2.
Rache

Ich saß wach auf dem Fensterbrett und starrte auf die leere, dunkle Straße.

Robbie war tot.

Und niemand würde Aleks und Krizz bestrafen. Onkel Tuzz war nach seinem Feierabend zu mir gekommen. Ich hatte ihm berichtet. Doch Tuzz wollte nicht, dass wir das zur Sprache brachten. Die Eltern von Krizz und Aleks waren Kunden von ihm. Onkel Tuzz hatte gemeint, das Geschäft ginge vor. Was für einen Eindruck würden sie von ihnen haben? Vielleicht hätte ich mir auch nur alles eingebildet.

Gönnerhaft hatte er mir angeboten, einen neuen, moderneren Roboter zu kaufen. Damit war für ihn die Sache erledigt. Er verstand nichts.

Krizz und Aleks hatten Robbie ermordet, – meinen einzigen Freund niederträchtig getötet.

Ich schloss die Augen. Tränen kullerten über meine Wangen. Ich musste ihn rächen. Doch was konnte ich schon tun? Sie würden mich wieder verprügeln.

Langsam öffnete ich wieder die verweinten Augen. Im Vorgarten stand plötzlich ein Mann. Konnte das sein? Ich wischte die Tränen aus den Augen, stand auf und öffnete das Fenster.

Das war er!

Cau Thon! Er hob die Hand. Wie von Geisterhand gesteuert schwebte er hoch an mein Fenster. Ein feines Lächeln umspielte die Lippen.

»Ich habe dir versprochen, dass wir uns wiedersehen«, flüsterte der Rothäutige. Dann wurde er ernst. »Doch leider haben sie dir wieder einmal großen Schmerz zugefügt.«

Ich wich zurück, doch Cau Thon machte keine Anstalten, mein Zimmer zu betreten.

Er schwebte vor meinem Fenster und legte die Hände auf den Fenstersims.

»Zieh dich an. Wir haben etwas zu erledigen.«

»Ich will nicht. Ich bin in Trauer. Lass mich!«

Cau Thon lachte heiser.

»Wie du wünscht, Cauthon Despair. Dann nehmen wir keine Rache an den beiden Jungen, die Robbie vernichtet haben.«

Ich wurde hellhörig. Rache nehmen? Ja! Sie hatten eine Bestrafung verdient. Ich hasste Aleks und Krizz. Cau Thon schien das zu wissen. Er wollte mir offenbar helfen.

Ich zog mir rasch warme Kleidung über und eilte zum Fenster. Cau Thon streckte eine Hand aus. Ich ergriff sie und stieg aus dem Zimmer, klammerte mich an seinem Rücken, ehe wir langsam auf den Boden sanken.

Ich wusste nicht wieso, aber ich spürte wieder diese große Vertrautheit.

»Wo gehen wir hin?«

»Zu meinem Gleiter«, sagte Cau Thon und deutete auf ein schmales, längliches Vehikel. Der tiefschwarze Gleiter besaß zwei Sitze hintereinander.

Ich nahm auf dem hinteren Sitz Platz und hielt mich an den Haltegriffen vor mir gut fest. Cau Thon stieg ein, da heulte der Motor auch schon auf und das Gefährt brauste durch die leeren Straßen von Port Arthur. Zumindest in unserem Bezirk war es zu dieser späten Stunde wie ausgestorben.

Ich kannte den Weg. Ich musste ihn jeden Tag bestreiten. Es ging zur Schule. Die drei trichterförmigen Türme erkannte ich trotz der Dunkelheit, da sie gut beleuchtet waren.

Das Geschäft des Blues war geschlossen. Wir hielten vor der dunklen Seitengasse. Wehmut und Wut überkamen mich. Hier war Robbie brutal ermordet worden.

Cau Thon stieg ab. Ich tat es ihm gleich. Wir gingen in die Gasse. Die schrecklichen Bilder schossen in meine Erinnerung. Ich würde sie niemals vergessen. Wir hielten an einem etwa zwei Meter langen und einen Meter tiefen Container.

Es war ein Hauskonverter. Der Abfall wurde über ein Röhrensystem hier hineingeworfen. War der Konverter voll, wandelte er automatisch den Müll in Energie um und speiste sie in die interne Stromversorgung des Gebäudes ein.

Cau Thon schmunzelte. Er drückte einen Knopf. Der Konverter öffnete die Luke. Meine Augen weiteten sich, als ich den Inhalt sah. Zwischen Essensresten und Müllbeuteln hockten Aleks und Krizz. Sie starrten mich aus ihren verweinten Augen an.

»Eure Konverter haben eine Sicherheitsschaltung, welche die Zerstrahlung von lebendem Organismus verhindert. Ich habe sie deaktiviert«, sagte Cau Thon kühl.

Wollte er? Nein! Er jagte ihnen nur Angst ein. Und sie fürchteten sich zu Tode. Ich spielte mit und blickte sie herablassend an. Die Wut und Verachtung in mir waren echt. Sie hatten mir meinen geliebten Robbie genommen.

»Nun seid ihr nicht mehr so mächtig. Wer ist hier der Stinker? Ihr müffelt ganz schön. Aber zumindest seid ihr jetzt dort, wo ihr hingehört«, rief ich und trat an den Rand des Konverters.

Sie winselten und schüttelten den Kopf. Ihre Münder waren zu grotesken Grimassen verzogen, doch kein Laut war zu hören. Ein energetisches Schalldämmungsfeld vor ihrem Mund verhinderte, dass ich, oder überhaupt irgendjemand, ihre Schreie hörte.

