01:45 Uhr
Das Wasser stand nur zwei Decks unter dem Hangardeck. Diese beiden Etagen waren bereits verloren. Die Besatzungsmitglieder versuchten, das Hangardeck vor einer Überflutung zu schützen. Alex Moindrew war es immerhin gelungen, einige primäre Systeme der Syntronik zu umgehen. Er leitete die spärlich vorhandene Energie in den Hangarbereich um. Es gab tatsächlich Passagiere, die sich darüber beschwerten, dass die Heizungen nicht funktionierten und stellten weltfremde Wünsche an das ohnehin überforderte Personal.
Es gab zwei Arten von Hangartoren auf dem Deck. Die einen führten zur Seite hinaus. Die anderen führten nach oben zur Oberfläche der Scheibe, dort, wo die Passagiere sonst über die Außendecks flanierten. Rhodan befahl, die Beiboote mit dem Antigrav und den Hebevorrichtungen auf die Decks zu bringen. Uto Lichtern und Evan Rudocc waren dafür verantwortlich. Sobald ein Beiboot am Bauch versiegelt und zum Transport auf dem Außendeck bereit war, begann die Evakuierung.
Rhodan war jedoch irritiert, dass kaum Passagiere zu sehen waren. Er eilte zu Lichtern.
»Wo sind die alle? Hier stehen vier Beiboote für 400 Leute bereit. Es ist fast 2 Uhr. Fang endlich mit der Evakuierung an.«
Lichtern zuckte zusammen.
»Die Passagiere sind in der Sternenhalle und in den Foyers, in den Türmen. Es ist ihnen zu kalt draußen.«
»Verdammt noch mal, zwingt sie dazu, in die Kapseln zu steigen«, brüllte Rhodan. Für einen kurzen Moment hatte er die Fassung verloren. Er atmete tief durch und legte seine Hand auf Lichterns Schultern.
»Holling soll sofort eine Durchsage machen. Wir dürfen keine Zeit verlieren.«
Lichtern nickte und informierte den Kommandanten auf der Kommandozentrale. Rhodan lief zu den Hangars, während er die Lautsprecheransage von Holling hörte.
Die Luft im Hangar war stickig und voller Rauch. Etwa 200 Männer und Frauen arbeiteten an den beschädigten und intakten Kapseln. Rhodan suchte und fand Moindrew.
»Status?«
»Wir haben 67 intakte Kapseln. Das entspricht etwa Platz für 7.000 Passagiere, wenn sie zusammen rücken. Wobei wir das Gewicht nicht getestet haben. Das sind Raumkapseln und keine Seekutter.«
»Wie lange wird sich die LONDON halten? Wieso arbeiten hier keine Roboter?«
Moindrew verzog das Gesicht.
»Die Syntronik hat die Roboter deaktiviert. Ich habe nicht die Zeit, die Sperre zu neutralisieren. Das Wasser hat nun das Hangardeck erreicht, doch noch hält es. Ich habe Energie für eine Stunde, um die Prallfelder und Schutzschirme aufrecht zu erhalten. Mehr nicht.«
Rhodan verstand.
»In dieser Zeit müssen die 67 Kapseln und alles, was schwimmen kann, auf den Decks sein. Können wir Passagiere bereits hier in den Hangar bringen, dann geht es schneller?«
Moindrew bestätigte. Rhodan machte sich auf den Weg zur Kommandozentrale. Die Antigravs und Transmitterstationen funktionierten nur noch an wenigen Stellen.
Nach acht Minuten erreichte er die Brücke. Dort sahen James Holling, Mugabe Sparks und Arno Gaton ihn fragend an.
»Wir können mindestens 7.000 Wesen retten«, stellte Rhodan fest. Er klammerte sich an diese Hoffnung.
Wenn man 7.000 retten konnte, bestand vielleicht die Möglichkeit auch mehr am Leben zu halten. Man musste die LONDON auseinandernehmen und Flöße bauen, alles was schwimmen konnte, musste verwendet werden. Schnell musste sich der Unsterbliche der Realität stellen. Es würde niemals für alle reichen.
9.000 Wesen werden sterben, ging es Rhodan durch den Kopf. Diesmal war auch er machtlos. Was konnte er gegen die Katastrophe tun?
»Sparks, sende weiter Hyperkomnachrichten. Versuche alles, um Hilfe zu erhalten!«, kommandierte Rhodan. »Holling, du und die anderen müssen die Evakuierung beginnen. Unverzüglich! Bringt die Passagiere ins Hangardeck. Die anderen sollen sich auf dem Außendeck versammeln. Es stehen Kapseln bereit.«
Der Kommandant wirkte geknickt. »Nun habe ich doch noch mein Wrack«, murmelte er nachdenklich.
