5.
Absturz

Perry Rhodan hatte den Angriff mitbekommen, wie wohl die meisten Wesen an Bord der LONDON. In der unteren Sektion waren Brände ausgebrochen. Uto Lichtern eilte mit einigen Sicherheitskräften an Rhodan vorbei. Vermutlich waren sie auf dem Weg zu den Brandherden.

»Wie schlimm ist es?«, wollte Rhodan wissen, als er die Kommandobrücke erreicht hatte.

Moindrew klärte den Cameloter über die großen Schäden auf. Rhodan sah sich alles eine Weile an und verinnerlichte die Informationen. Dann dachte er über eine Alternative nach. Kurz musterte er die Menschen auf der Brücke. Sie vertrauten ihm. Es machte ihm schon fast Angst, wie verzweifelt die Blicke der Leute auf ihm lagen.

»Ich bin kein Ingenieur, also erwartet keine Wunder. Ich brauche die Hilfe von allen Beteiligten«, sagte Perry schließlich. »Ich habe aber eine Idee. Uns bleibt vielleicht noch etwas mehr als eine Stunde, bis die LONDON in die Atmosphäre eintritt. Wir müssen diese Zeit nutzen, um die Passagiere zu warnen. Sie sollen in ihren Kabinen bleiben und sich auf den Konturliegen anschnallen, da zu erwarten ist, dass starke Vibrationen auftreten werden und auch die künstliche Schwerkraft Probleme machen kann. Da der Metagrav zerstört wurde, muss vorrangig der Antigravantrieb mit Energie versorgt werden, auch wenn dadurch der Trägheitsdämpfungseffekt des Inerters nicht mehr voll wirksam sein sollte. Vor allem aber muss unter allen Umständen der Prallfeldschirm aufrecht erhalten bleiben, da sonst die LONDON beim Eintritt in die Atmosphäre des Wasserplaneten regelrecht zerrissen würde. Klimaanlagen, Beleuchtung, Bordunterhaltung, also alles, was nicht unbedingt überlebensnotwenig ist, muss von der Energieversorgung getrennt werden. Und …«, dabei fixierte er Gaton, »das gilt für alle Passagiere und Besatzungsmitglieder gleichermaßen, also keinerlei Ausnahmen.«

Der Hansesprecher schluckte sichtbar.

»Das, das … können wir doch nicht machen, das geht einfach nicht. Die Orbanashols, Jakko Mathyl, Terek-Orn und all die anderen Honoratioren können doch nicht wie gewöhnliche Passagiere behandelt werden, die haben doch Anspruch auf Komfort und bevorzugte Behandlung. Und wer soll ihnen das sagen? Ich … ich nicht  … ich  …«

Rhodan musterte Gaton abweisend und entgegnete ihm:

»Dein Problem.«

Gaton starrte ihn verständnislos an, während Rhodan sich an den Chefingenieur wandte.

»Alex, kannst Du die Energieverteilung so steuern, dass die von mir genannte Priorität eingehalten wird?«

Moindrew nickte. »Das wäre hinzubekommen. Wird knapp, aber nicht unmöglich.«

»Gut, mache einem Bert Hefrich alle Ehre!«, entgegnete Rhodan.

Moindrew wollte nachhaken, wer Bert Hefrich gewesen war, doch die Zeit war zu beschränkt für eine Geschichtsstunde. Er machte sich sofort an die Arbeit und versuchte die zerstörten Energieleitungen zu ersetzen oder zu überbrücken.

Rhodan wandte sich dann an den Kapitän.

»Ich brauche auf der Brücke die luxuriöseste Konturliege, die aufzutreiben ist. Diese ist so zu platzieren, dass ich die manuellen Steuerungskonsolen von ihr aus bequem erreichen kann.«

Holling musterte den Cameloter perplex.

»Sie wollen die LONDON manuell landen?«, stieß Holling ungläubig hervor.

»Ganz genau!«, entgegnete Rhodan. »Wenn ein Mitglied der Brückencrew Erfahrung in Swing-by Manövern hat und in der Lage ist, bei mehreren Gravos handlungsfähig zu bleiben, dann soll er sich melden.«

Er blickte sich um, betretenes Schweigen schlug ihm entgegen.

»Nun gut, ich kann, besser konnte, beides. Zugegeben, es ist zwar einige Jahrhunderte her, aber zu meiner Ausbildung als Pilot der US Space-Force gehörte ein ausgiebiges Zentrifugentraining und Swing-by Manöver beherrschten wir im Schlaf.«

Holling schüttelte nur den Kopf.

