6.
Die Ritter aus Shagor

Die lange Reise fand ein Ende.

Arib’Dar strich über sein haarloses Haupt und blickte zu seinem Rittergefährten Port’Gar, der wieder einmal mit essen beschäftigt war. Sein einstiger Schüler achtete nicht auf seine Linie und sein Aussehen. Doch für seine Leibesfülle war er erstaunlich behände.

Arib’Dar hingegen hatte Zeit seines Lebens auf seine Gesundheit und seinen Körper geachtet. Trotz einiger kleiner Gebrechen wie schmerzender Knie und Verspannungen im Nacken und Rücken war er für seine über zweihundert Jahre in guter Verfassung. Ob das Prot’Gar auch einmal sagen konnte, wenn er so alt war wie sein Rittermeister?

»Was ist, Meister? Ich bin ein kräftiger Bursche und muss mein Gewicht halten«, sagte der Elare, als konnte er die Gedanken des Ritters erraten.

Sie hatten seit Beginn ihrer Reise mehr als fünf Millionen Lichtjahre zurückgelegt. Ohne das Sternenportal hätten sie die gigantische Distanz von 325 Millionen Lichtjahren zu dieser Galaxis niemals überbrückt.

Arib’Dar dachte über ihre Mission nach. Was erwartete sie in der Milchstraße? Welche Gefahren lauerten auf die beiden Ritter der Tiefe?

Die Worte des Kosmokraten waren diffus gewesen, wie es bei höheren Wesen üblich war.

Begebt euch in die Galaxis Milchstraße zu einem unbedeutenden Planeten. Verhindert die Geburt des Sohnes des Chaos mit allen Mitteln. Wenn eure Mission von Erfolg gekrönt ist, werden die Kosmokraten euren abtrünnigen Orden akzeptieren.

Dem Pontanaren Arib’Dar war nicht wohl bei dieser Mission. Es widersprach dem Kodex von Jedar Balar, sich in Angelegenheiten außerhalb von Shagor einzumischen. Sie waren die Wächter von Shagor und nicht des Universums. Doch auf der anderen Seite waren die Ritter der Tiefe im ganzen Universum aktiv und unterstanden den Kosmokraten. Auch wenn der Gründer des Ordens von Shagor, Jedar Balar, sich von den Hohen Mächte abgewandt hatte, wem waren die einhundert Ritter aus Shagor zu mehr Treue verpflichtet?

Als Jedar Balar den Orden der Ritter der Tiefe in Shagor gegründet hatte, war er davon ausgegangen, sie würden bis in alle Ewigkeiten unentdeckt bleiben. 90.000 Jahre hatte sein Plan funktioniert, bis der Kosmokrat SIPUSTOV erschienen war und seinen Auftrag erteilt hatte.

Der Kosmokrat hatte dem Rittergroßmeister Arib’Dar unmissverständlich klar gemacht, dass die Ritter für die Taten ihres Ordensgründers zur Verantwortung gezogen würden, sollten sie nicht kooperativ sein.

Als Ordensanführer hatte sich Arib’Dar selbst für diese Mission gemeldet. SIPUSTOV hatte ihm versprochen, aus Dank vorerst die Ritter aus Shagor in Ruhe zu lassen.

Prot’Gar als Begleiter auszuwählen, war Arib’Dar nicht schwer gefallen. Der beleibte und beherzte Ritter war vor nicht langer Zeit sein Schüler gewesen und er war ein Draufgänger und Abenteurer.

Gal’Arn hatte mit Unverständnis darauf reagiert. Der junge Ritter hatte sie begleiten wollen, doch Arib’Dar war der Überzeugung, Gal’Arn war noch nicht reif genug, zu tun, was getan werden musste. Gal’Arn würde eines Tages die Zukunft des Ritterordens gehören, dessen war sich Arib’Dar jedoch sicher.

Prot’Gar war unbedarft und dachte nicht so viel nach, wie es Gal’Arn gerne tat.

Verhindert die Geburt des Sohnes des Chaos mit allen Mitteln.

Arib’Dar wusste, was dieser Befehl bedeutete. Für eine solche Mission war der junge Gal’Arn ungeeignet. Prot’Gar war kein gefühlloser Assassine, doch er würde im richtigen Moment nicht zögern, das Richtige für ihre Mission zu tun.

Mehr Sorgen bereiteten ihm die beiden Orbiter. Jedem Ritter der Tiefe von Shagor stand in Anlehnung an den alten Orden ein Knappe zu. Meist waren es Wesen, die selbst nicht Ritter werden durften. Die Anzahl der Gerechtigkeitskämpfer war auf einhundert begrenzt. So hatte es Jedar Balar gewollt und so wurde es seit 90.000 Jahren befolgt.