Rhodan wusste nicht, was er damit meinte.
Der Kapitän machte sich auf den Weg nach draußen. Die Sirenen wurden aktiviert, damit auch der letzte Narr den Ernst der Lage begriff.
Ein älteres, akonisches Ehepaar trat auf ihn zu.
»Kommandant, wir sind doch sehr erstaunt, dass sämtliche Formenergie in unserem Quartier deaktiviert wurde. Bis auf die Beleuchtung funktioniert nichts mehr. Wir erwarten, dass das behoben wird …«
Holling blickte die beiden entgeistert an und ging weiter. In diesem Moment wurde per Antigrav die fünfte Rettungskapsel auf das Außendeck gehievt.
Lichtern, Spechdt und Rudocc kümmerten sich um die Evakuierung auf dem Deck. Maskott und Gellar waren im Hangar. Holling blickte auf sein Chronometer. Es war 2:12 Uhr.
Die Sirenen verstummten. Endlich füllte sich das Deck mit Passagieren. Holling blickte in die Höhe. Auf den Etagen und Türmen, die sich insgesamt vielleicht fünfhundert Meter in die Höhe erstreckten, standen unzählige Lebewesen. Holling fühlte, wie sie ihn anstarrten. Doch was sollte er noch ausrichten? Es war Platz für vielleicht 7.000 von 16.000 Wesen.
Was konnte er da noch bewirken? Holling wandte sich an Evan Rudocc zu. Er lächelte dem Ersten Offizier zu, der sichtlich verunsichert wirkte.
»Weitermachen«, sagte Holling knapp.
Rudocc winkte die Passagiere zu sich.
»Frauen und Kinder zuerst«, gab er die Parole aus und erntete dafür schon erste erboste Zwischenrufe, dass dies rassistisch und sexistisch sei.
*
Perry Rhodan fragte unterdessen die Daten des Planeten in der fast leeren Brücke ab. Nur der Funker Mugabe Sparks saß an seinem Terminal und sendete pausenlos Hilferufe.
Die Temperatur lag im Moment bei zwölf Grad Celsius. Die Wassertemperatur jedoch bei nur zehn Grad. Die Tiefe des Ozeans betrug über zehn Kilometer. Rhodan hatte die leise Hoffnung gehegt, die LONDON wäre zu groß gewesen. Doch selbst knapp 1,6 Kilometer Länge waren nicht ausreichend.
Sam eilte unterdessen zu Perry Rhodan.
»Gibt es etwas Neues?«
Rhodan schilderte die traurigen Tatsachen.
»Dann wird es wohl Muscheln zum Frühstück geben«, sagte Sam sarkastisch. Im nächsten Moment wurde der Somer wieder ernst.
»Wir müssen die Frauen und Kinder zuerst retten. Altruismus ist jetzt unverzichtbar. Außerdem müssen wir eine Panik verhindern.«
2:20 Uhr
Wyll Nordment war erschöpft. Er hatte bei der Reparatur und Bereitstellung der Rettungskapseln geholfen. Doch er musste sich auch um Rosan kümmern. Allerdings lehnte sie es ab, in das erste Rettungsboot zu steigen. Es war typisch für diese Frau und ein Grund, wieso er sie so sehr liebte. Sie hatte tatsächlich Mitgefühl mit ihrer Familie. Rosan wollte auf alle Fälle ihre Familie warnen. Auch wenn sie nicht mehr viel für sie übrig hatte, so wollte sie nicht ihren Tod. Hand in Hand ging das Paar in die Suite.
Rosan und Wyll eilten zur Kabine der Orbanashols.
Attakus und die anderen starrten sie abfällig an. Prollig, der Sicherheitschef der LONDON, stand ebenfalls in der Kabine, wie auch einer seiner Sicherheitsbeamten, der angestrengt versuchte, die Orbanashols zu überzeugen, sich an Deck zu begeben. Attakus trug einen Verband um seinen Arm.
»Wo gibt es denn so was? Der Täter kehrt zum Tatort zurück«, meinte Attakus.
Wyll sah ihn ungläubig an.
Prollig legte ihm Energiefesseln an.
»Was soll das?«
»Es tut mir Leid, Junge. Du hast versucht Attakus Orbanashol zu erschießen«, erklärte der Sicherheitsoffizier. »Wir haben eine Waffe mit deinen Fingerabdrücken hier. Außerdem klebt dein Blut auf einem Brieföffner, den Attakus nahm, um sich zu verteidigen. Diesmal bist du zu weit gegangen.«
»Das ist eine Lüge!«, schrie Nordment.