»Ich verstehe immer noch nicht. Wir haben doch die Syntronik und Wyll ist ein hervorragender Navigator.«

»Ja Navigator, das stimmt, aber was wir hier brauchen ist ein Pilot. Die Syntronik würde, selbst wenn sie einwandfrei funktionieren würde, in unserer speziellen Situation nicht viel nutzen, weil seit den Tagen der alten Space-Force einfach niemand mehr Swing-by benutzt.«

*

Die Crewmitglieder, allen voran Kreuzfahrtmanager, Stewards und Freizeitgestalter kümmerte sich inzwischen um die Passagiere. Auch Sam half mit, die Gäste zu beruhigen. Nicht jedem Passagier wurde die Wahrheit über den Angriff des Asteroiden erzählt. Die Schiffsführung wollte eine Massenpanik verhindern. Doch man konnte den Leuten wohl kaum erklären, sie sollten sich zum Spaß festhalten und eine sichere Deckung suchen.

Der Somer versuchte ehrlich die verunsicherten Passagiere auf den Absturz vorzubereiten. Doch viele nahmen seine Warnungen gar nicht ernst. Von den Bränden und Schäden einige hundert Meter weiter unter ihnen, spürten sie in ihren Passagierbereichen nichts mehr.

Es gab noch immer Gäste, die sich nicht an die unglaubliche Abenteuerserie, die nicht zu abreißen wollte, gewöhnt hatten. Einige waren ängstlich, andere überheblich oder gar gleichgültig.

Offizier Lichtern wurde zu Sams Hilfe abkommandiert. Er meldete sich steif beim Somer.

»Wie ist die Lage?«, erkundigte sich der Somer.

»Die Brände kriegen wir unter Kontrolle, allerdings wissen wir nicht, ob Passagiere oder Crewmitglieder zum Zeitpunkt des Angriffs in den zerstörten Sektionen waren.«

»Abtaster?«

Lichtern räusperte sich und nickte hastig. Er hatte wohl in der Panik diese Option vergessen.

»Es … geht alles so schnell«, versuchte er sich zu verteidigen.

»Sie müssen die Nerven behalten. Ich verlasse mich auf Sie. Roboter sollen in den beschädigten Sektionen nach Lebewesen suchen, während Sie dafür Sorge tragen, dass die Passagiere den Ernst der Lage begreifen.«

»Aber … wir können sie schlecht zwingen, sich in den Kabinen anzuschnallen, 16.000 Leute in wenigen Minuten. Wie?«

In diesem Moment sprach der Kapitän über die Lautsprecher an die Galaktiker und gab die Anweisungen durch.

Sam erklärte Lichtern, er solle für die Sicherheit der Gäste Sorge tragen, gleichgültig, ob die Wesen es wollten oder nicht. Dutzende Passagiere beschwerten sich über die Unannehmlichkeiten, die sie durch diese »Übung« erlitten. Sam wusste darauf auch nichts mehr zu sagen.

Wyll Nordment und Rosan Orbanashol erreichten das Foyer und liefen auf Sam zu.

»Was ist passiert?«, wollten beide wissen.

»Die LONDON wurde getroffen und stürzt ab. Suchen Sie sich eine Kabine und legen sie sich in die Konturliegen und hoffen Sie, dass wir Glück haben.«

Der Somer begab sich wieder zu Perry Rhodan, der versuchte die verzweifelten Bemühungen den Sturz abzumindern, zu koordinieren.

»Ein pflockförmiger Asteroid … in Wirklichkeit aber ein Raumschiff«, murmelte Sam.

»Die WORDON. Es war Rodroms Rache«, stelle Rhodan bitter fest.

Die LONDON fing an zu vibrieren und fiel immer schneller.

»Moindrew, wir haben nicht mehr viel Zeit«, rief Rhodan ins Interkom. Er erhielt keine Antwort. Trotzdem nahm er auf der Konturliege Platz und schnallte sich an. Er war bereit.

Viele der Passagiere nahmen die Warnungen immer noch nicht ernst. Andere wiederum schrien beim Erzittern des Schiffes in Panik auf. Die Crew hatte die größte Mühe, alle sicher unterzubringen.

»Holling, können wir vielleicht mit Hilfe der Traktorstrahlen der Space-Jets die LONDON abbremsen?«, schlug Rhodan vor.

Der alte Mann schüttelte den Kopf.

»Versuch mal mit einem Bindfaden den Fall einer Tonne zu verhindern.«

Rhodan fluchte. Er vergewisserte sich, wie spät es war. 23:42 Uhr!

