Der Silberne Ritter wanderte durch die belebten Straßen von New Stockholm. Überall feierten die Sverigen, da der kommende Tag ein Feiertag war. Zwar durften sie offiziell keinen Alkohol trinken, Bio-Drogen waren jedoch erlaubt.
Es war ein seltsames Bild. In einigen Straßen feierten androgyne Menschen und schon in dem Nebenweg war es leer, denn dort regierten die Gangs. Und doch gab es hin und wieder Unbelehrbare oder Unwissende, die einfach in die falsche Straße abbogen. Despair beobachtete, wie ein junger Terraner von zwei Topsidern gequält und geschlagen wurde. Sie schoben ihm Gemüse in das Hinterteil und amüsierten sich köstlich über den Schmerz, dem sie ihn zufügten. Unweit davon surrte ein Korrektheitsroboter vor sich hin und unternahm nichts. Despair fand passende Vergleiche in der Geschichte Terras vor dem Beginn der Raumfahrt.
Ob es nun das junge Amerika gewesen war, in dem Latinos und Indianer vogelfrei gewesen waren oder in Europa Anhänger der jüdischen Religion: Die Staatsgewalt hatte weggesehen oder selbst den Terror ausgeübt. Die Situation war hier die gleiche. Nur, dass nicht der »böse« Mensch die Untaten beging, sondern andere Völker.
Und das war also der sverigische Kampf gegen Rassismus und Diskriminierung? Ob der Terraner, der gerade auf perverse Art seine Prügel bezog, das genauso sah?
Das war also die Toleranz dieser Gesellschaft? Wegzusehen, wenn ein menschliches Wesen gequält wurde?
Despair ging weiter. Er mischte sich nicht ein. Der Terraner war selbst Schuld. Vermutlich war er ein naiver Student oder Lehrer, der Urlaub auf dem schönen Sverigor machte und nun verwundert feststellte, dass das Leben hier anders war.
Despair wanderte einen Kilometer, ehe er erneut stehen blieb. Der Morgen graute inzwischen. Auf der Straßenseite ihm gegenüber hatte sich eine Traube an Passanten gebildet. Despair ging hinüber und bahnte sich den Weg in die erste Reihe.
Ein Mann wurde aus dem Haus geführt. Er trug Energiefesseln. Dahinter eine Frau – ebenso gefesselt. Zwei Korrektheitsroboter eskortierten sie. Wenig später wurden zwei kleine Menschenkindern aus dem Haus gebracht.
»Was wirft man ihnen vor?«, wollte Despair von einem der Passanten wissen.
»Genderingverstoß«, erklärte dieser leise.
»Was bedeutet das?«
Der Andere sah sich um und flüsterte: »Sie haben sich geweigert, ihre Kinder in die Betreuungsstätten zu geben. Die Elternkreisrundkreuz hat den Beruf gekündet und wollte … Hausfrau … spielen. Der Elternkreisrundpfeil hat das unterstützt. Jetzt werden sie verhaftet und das Kind in eine Betreuungsstätte gegeben, bis es neue Eltern erhält.«
»Ihr Verbrechen besteht also darin, eine Familie zu sein?«
Der Passant lachte.
»Du hast es erfasst. Sie wollten außerdem nicht, dass ihre Kinder gegendert werden. Natürlich konnten sie sich die Strafe nicht leisten. Dann fingen sie noch an, sich darüber zu beklagen. Da hat es uns Nachbarn gereicht und wir haben sie gemeldet.«
Despair war kurz schockiert. Eine Familie wurde entzwei gerissen. Weshalb? Es gab keinen vernünftigen, logischen Grund. Sie wollten eine Familie sein, doch das war also auch auf Sverigor verboten. Eine Frau, die eine Mutter sein wollte – das durfte es auf Sverigor demnach nicht geben.
Was für eine verachtenswerte Welt. Despair widerte Sverigor von Minute zu Minute mehr an. Die Passanten buhten inzwischen das Ehepaar aus und feuerten die Roboter und Polizisten an.