»Attakus, Mutter ...«, rief Rosan ihrer Familie entgegen. »Wir haben anderes zu tun. Die LONDON wird untergehen. In knapp 40 Minuten erlöschen die Energiefelder. Dann wird der Hangar geflutet. Es sind nicht genügend Rettungskapseln da. Die LONDON geht unter!«
»Die LONDON wird nicht untergehen«, beharrte Thorina. »Das Schiff ist für wohlhabende Bürger gebaut worden, da passiert uns nichts.«
Plötzlich wurde die Arkonidin doch nachdenklich.
»Was würde denn aus meinen neuen Sachen werden? Ich habe so schöne Mäntel hier bekommen. Die müssen wir mitnehmen.«
Rosan lief wutentbrannt zu ihrer Mutter, packte sie an den Schultern und schüttelte sie.
»Mutter, wach' endlich auf. Die Rettungskapseln reichen gerade für die Hälfte aller Passagiere.«
»Ein Grund mehr, dass wir uns zu den Kapseln begeben sollten«, meinte Attakus.
Er packte Rosan am Arm. Sie riss sich los. Jetzt reichte es Attakus, er holte aus und ohrfeigte seine Verlobte. Schmerzverzerrt drehte Rosan ihren Kopf weg.
Dann mimte der junge Orbanashol wieder den zivilisierten Aristokraten und wandte sich dem Sicherheitsbeamten zu.
»Bitte reserviere bereits einen Platz in den Rettungskapseln für mich und meine Verlobte.«
Diese rannte kopfschüttelnd aus der Kabine. Für Attakus war diese Regung nicht nachvollziehbar. Diese Terraner hatten so seltsame Ansichten. Sie waren Barbaren und spielten sich wie tugendhafte Ehrenmänner auf. Attakus dachte nicht einmal im Traum daran, dass die Arkoniden einmal tugendhafte Gentlemen waren, die sich seit vielen Jahren wie Barbaren aufführten.
Prollig führte Wyll ab, der noch verzweifelt Rosans Namen rief. Zhart begleitete Prollig, um sicher zu gehen, dass Nordment dieses Mal wirklich von der Bildfläche verschwand.
Die Orbanashols gingen aus der Kabine hinaus auf den Korridor.
»Dienerin, drehe die Heizung auf, damit es nicht so kalt wird, wenn wir wieder zurückkehren«, ordnete Thorina selbstgefällig an. »Ein Schiff der kosmischen Hanse wird nicht sinken. Schließlich haben wir eine Menge für den Flug bezahlt.«
Rosan erwiderte nichts mehr. Ihre Mutter schien nicht zu begreifen, welche Tragödie sich auf dem Raumschiff anbahnte. Von Anfang an hatte sie es nicht verstanden. Weder bei der Entführung durch Dannos, noch nach dem Angriff Rodroms. Jetzt, als es feststand, dass tausende Lebewesen grausam ertrinken würden, sorgte sie sich um ihre Mäntel und schien den ganzen Untergang überhaupt nicht ernst zu nehmen.
Rosan verstand diese maßlose Arroganz nicht. Thorina war doch ihre Mutter. Irgendwelche Gefühle musste sie doch besitzen. Rosan dachte wieder an Wyll Nordment. Sie musste ihm irgendwie helfen. Doch wie? Diese Menschen um sie herum waren ihr fremd. Obwohl sie mit Spector, Attakus und Thorina ihr bisheriges Leben verbracht hatte, empfand sie nichts für die Arkoniden. Diese Familie widerte sie nur noch an! Sie schämte sich für die Orbanashols zutiefst und wollte aus dem Kristallkäfig endlich ausbrechen. Selbst im Angesicht des Todes achteten die steifen Arkoniden auf ihre Etikette, machten ihre schamlosen Witze und stolzierten auf einem hohen Ross.
Auf dem Weg trafen sie noch den topsidischen Delegierten Terek-Orn und den Springerpatriarch Kolipot.
»Welche Kapselnummer haben wir?«, fragte der Springer die Kreuzfahrtmanagerin Terna Ambyl, die einen sichtlich hilflosen Eindruck machte.
Der Offizier schüttelte den Kopf. »Es tut mir Leid, nur Frauen und Kinder können zuerst evakuiert werden.«
Beide blieben wie erstarrt stehen und sahen sich an.
Der Topsider fasste sich an das Kinn. »Heute ist wohl ein guter Tag zum Sterben. Kellner, bringe uns eine Flasche Vurguzz, wir wollen wenigstens wie echte Männer abtreten!«
Beide begaben sich in die Sternenhalle, warteten offenbar auf den Untergang.
