9.
Der schleichende Tod

2:55 Uhr

Zwanzig Rettungskapseln waren zu Wasser gelassen worden. Inzwischen brach eine leise Panik unter den Passagieren aus. Die Familien wollten sich nicht voneinander trennen. Viele Frauen und Kinder wurden von stärkeren Leuten zurückgedrängt. Langsam realisierten die Reisenden der LONDON, in welcher Gefahr ihr Leben schwebte.

Die Kapelle spielte zwar muntere Lieder, wie Orpheus und die Unterwelt, die Mehandor-Polka und ophalische Volkslieder, doch niemand achtete mehr darauf. Als man die Bedrohung durch das Wasser nun direkt auf den Decks erkennen konnte, entstand eine große Unruhe.

Ein Mirsalese hatte großes Glück. Obwohl er schon 120 Jahre alt war, ging er als Kind durch, was er seiner geringen Größe zu verdanken hatte. Er wurde in Rettungsboot Nummer 12 verfrachtet. Auch die Orbanashols näherten sich langsam den Kapseln.

Attakus versuchte inzwischen Lichtern zu bestechen, doch dieser gehörte zu den gewissenhaften Leuten.

Spector sah sich auch nach anderen Möglichkeiten um. Er packte sich Rudocc.

»Hör zu, du bekommst zwanzig Millionen Galax bar auf die Hand, wenn du für mich, meinen Neffen und Haushofmeister drei Plätze auf einem Boot sicherst.«

Er drückte Rudocc einen großen Batzen Geld in die Hand. Der Erste Offizier ließ sich von der Summe überzeugen.

»Haltet euch auf der linken Seite des Schiffes, dort bin ich und kann euch reinlassen«, erklärte er.

Nun waren Rosan und Thorina an der Reihe. Rosan hielt jedoch Ausschau nach Wyll. Ob er immer noch im Inhaftierungstrakt war? Das durfte nicht sein. Sie konnte ihn doch nicht hilflos hier zurücklassen. Die Halbarkonidin sah, wie Zhart zu Attakus lief. Wyll war nicht bei ihm!

Rosan eilte sofort zu beiden und bekam noch mit, wie der Haushofmeister ihrem Cousin berichtete, dass Nordment erledigt war.

»Was habt ihr mit ihm gemacht?«, wollte sie wissen.

»Er dürfte bald Fischfutter sein«, meinte Attakus amüsiert. »Und nun geh in deine Rettungskapsel!«

Rosan schaute unschlüssig auf das lebensrettende Gefährt. Lichtern drängte die Frauen einzusteigen. Nun stieß auch Delia Gaton hinzu. Sie trug ein Abendkleid und war wie für eine Gala ausstaffiert. Sie begrüßte Thorina freundlich.

»Delia, sage mir, ob das die Raumschiffe für die Erste Klasse sind«, erkundigte sich Thorina. »Die sehen so schäbig aus. Hier gibt es ja nicht einmal einen Steward.«

Delia gesellte sich affektiert zu Lichtern, der alle Mühe hatte, die Massen von den Booten zurückzudrängen. Er bat Delia Gaton sofort in das Boot einzusteigen, doch sie verwehrte ihm diese Bitte.

»Mister Lichtern! Ich bin die Frau des Eigentümers. Ich kann ja wohl erwarten, dass ich und die ehrenwerten Orbanashols separate Boote für uns und unsere Bediensteten erhalten.«

Lichtern starrte die Gaton mit einer Mischung aus Verwunderung und purer Verachtung an. Er schien kurz darüber nachzudenken, ob das wieder einer ihrer geschmacklosen Witze war, doch anscheinend war das nicht der Fall.

»Dein verdammter Bastard von Mann ist doch hierfür verantwortlich. Also rein ins Boot oder du ersäufst hier!«

Delia rügte den Offizier, er dürfe nicht in solch einem Ton mit ihr reden. Brüllend packte er sie bei den Hüften, hob sie an und setzte sie im Boot ab. Dann zückte er seinen Thermostrahler und forderte Thorina auf, sich ebenfalls in die Kapsel zu begeben. Als er merkte, dass Spector einsteigen wollte, richtete er die Waffe auf den Orbanashol.