Ich genoss diesen Augenblick. Da kauerten Aleks und Krizz im Müll und weinten vor Angst. All die Jahre der Quälerei wurden gerächt. Ich fühlte nichts als grenzenlose Genugtuung.

Und doch: Was würde Morgen geschehen? Wenn Cau Thon nicht mehr da war, würden sie über mich herfallen. Das bereitete mir Sorge.

»Verabschiede dich von diesen törichten Kreaturen, Cauthon«, forderte der Rothäutige mich auf.

Ich vertraute ihm. Er würde sicher daran gedacht haben, mich vor zukünftigen Strafen der beiden zu bewahren.

Ich dachte wieder an Robbie und all die Demütigungen. Dann spuckte ich auf Aleks.

»Noch eine angenehme Zeit im Dreck. Das passiert, wenn ihr euch mit mir anlegt. Lasst mich für immer in Ruhe!«

Ich nickte, um mich selbst zu bestätigen. Cau Thon drückte einen Knopf. Die Luke schloss sich.

»Nun, Cauthon! Dieser zweite Knopf aktiviert den Konverter. Eine kleine Bewegung deines Fingers und deine Probleme in der Schule sind für immer gelöst.«

Ich sah Cau Thon an. Seine rotgoldenen Augen funkelten. Er meinte es ernst. Aleks und Krizz töten? Nein, das konnte ich nicht tun. Dazu hatte ich nicht das Recht, oder? Ich schüttelte den Kopf.

Ich erwartete einen harschen Wutausbruch von Cau Thon, doch er blieb ruhig.

»Du achtest sogar das Leben, welches dich quält. Leben und leben lassen heißt es bei den Terranern. Du wirst irgendwann die Erfahrung machen, dass leben und sterben lassen der Realität entspricht.«

Cau Thon legte den Finger auf den Knopf und blickte mich erwartungsvoll an.

Was sollte ich tun? Ihn davon abbringen? Wenn er sie umbrachte, war ich es ja nicht. Und sie würden mich wirklich niemals mehr quälen. Sie hatten den Tod verdient.

»Ich habe von einem Freund deiner Eltern gelernt, dass es bei euch Terranern auch Auge um Auge, Zahn um Zahn heißt. Ich nehme diese Phrase gerne wörtlich.«

Ein Freund meiner Eltern? Ich wusste so wenig über sie. Cau Thon schien offenbar viel über die Zeit meiner Geburt zu wissen. Ich wünschte, er würde mir mehr darüber erzählen.

»Willst du mich aufhalten?«

Das musste ich wohl. Aber wie? Er war doch viel stärker als ich. Und sollte ich meine Freundschaft zu Cau Thon wegen Aleks und Krizz aufs Spiel setzen? Nein!

Robbie! Sie hatten ihn ermordet, mich gedemütigt und verprügelt. Sie hatten doch dieses Schicksal verdient und sich selbst zuzuschreiben. Ich senkte den Kopf und schloss die Augen.

Ich hörte ein leises Lachen von Cau Thon, dann brummte der Konverter, schüttelte sich hörbar, bevor es wieder ruhig wurde. Nun öffnete ich die Augen. Cau Thon betätigte den Sensor, um ihn zu öffnen. Zaghaft trat ich näher und spähte hinein.

Er war leer!

*

Wir saßen noch einige Zeit im Garten hinter unserem Haus. Onkel Tuzz und Tante Ivy schliefen tief und fest. Ich schaute hoch zu den Sternen. Wie gerne wäre ich wieder auf einem anderen Planeten.

»Deine Eltern haben dich geliebt. Ihr Tod kam viel zu früh und ich konnte es nicht verhindern«, erklärte Cau Thon.

Ich bat ihn, mir mehr zu erzählen.

Cau Thon gab mir einen Datenträger.

»Bilder sagen mehr als Worte. Hier sind einige Aufzeichnungen aus ihren Logbüchern. Ich werde dich wieder besuchen und dir mehr bringen.«

Ich nahm den Datenträger, als wäre er mein heiligster Schatz. Cau Thon verabschiedete sich kurz darauf. Ich war traurig, dass er wieder ging, denn nun war ich schon wieder allein.

An Krizz und Aleks dachte ich nur flüchtig. Sie waren nun einmal tot und ich weinte ihnen keine Träne nach. Es war Cau Thons Entscheidung gewesen. Ich hätte nicht den Mut gehabt, den Konverter zu aktivieren, doch er schon.

Nachdem Cau Thon gegangen war, schlich ich in mein Zimmer und steckte den Datenträger in meinen Rechner. Wenig später erschien eine Aufzeichnung von meinem Vater und meiner Mutter.

Ich sah zum ersten Mal in meinem Leben bewegte Bilder meiner Eltern.

Der Eintrag datierte auf den 29. Dezember 1263 NGZ. Sie sprachen über ihre Arbeit im Orbit des Planeten Neles, meinem Geburtsort.

Es war belangloses Gerede, doch ich klebte an ihren Lippen und genoss jede Silbe. Tränen rannen über mein Gesicht, so glücklich war ich. Ich speicherte ein schönes Bild von ihnen ab und kopierte es in den holografischen Bilderrahmen.

Ich stellte das Bild neben mein Bett, drückte einen Kuss darauf.

»Gute Nacht Mama, gute Nacht Daddy!«