Die anderen Passagiere drängelten sich langsam auf das Deck. Viele glaubten immer noch nicht, dass die LONDON untergehen konnte. So etwas gab es doch nicht. Ein Raumschiff ging nicht auf dem Wasser unter. Das war für die meisten Reisenden einfach nur grotesk. Keiner konnte sich so richtig die drohende Gefahr vorstellen. Die LONDON war gewaltig, 1.600 Meter lang. Keine Nussschale von einhundert Metern.
Jakko Mathyl wurde auch aus seiner Kabine geholt. Er trug noch seinen Bademantel. Erst nach mehrmaligen Drängen der Crewmitglieder zog er sich an.
Perry Rhodan hatte inzwischen anweisen lassen, soviel Schwimmwesten wie möglich herzustellen. Die Crewmitglieder arbeiteten daran und fertigten etliche der vielleicht rettenden Westen an.
Die Rettungskapseln wurden umfunktioniert. Um die Passagiere schneller einladen zu können, hatte man die Glaskuppeln abmontiert. So mussten sich die Frauen und Kinder nicht durch einen Eingang quetschen, sondern konnten von oben in die Kapsel einsteigen. Sparks und Rudocc hatten die Aufsicht über die Verteilung und Besetzung der Boote.
Die Sirenen heulten immer wieder auf, um die Passagiere zu informieren. Bisher waren sieben Rettungsboote mit etwa 550 Passagieren zu Wasser gelassen worden.
Es war inzwischen 2:30 Uhr. Vor den Kapseln auf Deck hatte sich eine Masse versammelt.
Offizier Ute Lichtern bat um Ruhe. Die Sirenen verstummten nach einer Weile. Er setzte ein gequältes Lächeln auf und wies die Passagiere an, geordnet und gesittet die Rettungsfähren zu betreten. Er forderte zuerst die Frauen und Kinder auf. Zögerlich stiegen die ersten Wesen in die erste Kapsel ein. Lichtern half den Frauen und Kindern beim Einstieg, um den Vorgang zu beschleunigen.
Ein terranisches Wesen im Kleid, hoch gewachsen, mit modischem Bart, einer Designerbrille und Ringen an jedem Finger trat an Lichtern heran.
»Sorry, Kleiner, aber was ist mit den intersexuellen Wesen?« Es wedelte mit dem Ausweis vor der Nase von Lichtern. »Ich bin weder Mann noch Frau.«
Lichtern war ratlos.
»Und ... und mit welchem Geschlecht würdest du dich am ehesten identifizieren?«
»Nun, in diesem Fall natürlich mit einer Frau. Darf ich einsteigen?«
Lichtern nickte verdutzt und gewährte dem Passagier den Zutritt auf dier Rettungskapsel.
Dieser rannte sofort los. Rudocc hob die Arme und signalisierte, dass die ersten Frauen und Kinder in seine Kapseln konnten.
»Frauen und Kinder hervortreten«, rief er laut.
Zur Steuerung hatten sie provisorische Paddel konstruiert. Der Sabotageakt hatte fast den ganzen Energievorrat der Kapseln deaktiviert.
Das Boot wurde mit nur knapp 80 Passagieren gefüllt. Ziemlich hastig und übereilt wurde die Kapsel mit dem Antigrav zu Wasser gelassen.
Rhodan bemerkte diese Schlamperei nicht, da er nach weiteren Rettungsmöglichkeiten suchte. Er schlug vor, dass man aus den schwimmfesten Möbelstücken Flöße bauen sollte. Einige Männer machten sich sofort an die Arbeit.
2:40 Uhr
»Das ist die letzte Kapsel. Jetzt raus hier. Raus, raus«, brüllte Alex Moindrew den verbliebenen Crewmitgliedern im Hangar zu. Einige Passagiere standen noch verdutzt auf den Korridoren und wurden die Treppe hoch gedrängt. Die Antigravs waren schon lange deaktiviert worden, um die restliche Energie für den Schutzschirm aufzuwenden.
Das Licht flackerte. Moindrew blickte auf seinen Pikosyn. Er zeigte an, dass die Energie der Schutzschirme nun verbraucht war. Es war ihnen immerhin gelungen, zehn Kapseln mit 1.280 Passagieren aus dem Hangar auszuschleusen. Sie schwammen und bewegten sich langsam von der LONDON weg.
51 Kapseln hatten sie auf die Decks bringen können. Die restlichen sechs Schiffe wurden einfach ins Wasser gestoßen. Ein lauter Knall läutete den Zusammenbruch der Energiefelder ein. Moindrew hörte das Rauschen des Wassers.
Von nun an war der Untergang der LONDON nicht mehr aufzuhalten.