»Zurück, Sir! Nur Frauen und Kinder!«

Spector wich zurück. Das kostete ihm viel Überwindung, doch dieser Lichtern schien zu allem bereit. Er warf seiner hässlichen Frau noch einen letzten Blick zu. Thorina kauerte unruhig auf dem unbequemen Sitz des Schiffes, während Delia Gaton immer noch nicht über die burschikose Art des Offiziers hinweg kam.

»Tochter, komm endlich!«, schrie Thorina, als sie Rosan zögerlich vor der Kapsel stehen sah. Attakus forderte Rosan nun auch auf, endlich in das Boot einzusteigen.

Das Boot, dachte Rosan. Sie starrte darauf. Es rettete ihr Leben, während tausende sterben würden. Ihr Leben … doch was war mit Wyll? Was war ihr Leben ohne das seine wert, hatte er ihr nicht erst beigebracht wirklich zu leben? Wyll hatte Rosan aus dem düsteren Kristallkäfig befreit. Sie durfte ihn nicht zurücklassen!

Rosan blickte ihren ehemaligen Verlobten Attakus an und schüttelte den Kopf.

»Nein ich kann nicht«, sagte sie und wollte weglaufen. Sie verabschiedete sich von ihrer Mutter und rannte los. Sie bekam die drohenden Rufe Thorinas nicht mehr mit. Attakus eilte hinterher und ergriff ihrem Arm.

»Wo willst du hin? Zu ihm?«, fletschte er ihr entgegen.

»Ja, zu ihm. Ich will für immer bei ihm bleiben.«

»Du willst die Hure dieses terranischen Bekkar werden?«, schrie der Arkonide fassungslos.

»Lieber die Hure dieses terranischen Bekkars, als deine Gemahlin«, brüllte Rosan ihm entgegen und schlug Attakus mit der Hand ins Gesicht.

Er ließ sie los. Sie nutzte die Gelegenheit und rannte los. Attakus gab Zhart einen Wink, sie im Auge zu behalten.

Attakus wollte seinen Besitz nicht hergeben. Er war Arkonide. Wyll Nordment ein Barbar. Er hatte nicht das Recht, einem Aristokraten etwas wegzunehmen. Rosan hatte für Attakus den Stellenwert eines Spielzeuges. In gewisser Weise liebte er sie auch, besser gesagt; er hing an ihr.

Spector stand neben seinem Cousin und starrte ihn schweigend an. Beide betrachteten die Rettungskapsel, in der sich Thorina befand. Offizier Lichtern gab dem Navigator High Gellar ein Zeichen, sich in die Kapsel zu setzen.

»Aber ihr braucht mich hier doch noch«, wandte Gellar ein.

»Rede keinen Unsinn, Navigator. Wir brauchen auch fähige Leute auf den Rettungskapseln. Du bist noch jung. Du hast das Leben vor dir«, erklärte Lichtern eindringlich.

Der junge Offizier befolgte schließlich mit gemischten Gefühlen den Befehl und übernahm das Kommando der Rettungskapsel.

Das Boot wurde nun zu Wasser gelassen. Lichtern gab die Befehle, wie man den Antigrav einsetzen sollte. Langsam glitt es herunter, bis es das Wasser erreicht hatte. Die Leute auf dem Boot fingen an, von der LONDON mit provisorisch zusammen geschusterten Paddeln weg zu rudern.

*

Die Panik wurde nun immer größer. Die LONDON hatte eine Neigung von vier Prozent erreicht. Sie füllte sich immer mehr mit Wasser. Der Hangar war nun im vorderen Bereich geflutet.

Als der Abstand zum Wasser geringer wurde, entschlossen sich einige Männer in das kühle Nass zu springen.

Wer den Sprung überlebte, versuchte verzweifelt eins der Rettungsschiffe zu erreichen.