Die Auswahl zum Ritterschüler war bereits sehr streng. Und nur wer die Ritterprüfungen bestand, erhielt die Weihe zu einem echten Ritter von Shagor.

Der Ghannakke Ifrukar und der Katrone Ribwan waren zweifellos loyale und kompetente Orbiter, doch würden sie den Anweisungen von Arib’Dar bedingungslos folgen?

Im Moment waren die beiden Wesen damit beschäftigt, den Antrieb der TERSAL zu warten. Arib hoffte, sie zerstörten nichts aus Versehen. Die TERSAL war das wichtigste und heiligste Raumschiff in Shagor. Es war einst der Raumer des Gründers Jedar Balar gewesen. Sein treuer Orbiter Vergana, ein Roboter, kümmerte sich auch nach dessen Ableben um das Raumschiff. Es wurde über Generationen immer wieder erneuert.

Vergana und die einhundertzehn Meter lange TERSAL waren greifbare Relikte aus der Gründungszeit des Ordens. Nur die Rittermeister durften mit Vergana sprechen und um einen Einsatz mit der TERSAL bitten. Arib’Dar war dieser Wunsch nicht verwehrt worden.

Intergalaktische Reisen wurden von Shagor aus nicht mehr unternommen. Die einzelnen Völker der Galaxis blieben unter sich. Es gab keine Fernraumschiffe mehr. Einzig die TERSAL verfügte mit ihrer Technologie der Kosmokraten über die nötige Reichweite andere Sterneninseln zu erreichen.

Und doch hätte die TERSAL den weiten Flug wohl auch nicht geschafft. SIPUSTOV hatte sie über ein sogenanntes Sternenportal in einem entlegenen Sektor von Shagor informiert. Dieses gigantische ringförmige Portal war eine Art Transmitter.

Die Dimensionen dieser unbekannten Technologie waren gewaltig. Innerhalb weniger Sekunden hatten sie 320 Millionen Lichtjahre zurückgelegt und hatten sich am Rande der hiesigen Lokalen Gruppe befunden, wo sich ebenfalls ein Sternenportal befand. Offenbar war den Bewohnern dieser Galaxiengruppe nichts von der Existenz des Transmitterportals bekannt.

Der Weg zur Milchstraße dauerte seine Zeit, doch nun hatten sie den Außenbezirk der Galaxis erreicht. SIPUSTOV hatte die Daten der Galaxie von Vergana in den Zentralrechner der TERSAL einspielen lassen. Demnach wusste der Ritter der Tiefe, welche Sektoren er meiden sollte. Es war SIPUSTOV wichtig, dass kein Kontakt zu den Terranern, Arkoniden oder anderen Völkern hergestellt wurde.

Ein Kontakt mit den Nelesern und der Mutter des Sohnes des Chaos war jedoch unvermeidbar.

Neles lag im Süden der Galaxis in einem Außenarm. Der Ritter der Tiefe erwartete die schlimmsten Höllengeschöpfe dort.

*

»Das sollen die Bestien sein? Sehen relativ friedlich aus«, meinte Prot’Gar und rieb sich den Bauch.

Arib’Dar war überrascht. Er fand auf Neles eine ausgebaute Infrastruktur und eine zivilisierte Bevölkerung vor. Sie beherrschten die Anfänge der Raumfahrt. Ihre Funk- und Videosignale waren aufschlussreich über ihre Gesellschaft.

Doch wo verbarg sich die Trägerin des Sohnes des Chaos? Arib’Dar hatte an eine Lavawelt gedacht. Er hatte sich auf einen Kampf gegen finstere Horden des Bösen vorbereitet, doch das Unheil trug viele Gesichter. Die gefährlichsten waren die der Anmut.

Die Nelser waren humanoid und ähnelten mehr den Elaren als den Pontanaren. Das war ein Vorteil, denn so konnten sie sich frei zwischen ihnen bewegen, ohne aufzufallen. Arib’Dar machte sich etwas Sorgen um seinen spitzen Kopf, doch den konnte er mit einer Kutte verdecken. Die Mode auf Neles schien vielfältig zu sein.

Die Orbiter mussten auf der TERSAL bleiben. Der Anblick eines Ghannakken oder eines Katronen sorgte sicherlich für Entsetzen unter der Bevölkerung.

»Wir haben da etwas«, rief Ifrukar aufgeregt und schlackerte mit seinen großen Ohren.

»Was habt ihr?«, fragte Arib’Dar.

»Wir haben etwas Sonderbares geortet«, antwortete der Katrone Ribwan und deutete mit seinem Rüssel auf ein Hologramm.

