9.
Die Geburt

Arib’Dar und Prot’Gar kehrten zur TERSAL zurück. Der Rittermeister ließ sich ächzend auf seine Liege fallen. Alle Knochen schmerzten von der Arbeit. Ein normaler Pontanare war in seinem Alter schon längst im Ruhestand. Trotz des intensiven Trainings und der vielen Meditationsformen zur Stärkung von Psyche und Körper war Arib’Dar kein Jungspund mehr.

Und das merkte er heute deutlich. Er schloss die Augen und dachte über ihre Mission nach.

Noch immer war ihnen unklar, ob das h-förmige Raumschiff ihre Landung auf Neles bemerkt hatte oder nicht.

Die Neleser und Cameloter wussten auf jeden Fall nichts von ihrer Anwesenheit auf diesem Planeten. Sicherlich dachte Ivan Despair, die beiden wären exzentrische und wissbegierige Neleser, die einfach nur alles über ihre außerirdischen Vorbilder in Erfahrung bringen wollten. Arib’Dar rekapitulierte vor den Orbitern Ifrukar und Ribwan ihre neuen Erkenntnisse. Demnach spielte der Fremde Cau Thon offenbar eine Schlüsselrolle.

Die Cameloter machten nicht den Eindruck, als wüssten sie, was ein Sohn des Chaos war. Auch schienen sie nicht irgendeinem finsteren, chaotischen Kult zu huldigen. Arib’Dar gestand ein, dass sie eigentlich auch nicht wussten, was ein Sohn des Chaos nun war, doch SIPUSTOV hatte eindringlich von ihnen gefordert, die Geburt eines solchen zu verhindern. Vermutlich war dies ein zukünftiger Anhänger der Chaosmächte. Vielleicht waren die Söhne des Chaos sogar das Gegenstück zu den Rittern der Tiefe? Es wäre nur logisch, dass auch die Chaotarchen über eigene Eliteorganisationen verfügten.

Eines stand jedenfalls fest. Ivan und Selina Despair war es nicht bewusst, dass Selina offenbar einen Sohn des Chaos austrug. Es bestand für Arib’Dar auch nur wenig Zweifel daran, dass das Kind dieser beiden Menschen der vermeintliche Sohn des Chaos sein musste.

Wer sollte es sonst sein?

Natürlich hatten Ifrukar und Ribwan eine Reihe Untersuchungen durchgeführt. Es gab auf Neles Hunderttausende schwangere Frauen, die bald ihr Kind gebären würden.

Es konnte zwar möglich sein, dass der Sohn des Chaos darunter war, doch aufgrund der Tatsache, dass ausgerechnet eine Besucherin eines anderen Planeten schwanger war und dieser geheimnisvolle Fremde Cau Thon sichtbares Interesse an der Schwangerschaft zeigte, sprach für sich.

Was hatte Cau Thon wirklich getan, als Selina Despair von dessen Zievohnen medizinisch untersucht wurde?

Diese Frage mussten sie beantworten, um Gewissheit zu haben.

»Wir müssen in die Nähe der Frau«, stellte Prot’Gar fest.

Eine Untersuchung des Ungeborenen würde hoffentlich Aufschluss über ihre Theorie geben.

Obgleich ihnen weiterhin nicht bekannt war, wie sie einen Sohn des Chaos überhaupt erkannten. Doch Arib’Dar glaubte daran, dass er es wusste, wenn es soweit war.

*

Sie hatten zwei Gruppen gebildet. Arib’Dar und Prot’Gar arbeiteten weiter auf der Baustelle der Forschungsstation von Camelot, während die beiden Orbiter mit gebührendem Abstand Selina Despair folgten.

Als Arbeiter durften sie nicht fehlen und konnten sich nicht so frei bewegen, wie sie es wollten. Deshalb mussten der Ghannakke und der Katrone die Observation übernehmen. Wohl war dem Ritter der Tiefe bei dieser Entscheidung jedoch nicht. Das Risiko war hoch, dass die beiden Orbiter entdeckt wurden.

