung und dem Hass auf die eigene Rasse die einzig vernünftigen Menschen in der Galaxis wären. Doch inzwischen wusste sie es besser. Auch hier zogen die Menschen im Hintergrund die Fäden und pfuschten der Natur ins Handwerk. Genmanipulation, allein durch den Gedanken an diese verfluchte Wissenschaft drohte wieder der Hass sie zu verschlingen.
Alle Menschen waren Rassisten, entweder glaubten sie wie die MORDRED an die Überlegenheit der lemurischen Rasse, oder wollten wie die Sverigen die Unterschiede zwischen den verschiedenen Rassen einfach abschaffen. Ein Wesen wie sie hatte in ihren Augen keine Daseinsberechtigung.
Shahira konzentrierte sich und esperte in das hell beleuchtete Krankenhaus hinein. Sie nahm ein wenig Angst wahr, hier und da Freude. Allerdings waren viele Sverigen emotionslos.
Ihr Gegenüber lag etwa zehn Meter tiefer der Entbindungstrakt. Hier gebaren die Frauen ihre Kinder. Shahira korrigierte sich gedanklich. Es existierten auf Sverigor keine Frauen, sondern unisexuelle Individuen.
Sie hatte sich zuvor über die Praktiken informiert. Nachdem das Baby das Licht dieser Welt erblickte, wurde es einem Säuglingsbetreuungsroboter der Korrektheitsbehörde übergeben. Dieser brachte das Kind in eine Kinderbetreuungsstätte. Das Austrägerindividuum wurde nach einem Tag entlassen, damit es wieder arbeiten konnte. Es wurde dann den Eltern überlassen, inwiefern sie sich um das Neugeborene kümmerten. Familiensinn gab es auf Sverigor kaum. Im Gegenteil, es war zutiefst verpönt, wenn intakte Familien existierten. Zwar wurde es nicht gänzlich verboten, doch in der Gesellschaft wurden junge Familien nicht gerne gesehen.
Für gewöhnlich wurden die Babys in eine Ganztagesbetreuung geschickt, damit die Elternteile arbeiten konnten und die Kinder nicht von dem »kruden Gedankengut« potenzieller schlechter Eltern infiziert wurden. Zudem galt es auf Sverigor als Schande, wenn sich ein Wesen der Arbeit entzog und »antiken« Traditionen frönte. Nach einigen Jahren kümmerten sich die Eltern mehr um ihre Sprösslinge, wenn es sich mit dem Beruf vereinbaren ließ. Die Kinder bekamen jedoch per Gesetz einen Nachwuchsbetreuungsroboter zur Seite gestellt.
In jedem Fall wurde die Erziehung der Kinder nur selten den Eltern überlassen. Insbesondere bei den Menschen wurde auf eine Betreuung geachtet, da die Eliten eine »Terranisierung« Sverigors verhindern wollten.
In den ersten Lebensjahren konnten sich die Kinder entscheiden, ob sie einem Gendering unterzogen wurden. Sie wurden dadurch zu Zwittern. Shahira hielt nichts von genetischen Manipulationen. Die Menschen schienen daran ihren Gefallen zu haben. Sie schreckten vor nichts zurück. Ein genmodifiziertes Individuum auf Sverigor war wohl das Beste für diese Gesellschaft. Die Regierung hatte wohl das Ziel, alle Menschen so eines Tages umzuwandeln. Wenn das zur Folge hatte, dass diese Art auf diesem Planeten aussterben sollte, war das Shahira nur recht. Allerdings würden sie wohl im Reagenzglas weitergezüchtet werden.
Shahira konzentrierte sich wieder auf ihren Auftrag. Zantra Solynger gebar ein Kind. Sie befand sich in einem Raum, der an die Außenwand grenzte. Shahira hätte sie mit Leichtigkeit von hier aus erledigen können. Ein Schuss mit einem Thermostrahler hätte die Gebäudewand abgesprengt und den Raum verwüstet.
Sie hatte einen anderen Plan. Shahira aktivierte ihren Picopad und rief via Interkom ihre Komplizen herbei. Wenige Minuten später – es hatte endlich aufgehört zu regnen – schälten sich drei Blues, ein Gurrad, ein Unither und zwei Naats aus der Dunkelheit der Nacht.
Der Gurrad stellte sich vor Shahira und beschnupperte sie. Er verzog das Gesicht und entblößte sein scharfes Gebiss. Der Gurrad wirkte attraktiv auf Shahira. Doch er schien wenig begeistert zu sein.
»Du stinkst nach Mensch!«
»Und du nach Kot«, erwiderte Shahira und fauchte. Sie fuhr ihre Krallen aus und zeigte bedrohlich in die Richtung des Gurrads. Damit machte sie klar, dass er sich solche Späße nicht ein zweites Mal erlauben durfte.
»Wie viel?«, fragte der eine Blue.