Despair ballte die Fäuste. Wie leicht es doch wäre, sein Caritschwert zu ziehen und all dieses Pack in kleine Stücke zu hauen! Despair musste an eine Geschichte aus dem Alten Testament. Wo waren die zehn Gerechten von Sverigor?
Diese Gesellschaft war ein gescheitertes Experiment. Sie war völlig nutzlos. Die Sverigen heuchelten eine Toleranz vor, die es doch schon in weiten Teilen der Milchstraße gab. Viele wichtige Planeten der Milchstraße waren doch multikulturelle Metropolen. Niemand wurde auf zivilisierten Welten aufgrund seines Glaubens oder wessen Geschlecht er bevorzugte verfolgt oder benachteiligt. Weshalb also diese rigide, überspitzte Politik auf Sverigor?
Er ging weiter und erreichte etwas, was offenbar eine Art Jugendtreff sein sollte. Jedenfalls standen jede Menge halbwüchsige Blues, Topsider und Gurrads vor einem verfallenen Gebäude.
Despair war neugierig und ging zu ihnen.
»Haub Nsch. Soauffafresse, kapsch?«, fauchte ein Gurrad, der zwei Köpfe kleiner war als Despair. So recht wusste der Silberne Ritter nicht, was das Wesen ihm damit sagen wollte.
»Bisch beklopp, wa? Doofidumm!«, rief ein Jülziisch und lachte laut. Die anderen Stimmten im niveaulosen Gelächter ein. Offenbar war das eine Art Akzent. Eine Jugendsprache. Immerhin artikulierten sich diese beiden noch. Andere grunzten nur oder brüllten.
»Dast uns Vier!«
Despair fragte seinen Pikosyn nach Informationen über diese Sprache ab. Der integrierte Translator identifizierte es als Kiez-Interkosmo. Eine Jugendsprache, die viele Wörter vereinfachte und miteinander verband. Es gab Pädagogen, die diese Vergewaltigung des Interkosmo als ganz spannend und toll empfanden.
Die Fähigkeit zu sprechen und miteinander zu kommunizieren, war existenziell für das Zusammenleben in einer Zivilisation. Der Verlust dieser Fähigkeit, war für Despair keineswegs spannend oder gar toll. Interkosmo war die Sprache der Milchstraße. Ein Blues verstand sie genauso wie ein Terraner. Das war eine wichtige Errungenschaft. Aber auf Sverigor überraschte Despair nichts mehr. Ein Topsider zückte sein Vibratormesser und hielt es in Despairs Richtung.
»Du solltest dein Messer schnell wieder einstecken, bevor es dir leid tut«, drohte Despair.
Der Topsider schnellte die Zunge aus dem Mund und surrte bedrohlich.
»Alta, stihntod«, rief ein Unitherjunge.
Der Translator übersetzte dies mit: Alter, stich ihn tot.
Despair war entsetzt über die Verrohung der Jugendlichen. Sverigor war weitaus schlimmer als Mashratan, das Despair bisher als wohl schlimmste Welt in der Milchstraße betrachtet hatte. Immerhin waren die Mashratan nicht so heuchlerisch.
Despair zog sein Caritschwert. Umgehend ließ der Topsider sein Messer fallen und lief weg. Die anderen entfernten sich auch. Despair hatte nichts anderes erwartet.
Was tat er hier eigentlich? Hoffentlich würde Shahira endlich die Cameloter finden.
Über Interkom meldete sich Admiral Kolley von der VERDUN.
»Sir, Rhifa Hun wünscht Sie dringend zu sprechen. Bitte kehren Sie zur VERDUN zurück.«
Despair bestätigte und war erleichtert, dass er endlich diesen verfluchten Planeten verlassen durfte.
*
Despair war auf die Neuigkeiten von Rhifa Hun gespannt. Er war überrascht, dass sich Nummer Vier bisher noch nicht hatte blicken lassen. Nun, auf der anderen Seite hatte er ja seine Kartaninhybris als Handlangerin.
Das verzerrte Hologramm von Rhifa Hun baute sich vor dem Silbernen Ritter auf.