Arib’Dar und Prot’Gar standen auf und begaben sich in den hinteren Bereich der Kommandozentrale. Im Orbit von Neles befand sich ein kugelförmiges Raumschiff mit einem Durchmesser von 100 Metern. Es war deutlich weiter entwickelt, als die nelesische Technologie.

»Offenbar verwendet es eine einfache Tarnung«, erklärte Ribwan.

»Für Neles ausreichend, für die Taster der TERSAL nicht«, murmelte Prot’Gar. Dann deutete er auf ein schwaches, flackerndes Signal auf dem Hologramm. »Was ist das?«

»Das wissen wir nicht so genau. Vielleicht nur eine Störung. Es hat eine schwache Energiesignatur, die jedoch schwer auszumachen ist.«

»Ein zweites Raumschiff.«

Arib’Dar war sicher, dass es unbemerkt bleiben wollte. Offenbar hatten beide Raumer nichts miteinander zu tun. Vielleicht gehörten sie sogar zu rivalisierenden Mächten.

»Die TERSAL bleibt vorerst am Rand des Systems. Wir beobachten die Aktivitäten aus der Distanz. Bringt so viel wie möglich über die Raumschiffe in Erfahrung«, forderte der Ritter.

Prot’Gar sah seinen Rittermeister vielsagend an.

»Die beiden Raumschiffe haben sicher etwas mit dem Sohn des Chaos zu tun.«

»Wir werden sehen …«

Arib’Dar war nun nicht zum Reden zumute. Er musste nachdenken.

*

Die Beobachtungen durch die beiden Orbiter brachten neue, wichtige Erkenntnisse. Das Kugelraumschiff mit der geringen Tarnung hieß HAWKING und gehörte einer Organisation Camelot an. Sie bestand nur aus einigen Terranern und einigen Vertretern deren Kolonialvölker. Eine Wissenschaftlergruppe hatte vor einiger Zeit Kontakt mit den Nelesern aufgenommen, um sie in die Völkergemeinschaft der Milchstraße einzuführen.

Über das andere Raumschiff gab es keinerlei Informationen. Mehr als ein unregelmäßiges Signal war nicht zu erkennen.

Arib’Dar dachte an die mahnenden Worte von SIPUSTOV. Sie sollten in keinerlei Kontakt mit Terranern treten.

Ribwan spielte ein Video über die Cameloter ab, zu denen offensichtlich auch Terraner gehörten. Die nelesische Presse berichtete euphorisch über die Besucher aus dem Weltall. Ivan und Selina Despair waren das »Paar aus den Sternen« für die Neleser.

Ivan war ein leicht untersetzter Mann mit dunklem Haar. Er wirkte unscheinbar. Seine Frau hingegen war eine Schönheit. Langes, blondes Haar, blaue Augen und eine ansehnliche Figur.

»Mir ist etwas aufgefallen«, sagte Prot’Gar, der sich offenbar ebenfalls Selina Despair genauer angesehen hatte.

Arib’Dar sah den Elaren fragend an. Prot’Gar stopfte sich erst einmal ein belegtes Brot in den Mund.

»Nun sprich endlich!«

Genüsslich kaute der Ritter erst einmal zu Ende, nahm einen Schluck Tervi und stieß auf.

»So, nun geht es mir besser. Mit vollem Mund soll man nicht sprechen. Die Anatomie der Terraner ähnelt sehr stark der von Elaren und Pontanaren. Und nun sieh dir ihren Bauch an.«

»Was ist damit?«

»Er ist gewölbt.«

»Gewölbt«, flüsterten Ifrukar und Ribwan ehrfürchtig nach und sahen sich fragend an.

»Und?«, wollte der Katrone wissen. »Isst sie zu viel, so wie du, mein geliebter Meister?«

»Nein«, stellte Arib’Dar fest.

Ihm war klar, worauf Prot’Gar hinaus wollte.

»Sie ist schwanger.«

Die beiden Orbiter verstanden offenbar immer noch nicht. Doch Prot’Gar schien das Gleiche zu befürchten, wie Arib’Dar.

War diese Selina Despair die Mutter des Sohnes des Chaos?

Es war kein Zufall, dass sich vermutlich zwei fremde Raumschiffe im Orbit von Neles befanden.

»Meister!«, schrie Ifrukar und zeigte auf das Ortungssystem.

Aus dem schwachen Signal wurde plötzlich ein rund fünfhundert Meter großes Raumschiff. Die Mitte bestand aus einer Kugel. Rechts und links an den Seiten waren Erweiterungen in Form von Flügeln und Waffen angebracht. Das h-förmige Raumschiff hatte sich also doch die ganze Zeit versteckt. Wieso gab es nun plötzlich seine Tarnung auf?

»Alarmbereitschaft. Bring uns näher an den Planeten heran«, entschied Arib’Dar.