Shahira musterte das tellerköpfige Wesen mit den zwei Augenpaaren. Arürk war bis an den Stängelhals bewaffnet. Er war der Anführer des »Roten Kreaturen«-Klans. Sie beherrschten Vororte von New Malmö und profitierten von der laschen Justiz der Sverigen. Denn bei all den multikulturellen Bestrebungen vergaben sie sogar den Extrateresstriern Verbrechen, um sie nicht zu verstimmen. Für Wesen wie Shahira waren das ideale Bedingungen.
Diese naiven Menschen. Entweder waren sie gewissenlos brutal oder fanatische Galaxisverbesserer, die an das Gute in jedem Wesen glaubten. Als ob das organisierte Verbrechen lukrative Geschäfte sausen lassen wollte, nur weil sie hier unbescholten Leben durften. Viele Immigranten auf Sverigor hatten auf ihren Welten nichts anderes als den rücksichtslosen Überlebenskampf erlebt. Warum sollten sie hier anders sein? Wieso sollten sie den Sverigen vertrauen?
Sverigor war ein El Dorado für Verbrecherorganisationen. Da die Justiz sehr verständnisvoll bei Verbrechen der Extraterrestrier war, lachten sie nur über das Staatswesen.
Der wichtigste Grund war, dass die Regierung und Gesellschaft sich niemals ein Versagen ihres Models eingestehen würde. Es war wie eine Mutter, die sich nicht eingestehen wollte, dass ihr Kind verzogen war. Ein treffender Vergleich, wenn er jedoch auf diesem Planeten nicht die gleiche Bedeutung hatte.
»Es sind dreizehn Neugeborene«, sagte Shahira. »Wie vereinbart holt ihr sie und ich kümmere mich um meine Zielperson.«
Arürk kicherte schrill. Der Kinderhandel auf Sverigor war beliebt. Es lag wohl daran, dass Kinder keine große Bedeutung auf dieser Welt hatten. Sie waren heranwachsende Individuen, mehr nicht. Die Eltern vermissten ihre gestohlenen Babys jedenfalls nicht.
Arürk gab Shahira ein Zeichen. Er wollte die Sache hinter sich bringen. Shahira nahm ihren Toser und visierte die fünfte Etage an. Sie feuerte. Das Raketenprojektil zerschlug die Hauswand. Einen Moment später zerbröselte die Fassade.
Der Gurrad brüllte, dann startete er sein Raketenpack. Die Gangster schwebten zum Krankenhaus. Shahira aktivierte auf ihrem Picopad die Sprengladungen. Drei Detonationen erschütterten den Komplex. Das Licht fiel aus. Shahira setzte ihre Brille auf und aktivierte die Nachtsicht. Nun flog sie mit ihrem Gravopak ins Krankenhaus. Ihr war egal, was Arürk und seine Leute jetzt trieben. Sie waren die Ablenkung. Das Schicksal der Bälger war ihr völlig gleich. Sie würden als Sklaven irgendwo hin verkauft werden. Es geschahen halt schlimme Dinge im Universum.
Sie flog durch die zerstörte Mauer und landete. Überall schrien die Wesen. Vereinzelt zuckten Blitze von Energiewaffen durch die Räume. Sie spürte überall Angst. Shahira eilte in den Entbindungsraum und fuhr ihre Terkonitkrallen aus. Die Ärzte und das Krankenhauspersonal kauerten irgendwo in den Ecken.
Vor ihr lag Zantra Solynger. Das Kind trug sie noch in sich. Solynger schrie und zappelte. Einen Moment zögerte sie, doch dann stand wieder das Gesicht der Terranerin vor ihr. Lügen, grenzenlose Grausamkeit und schändlichster Verrat war das Wesen ihrer verfluchten Rasse.
Leben gegen Leben!
Mit dem Gefühl unendlicher Befriedigung versenkte sie ihre Krallen in den Unterleib der Menschenfrau und riss ihr den Bauch auf. Solynger schrie vor Schmerzen wie am Spieß. Dann riss sie das Baby heraus, durchtrennte die Nabelschnur und warf das Kind achtlos beiseite. Wenn die Terraner gnädige Götter haben würden, dann würde es nicht überleben. Das Geschrei war in ein dumpfes Wimmern übergegangen, es war an der Zeit, ihre Aufgabe zu Ende zu bringen.
»Mit den besten Grüßen von der MORDRED, Cameloterin!«, flüsterte sie und legte ihre Hände fast zärtlich um den Hals von Zantra Solynger. Dann schloss sie ihre Finger mit den ausgefahrenen Krallen. Die Menschenfrau lebte nur noch wenige Sekunden.
Shahira ließ von ihr ab.
»Arürk«, rief sie, während sie den Raum verließ. »Da ist noch ein Balg im Raum.«
Sie hatte ihren Auftrag beendet. Niemand würde die MORDRED mit dem Mord in Verbindung bringen. Ihr Herr und Meister würde zufrieden sein.