»Während Sie eine Sightseeingtour durch Sverigor gemacht haben, haben unsere Agenten einige Nachforschungen durchgeführt. Ich habe beunruhigende Nachrichten über die Korrektheitsbehörde auf Sverigor«, sagte der Anführer der MORDRED.
Links neben dem Abbild von Rhifa Hun wurden dreidimensionale Daten eingeblendet. Es waren wissenschaftliche Informationen. Despair war kein Experte, doch es handelte sich um Nanotechnologie und Virologie.
»Eine Gruppe von fehlgeleiteten Wissenschaftlern arbeitet auf Sverigor unter der Kontrolle des Zentralrechners der Korrektheitsbehörde an einer selbstreproduzierenden Nanokultur. Diese Kunstspezies arbeitet wie ein Bakterium oder Virus. Es ist offenbar speziell für Menschen entwickelt. Wenn ein Terraner davon befallen wird, setzt sich die Nanokultur im Körper fest und agiert als eigenständiges Programm. Es vernetzt sich über den Hyperraum mit anderen Nanokulturen und letztlich mit dem Zentralrechner der Korrektheitsbehörde.«
Ein Nanovirus für Lemurerabkömmlinge? Doch zu welchem Zweck? Despair lauschte schweigend den weiteren Ausführungen von Rhifa Hun.
»Ist ein Mensch davon befallen, kann die Nanokultur die Handlungen steuern und den Betroffenen suggestiv beeinflussen. Es kann Schmerzen auslösen oder den Metabolismus zerstören. Im humansten Fall sendet die Nanokultur via Hyperfunk nur Informationen an den Korrektheitsrechner auf Sverigor. Wenn es schlimm kommt, kann es ein Wesen völlig beeinflussen und kontrollieren.«
Jetzt verstand Despair. Sverigor wollte eine Art Virus entwickeln, den sie in der Milchstraße verteilen wollten, um Menschen kontrollieren zu können. Jeder Mensch, der nicht in die Weltanschauung der Korrektheitsbehörde passte, würde gemeldet werden. Die Gedanken waren dann nicht mehr frei. Dachte jemand etwas schlechtes, würde er mit Schmerzen bestraft werden. Verübte er ein Verbrechen, würde er vermutlich einen Todesimpuls erhalten. Oder sie beeinflussten seine Psyche und Handlungsweise völlig, so dass er zu einem seelenlosen Zombie im Sinne der Korrektheitsbehörde wurde.
Ein wahrlich diabolischer Plan.
Wieso war die MORDRED nicht auf so etwas gekommen?
»Können wir diese Waffe für uns nutzen?«, fragte Despair folgerichtig.
»Es wäre eine Überlegung wert, doch die Zeit drängt, mein Freund. Meine Quellen berichten mir, dass in wenigen Tagen ein Frachter mit der Nanokultur nach Terra aufbrechen wird. Wenn sie sich auf Terra verbreitet, liegt das Leben aller Terraner auf der Erde buchstäblich in den Händen der Korrektheitsbehörde. Die Wiege der Menschheit ist in Gefahr!«
»Befindet sich Eure Quelle auf Sverigor, Herr?«
»Negativ! Ich habe die Informationen von Oberst Kerkum. Er hat sie persönlich aus dieser psychopathischen Aktivistin Pauly Nemak herausgeprügelt. Es gibt eine Verschwörung unter diesen wahnsinnigen Terranern, die ihre eigene Rasse so sehr hassen. Sie wollen die Menschheit aus der Milchstraße vertilgen. Sie sind der festen Auffassung, dass es kein Reich der Menschen mehr geben darf.«
»Damit sind sie unsere Todfeinde«, stellte Despair nüchtern fest.
Er versuchte immer noch mit diesen Neuigkeiten klar zu kommen. Er verachtete diese Menschen, die alles daran setzten, ihre eigene Rasse zu vernichten. Sie verdienten für ihr schamloses und ehrloses Unterfangen keine Gnade!