Perry Rhodan und Sam beobachteten die angestrengten Versuche der Menschen, ihr Leben zu retten. Wie lange würde es noch dauern, bis eine Massenpanik ausbrach? Bis jeder nur noch an sein eigenes Leben dachte?

Einige Schwimmer schrien plötzlich auf und tauchten unter. Sie kehrten nicht mehr an die Wasseroberfläche zurück. Rhodan beäugte misstrauisch das Wasser. Er rief Spechdt zu, die Scheinwerfer auf das Wasser zu richten.

»Da schwimmt was«, stellte Sam alarmiert fest.

»Das sind diese Haiwesen von vorhin«, stellte Rhodan fest.

In dem Moment schnellte eine dieser Wasserkreaturen hoch. Das blauschuppige Tier schnappte sich einen Imarter und riss ihn in die Tiefe. Rhodan schätzte die Länge des Fisches auf mehr als sechs Meter.

»Oh mein Gott. Die Boote müssen aufpassen!«, rief Rhodan.

*

Auf einer Rettungskapsel brach Panik aus, als einer der Männer versuchte auf das Boot zu gelangen.

Delia Gaton schrie hysterisch auf. Ein Plophoser krallte sich am Rand der Kapsel fest und versuchte sich hochzuziehen. Thorina reagierte schnell und schnappte sich ein provisorisches Ruder. Erbarmungslos schlug sie damit auf den verzweifelten Menschen ein.

Einer der Raubfische wurde dadurch allerdings angelockt. Es schnellte auf den Mann hin und biss zu. Es zerriss ihn in zwei Teile. Der obere Teil des Mannes hing noch am Boot. Kreischend zuckten die Frauen und Kinder zusammen. Die Frauen trauten sich nicht, die Überreste herunterzuwerfen. Die Kinder fingen an zu winseln. High Gellar versuchte sie zu beruhigen.

Thorina hatte weniger Probleme damit. Sie ging vorsichtig zum Bootsende und gab dem Toten einen Tritt. Doch Sekunden später rammte das Tier die Kapsel beim Versuch den Rest des Mannes zu fressen. Die Kapsel kenterte zwar nicht, doch einige der Passagiere fielen heraus. Thorina verlor das Gleichgewicht. Sie wollte noch Delia Gatons Hand ergreifen, doch es war zu spät. Sie platschte ins Wasser. So schnell sie konnte, tauchte sie wieder auf und rief um Hilfe. Sie versuchte zum Boot zu gelangen, doch die in Panik verfallenen Insassen ruderten von ihr weg. Sie behandelten Thorina auch nicht anders, als die Arkonidin den Hilfe suchenden Mann behandelt hatte. Zwar rief Gellar noch gegenteilige Befehle, doch war es für Thorina zu spät.

Sofort tauchten vier weitere der Meerestiere auf und stürzten sich auf ihre Beute. Die alte Orbanashol schrie laut auf, als eine der Kreaturen in ihren Unterleib biss. Prustend versuchte sie sich an der Oberfläche zu halten. Dann zog das Tier sie einige Meter mit. Delia Gaton starrte fassungslos auf das Schauspiel. Thorina Orbanashols Oberkörper zog im Wasser einen Kreis, die Hände nach oben gestreckt, wild schreiend. Dann hörte man nur noch ein Gurgeln und Röcheln, bevor sie für immer in den Tiefen des Meeres versank. Der Ozean verfärbte sich rot.

*

Rhodan schaltete schnell.

»Wir müssen Fleisch und sonstige Nahrung ins Wasser werfen. Die Viecher müssen satt werden, bevor sie sich auf uns stürzen.«

Er und Sam machten sich zusammen mit einigen anderen auf den Weg in die Kombüsen und holten so viel Nahrung, wie sie tragen konnten und warfen sie ins Meer. Die Haifische stürzten sich darauf.

»Hoffen wir, dass dein Plan aufgeht«, meinte Sam.