Er musste auf die Diskretion der beiden hoffen. Die beiden Ritter verrichteten ihre Arbeit und wurden dabei vom Sicherheitsleiter der Cameloter, einem Mann mit dem Namen Ron Horace, beobachtet.

Vermutlich hatte Ivan Despair Verdacht geschöpft. Obwohl das Ehepaar Arib’Dar durchaus sympathisch war, konnte er sich ihnen nicht offenbaren. Was sollte er ihnen auch sagen? Er wäre ein Ritter der Tiefe und von den Kosmokraten beauftragt, ihr Kind zu ermorden, weil dieses angeblich ein Sohn des Chaos war? Die Despairs würden das wohl kaum akzeptieren.

Das Interkom von Arib’Dar vibrierte an seinem Gürtel. Es war eine willkommende Unterbrechung der Arbeit. Er war schon wieder aus der Puste. Doch das wollte er sich nicht anmerken lassen. Der Ritter der Tiefe schob seinen Poncho an der Öffnung zur Seite, blickte sich um, dass auch niemand ihn sah, und nahm das Sprechgerät.

»Was?«

»Großes Problem, riesengroßes Problem!«, blökte Ifrukar aus dem Kommunikationsgerät. Im Hintergrund schnaubte und trötete Ribwan. Auch die Schreie einer Frau waren zu hören.

»Bei den Kosmokraten! Sie bringen Selina Despair um?«, vermutete Prot’Gar und wusste anscheinend nicht, ob er das mutig und grausam fand. Arib’Dar hatte eine andere Theorie. Er forderte Ifrukar auf, ruhig und besonnen zu bleiben.

»Besonnen? Wie denn? Sie läuft aus und schreit und brüllt. Oh nein, oh nein! Wir haben sie beschattet, kamen zu nahe, sie meckerte, fluchte, wollte wissen, von welchem Planeten wir kommen und dann – Schwupps …«

Arib’Dar stellte es sich bildlich vor. Er machte sich Vorwürfe. Hätte er doch nur nicht die beiden zur Beschattung eingesetzt.

»Die Frau bekommt ihr Kind«, antwortete der Ritter. »Wo genau befindet ihr euch?«

»Wir bringen sie in ein Krankenhaus. Sie hat starke Schmerzen. Wir müssen ihr helfen«, erklärte der Ghannakke außer Atem.

Arib’Dar hielt inne. Was sollte er jetzt tun? Erteilte er seinem Orbiter den Befehl, Mutter und Kind zu ermorden? Konnte er das wirklich verantworten?

Arib’Dar blickte seinen Weggefährten Prot’Gar an. Der Elare blickte verstohlen zu Boden, er wollte augenscheinlich ebenso wenig mit der Ermordung zu tun haben.

Doch sie hatten einen Auftrag! Was war das Leben eines Kindes im Vergleich zur Bewahrung der Ordnung des Universums? Sie hatten die direkte Order eines Kosmokraten. Wer waren sie, diese Anweisungen anzuzweifeln?

Und doch – waren das nicht die Beweggründe ihres Gründers Jedar Balar gewesen? Er hatte Zweifel an der Politik der Hohen Mächte gehabt. Er hatte sich widersetzt.

Nur dieser Insubordination hatten sie ihre Existenz als Ritter der Tiefe von Shagor zu verdanken. Hatte ihr Wunsch nach Akzeptanz durch die Kosmokraten nach 90.000 Jahre des Exils sie etwa blind und skrupellos gemacht?

»Wir kommen!«

Arib’Dar vertagte die Entscheidung. Als er sich mit Prot’Gar auf den Weg machte, rannte Ivan Despair sie beinahe um.

»Meine Frau bekommt ihr Kind. Darvynia hat eben angerufen. Zwei komische Außerirdische, offenbar ein Unither – ach, ihr wisst ja gar nicht, was das ist … ich muss sofort zu ihr!«

Die beiden Ritter sahen sich vielsagend an.