»So ist es. Wir befinden uns im Krieg, Despair. Ich befehle Ihnen, innerhalb von 48 Stunden das Problem auf Sverigor mit allen erdenklichen Mitteln zu lösen.«
»Ich habe verstanden, Sir! Doch ich benötige mit Sicherheit weitere Verstärkungen. Die VERDUN und ihre sechs Begleitraumschiffe reichen nicht aus.«
Die MORDRED besaß bisher nur ein Schlachtschiff der NEO-UNIVERSUM-Klasse, eben die VERDUN! Das Schiff verfügte zwar als Weiterentwicklung der alten Ultraschlachtschiffe der UNIVERSUM-Klasse über eine Vielzahl kampffähiger und schlagkräftiger Beiboote, Trägerkreuzer und sogar Schlachtschiffen, doch um eine wirksame Blockade gegen den gesamten Planeten durchzuführen, waren es vielleicht zu wenig.
Hinzu kamen die sechs 500 Meter Schlachtkreuzer, die ihrerseits natürlich auch über Beiboote verfügten.
Doch Despair musste verhindern, dass dieser Frachter den Orbit verließ – und wenn möglich, den Zentralrechner der Korrektheitsbehörde vernichten.
Wieso auch nicht? Warum nicht die Gunst der Stunde nutzen und diesen Wahnsinn stoppen. Die Sverigen waren so sehr von ihrem Selbsthass beseelt, dass sie immer eine Gefahr darstellen würden. Doch nur dazu hatten sie diesen Korrektheitsapparat entworfen. Er kannte nur ein Ziel: die Umsetzung der svergischen Doktrin. Extraterrestrier und androgyne Menschen. Das war also die Zukunft, wenn die ihre Nanokultur über die Planeten verteilten.
Das war eine Kriegserklärung an die menschliche Rasse. Egal ob Terraner, Arkoniden, Akonen, Mehandor, Ara, Ertruser, Epsaler, Plophoser, Zaliter, Oxtorner, Freihändler – sie alle waren davon betroffen. Sverigor hatte ihnen allen den Krieg erklärt.
Offenbar wusste nur die MORDRED davon. Wie würden die LFT, Camelot und dieser Saggittone reagieren, wenn sie davon wüssten?
Welche Optionen gab es überhaupt? Eine Information an das Galaktikum würde vermutlich wenig bringen. Das Kristallimperium würde vermutlich am schnellsten reagieren, doch konnte es den Transport verhindern? Irgendwie würden die Korrektheitsfanatiker schon einen Weg finden, die Nanokulturen nach Terra zu transportieren. Niemand wusste, ob es ein Gegenmittel dafür geben würde.
Nein, der diplomatische Weg war ausgeschlossen. Despair musste das Problem hier und jetzt lösen.
Er aktivierte den Interkom und kontaktierte Shahira.
»Haben Sie Aurec und die anderen gefunden?«
»Positiv. Cascal sitzt im Knast. Diese Breen ist mit dem Außenkommissar im Stadtpark. Die anderen befinden sich auf dem Weg zu Cascal. Sie werden ihr Ziel nicht erreichen.«
»Angriff abbrechen. Eine neue Bedrohung ist aufgetaucht. Entführen Sie Sanna Breen und diesen Unarov und informieren mich. Wir brauchen sie lebend.«
Shahira stieß eine Verwünschung aus, doch sie war professionell genug, um seine Befehle nicht zu hinterfragen. Despair kam eine weitere Idee. Möglich, dass die Dorgonen ihnen weiterhelfen konnten. Vielleicht verfügten sie über die wissenschaftlichen Kenntnisse, um die Nanokulturen unschädlich zu machen. Despair sendete einen entsprechenden Hilferuf nach Dejabay, der Hauptstützpunktwelt der MORDRED. Ihnen lief die Zeit davon. Vielleicht musste Despair auch mit den ihm zur Verfügung stehenden Raumschiffen auskommen.
Der Silberne Ritter blickte auf den Planeten Sverigor hinab. Es war eine wunderschöne Welt. Sie wirkte so friedlich, imposant und naturgewaltig vom All aus betrachtet. Doch die Bevölkerung hatte vermutlich ihr Schicksal besiegelt.