Rhodan schüttelte den Kopf. »Es ist ziemlich aussichtslos. Die Männer und Frauen können im Wasser nicht tagelang ausharren. Doch bis Hilfe kommt, wenn überhaupt Hilfe kommt, können Tage vergehen. Wenn diese Biester uns dazu noch angreifen, haben wir keine Chance.«

Wie lange konnten die Wesen in dem kalten und von Haien wimmelnden Wasser schon aushalten? Eine halbe Stunde? Es war aussichtslos. Rhodan verfluchte Rodrom und Gaton!

 

3:10 Uhr

Alex Moindrew bat die Passagiere die selbst produzierten Schwimmwesten anzulegen und endlich an Deck zu gehen. Es gab immer noch viele Gäste, die auf den Korridoren herumliefen oder in ihren Kabinen warteten. Andere nahmen noch ein Abendessen in den Bordrestaurants der Sternenhalle oder von Turm A und B ein. Das Wasser schien hier so unendlich weit weg. Ein trügerisches Gefühl.

Auf dem Weg zu einem Gang, lief ihm Rosan über den Weg. Sie war völlig außer Atem. Ihre Augen wässrig.

»Rosan, was machst du noch hier?«, fragte er sie. »Die LONDON wird in der nächsten Stunde untergehen. Es gibt nicht genügend Rettungskapseln. Du musst dich retten.«

»Wo inhaftiert man die Verbrecher?«, wollte Rosan wissen.

Moindrew war irritiert.

»Bitte, es ist wichtig. Wyll ist im Sicherheitstrakt gefangen.«

Moindrew erklärte ihr den Weg zu den Inhaftierungsblocks. Rosan bedankte sich kurz und rannte in den unteren Schiffsteil, welcher zum Teil bereits unter Wasser stand. Moindrew begab sich nach draußen. Er verfolgte die Evakuierung. Wütend ging er zu Rudocc.

»Was soll das? Die Kapseln sind ja teilweise nicht einmal zur Hälfte bemannt.«

Rudocc war auch mit den Nerven völlig am Ende. Er war in dieser Situation völlig überfordert. Er schüttelte den Kopf.

»Wir ... wir wussten nicht, ob die Kapseln hielten«, entschuldigte er sich.

»Die Kapseln sind aus hartem Stahl, die brechen bei 100 Menschen sicher nicht zusammen. Nicht einmal bei 100 Halutern. Verdammt noch mal, holt die Kapseln zurück und füllt sie vollständig. Jedes Leben, das gerettet werden kann, ist es wert!«

Der Offizier nickte rasch und ordnete an, dass noch mehr Passagiere in die Kapseln konnten. Er rief die anderen Kapseln zurück, doch niemand hörte auf ihn.

*

Moindrew und Rudocc eilten zum Kapitän Holling, der ziellos durch das obere Deck wanderte und mit Grausen die Evakuierung verfolgte.

»Sir, wir müssen die Boote wieder zurückrufen, damit wir mehr Passagiere einladen können. Auf mich hören die nicht, aber du als Kapitän hast mehr Autorität«, erklärte er dem Kommandanten.

Der Plophoser machte jedoch einen zunehmend verwirrten Eindruck.

»Ja ... ja, wenn du meinst«, sagte er langsam und sah sich um. Er griff ein Sprechgerät und ging an die Reling. »Achtung, Achtung. Hier spricht der Kommandant. Die Kapseln, die nicht voll beladen sind, sollen sofort zurückkehren, um mehr Personen aufzunehmen. Das ist ein Befehl! Kehrt um!«

Doch die Leute reagierten nicht. Sie hatten Angst, die LONDON könnte urplötzlich sinken oder zu viele würden dazu kommen.

Keine der Rettungskapseln kehrte um. Holling wiederholte seinen Befehl noch einige Male, bevor er enttäuscht das Sprechgerät deaktivierte. Er war verloren. Die Wesen scherten sich nicht mehr um das Leben der anderen. Sie waren froh, gerettet zu sein.