»Wir begleiten dich.«

*

Die Steuerung des umständlichen Automobils bereitete Arib’Dar immer noch Schwierigkeiten. Prot’Gars Kommentare auf dem Beifahrersitz und ein hysterischer werdender Vater auf dem Rücksitz erschwerten eine unfallfreie Fahrt. Nach einigen Nahtoderlebnissen erreichten sie das Krankenhaus.

Sie rannten hinein. Ribwan und Ifrukar fanden sie inmitten einer Menschentraube. Die Neleser starrten mit einer Mischung aus Ehrfurcht, Neugier und Abscheu die beiden Orbiter an.

Despair hatte keine Augen für die beiden. Darvynia rannte ihm entgegen und beruhigte ihn. Beide wurden von dem Personal zum Kreißsaal gebracht.

Arib’Dar wusste, dass sie ihre Chance vertan hatten, die Geburt zu verhindern. Natürlich konnten sie in dem Krankenhaus ein Massaker anrichten, doch ihr Ehrgefühl und ihre Prinzipien verboten einen solchen barbarischen Akt. Die Neleser waren unschuldige Menschen. Sie hatten nichts mit dem kosmischen Schachspiel der Hohen Mächte zu tun. Und im Grunde genommen hatten es die Despairs auch nicht. Die Cameloter waren eine sympathische Wissenschaftlerfamilie, die sich nur auf die Geburt ihres ersten Kindes freute.

Prot’Gar bahnte sich den Weg durch die erstaunten Neleser und erklärte, die beiden Orbiter wären neue Mitarbeiter der Cameloter. Er bat die Neleser, etwas Abstand zu halten.

Der Ghannakke und der Katrone lösten sich aus ihrer Schockstarre und folgten dem Ritter zu Arib’Dar.

»Möchten Sie einen Kaffee?«, fragte eine Krankenschwester verlegen.

»Nein, danke. Aber bringen Sie uns bitte in den Warteraum vor dem Kreißsaal. Wir möchten unseren Freunden nahe sein.«

Die Krankenschwester wusste natürlich nicht, dass die Cameloter nicht ihre Freunde waren. Sie brachte die vier zwei Etagen höher in einen Warteraum.

Darvynia saß dort. Sie blickte die beiden Orbiter finster an.

»Unsere sonderbaren Verfolger. Wer seid ihr? Spione vom Forum Raglund?«

Sie musterte den Katronen.

»Er sieht entfernt aus wie ein Unither. Aber er ist keiner. Woher kommt ihr?«

Eddie Alaban, Doktor Breank und Ron Horace eilten zu ihnen. Darvynia berichtete ihnen. Während der Doktor in den Kreißsaal lief, starrte der Sicherheitsmann der Cameloter die Ritter und ihre Orbiter finster an.

»Woher kommt ihr Witzfiguren?«

»Wir sind …«

»Diener der Kosmokraten ist ihre offizielle Version«, sagte eine raue Stimme hinter ihnen.

Arib’Dar drehte sich um. Automatisch starrte er auf die Tätowierung des kahlköpfigen, rothäutigen Mannes. Das war Cau Thon. Woher wusste er von ihrer Herkunft?

»Obgleich das unwahrscheinlich ist. Sie beobachten euch Cameloter. Ihr solltet ihnen nicht vertrauen. Möglicherweise sind es auch Spione eurer Feinde. Seid ihr Agenten des Kristallimperiums?«

Cau Thon schmunzelte überlegen. Arib’Dar fühlte sich ertappt. Woher dieser finstere Diener der Chaotarchen die Informationen hatte, wusste der Ritter nicht, doch die Gegenseite schlief nicht. So wie SIPUSTOV sie über die Ereignisse in der Milchstraße informiert hatte, so hatte ein Chaotarch wahrscheinlich Cau Thon instruiert. Doch offenbar wollte Cau Thon nicht die Cameloter über die Wahrheit informieren. Stattdessen legte er ihnen eine Ausrede direkt in den Mund. Cau Thon wusste genau, dass sie keine Agenten irgendeiner Macht aus der Milchstraße war, doch er wollte, dass die Cameloter genau das glaubten.