»Eintritt in die Atmosphäre. Wenigstens ein Wasserplanet«, murmelte er zu den anderen.

»Die LONDON kann auch auf dem Wasser schwimmen. Sie ist amphibisch gebaut«, erklärte Sam, der sich inzwischen auch auf einem Kontursessel angeschnallt hatte.

Rhodan wartete ungeduldig, bis endlich der Schutzschirm um die LONDON aufleuchtete. Sie entgingen damit der Gefahr, in der Atmosphäre zu verglühen. Die LONDON senkte sich nach vorn und Rhodan hatte alle Mühe, den Eintrittswinkel mit den Antigravtriebwerken zu korrigieren..

»40.000 Meter noch«, hörten sie Rudocc nach einer Ewigkeit rufen.

Rhodan befahl Moindrew, bei 10.000 Metern mehr Energie auf den Antigrav zu geben.

»30.000 Meter, 20.000 Meter ... 10.000 Meter.«

Der Antigrav bremste die Geschwindigkeit weiter ab. Dazu kam die Reibung der Atmosphäre, die immer mehr Geschwindigkeit aufzehrte. Die LONDON fiel mit einer geringeren Geschwindigkeit der Oberfläche entgegen. Sie setzte zuerst mit dem Bug auf. Der Schutzschirm erlosch, als Rhodan volle Energie auf den Antigrav gab. Durch die hohe Geschwindigkeit raste die LONDON über das Wasser, sie flog noch einmal hunderte Meter hoch und setzte wieder mit dem Bug auf, der sogar kurz etliche Meter in das Wasser tauchte. Die Glaskuppel zerbrach dabei in tausend Teile, dann beruhigte sich das Schiff langsam und blieb ruhig auf der See liegen.

Es herrschte für eine Weile Ruhe. Auf der Planetenseite war es Nacht. Die Sonne war nicht zu sehen und Dunkelheit hüllte die LONDON ein.

Viele Leute in der Kommandozentrale waren trotz der Anschnallgurte quer durch den Raum geflogen. Medoroboter machten sich sofort daran, sie zu verarzten.

Reinigungsroboter versuchten skurriler Weise die Schäden der Inneneinrichtung zu beheben.

»Jemand noch am Leben?«, fragte Rhodan mit hustender Stimme.

»So etwas werde ich nie wieder mitmachen, meine Herren«, hörte er Sams Stimme.

Auch die anderen hatten den Aufprall überlebt. Rudocc überprüfte die Schäden der LONDON.

»Die Glaskuppel ist zerbrochen, etliche Schäden an der Außenhülle. Wassereinbruch bei den Decks. Der Scanner zeigt ungefähr vierzig Tote an.«

Rhodan raffte sich wieder auf und warf selbst einen Blick auf die Kontrollen. Er wischte den Dreck, der durch das Abfallen des Deckenverkleidung auf den Konsolen lag, wieder weg. Hunderte der Passagiere waren verletzt. Doch für so einen Absturz konnte man zufrieden mit den Schäden sein, wenngleich der Tod der vierzig Passagiere beklagenswert war.

Moindrew hatte inzwischen die Kommandozentrale erreicht. »Wir haben es geschafft!«, meldete er fröhlich.

»Besser hätte es ein Bert Hefrich auch nicht machen können«, gestand Rhodan. Dann wurde er wieder ernst. »Wird sich die LONDON über Wasser halten?«

Moindrew machte einige Tests am Hologrammbild. »Das große Leck wird mit den Notschirmen abgedeckt. Solange diese halten, schwimmt die LONDON.«

»Haben wir keine Notschotts?«

»Doch, aber nicht für die Größe des Einschusses. Der Beschuss der WORDON hat mehrere Decks durchschlagen und tiefe Risse in der LONDON hinterlassen.«, erklärte der Konstrukteur der LONDON.

»Okay, lasst die Passagiere sich erst mal sammeln. Sie sollen jedoch gewarnt und auf eine nötige Evakuierung vorbereitet werden. Holling, die Rettungskapseln sollen bereit gemacht werden.«

»Wir haben ein Problem«, rief Wyll Nordment, der die Kommandozentrale zusammen mit Rosan Orbanashol betrat.

»Jemand hat sich an den Beibooten zu schaffen gemacht. Die Antriebe wurden demontiert.«

»Bei allen?«, rief Rhodan verwundert.

Nordment zuckte mit den Achseln.

»Jedenfalls bei denen, die wir überprüft haben. Wir werden das sofort untersuchen.«