»Verschwindet hier«, rief Horace drohend.

Arib’Dar gab den anderen ein Zeichen. Sie verließen das Krankenhaus widerstandslos. Sie mussten sich einen neuen Plan ausdenken.

Logbucheintrag Ivan Despair

03. Oktober 1264 NGZ

Mein Sohn Cauthon war gestern auf die Welt gekommen! Die Geburt war der reinste Horror gewesen. Selina hatte wie am Spieß geschrien, überall das Blut – doch dann war all das vergessen, als der kleine Cauthi den ersten Laut von sich gegeben hatte und die Ärzte ihn mir gezeigt hatten.

Das war mein Sohn!

Dieses kleine Würmchen war mein Sohn! So stolz und glücklich war ich noch nie gewesen. Und Selina erst. Sie war so überglücklich.

Sie wollte den kleinen Cauthon gar nicht wieder loslassen. Die Ärzte erklärten mir, dass Cauthi und Selina drei Tage im Krankenhaus bleiben sollten, dann konnte ich die beiden abholen.

Oh, mein kleiner Cauthon! Falls du irgendwann die Logbücher lesen wirst, weil dein seniler Daddy sie ungeschützt in der Syntronik aufbewahrte, dann solltest du wissen, dass wir dich lieben und der Tag deiner Geburt der glücklichste Tag in unserem bisherigen Leben war.

Logbucheintrag Ivan Despair

05. Oktober 1264 NGZ

Erst jetzt hatte ich Gelegenheit, mir über die seltsamen Fremden Gedanken zu machen. Im Freudentaumel um die Geburt von Cauthon war das alles untergegangen. Selina und Darvynia hatten berichtet, dass diese zwei Wesen sie offenbar verfolgten. Als Selina sie zur Rede gestellt hatte, traten die Wehen ein und die zwei halfen Darvynia, meine Frau in das Krankenhaus zu bringen.

Offenbar stammten diese fremden Wesen nicht aus der Milchstraße. Obwohl eine der Kreaturen den Unithern stark ähnelte, wies sie doch gravierende Unterschiede auf. Die Unither besaßen keine Hörner und hatten weniger Augen. Das zweite Geschöpf erinnerte an einen Esel auf zwei Beinen mit großen Schlappohren.

Cau Thon berichtete, sie seien Agenten unbekannter Herkunft, die eifrig die Cameloter observierten, um Pluspunkte bei den Kosmokraten oder anderen Entitäten zu sammeln. Er riet mir, ich sollte sie meiden und versprach, Nachforschungen über sie anzustellen.

Und doch fragte ich mich, wieso sie ausgerechnet an uns Interesse hatten? Wieso spionierten sie nicht Perry Rhodan aus? Es gingen seltsame Dinge auf Neles vor. Obwohl Cau Thon so viel für uns getan hatte, hegte ich immer noch ein wenig Misstrauen gegen ihn.

Ich verstand einfach nicht, wieso uns das alles widerfuhr. Wir waren nur unbedeutende Wissenschaftler auf einer abgelegenen Welt in der großen Milchstraße. Wieso interessierten sich Sternenreisende wie Cau Thon oder die vier Fremden für uns?

Logbucheintrag Ivan Despair

25. Oktober 1264 NGZ

Selina und Cauthi waren wohlauf. Der Knirps hatte großen Hunger und war verspielt. Selina war überglücklich und ich war es auch. Einzig dieses Unbehagen bezüglich der Fremden bereitete mir Sorgen. Die vier angeblichen Kosmokratenanhänger oder Agenten einer geheimen Macht wurden nicht mehr gesehen.

Cau Thon hatte uns vor wenigen Tagen verlassen. Er versprach jedoch eine baldige Rückkehr.

Mir waren diese ganzen Wesen unheimlich. Ich hatte für meine Familie zu sorgen und zog ernsthaft in Erwägung, Neles zu verlassen, um nach Camelot zurückzukehren.

Diese Welt war schön, doch fühlte ich mich hier sicher? Ich wusste es nicht.

Eddie Alaban trieb mich mit seinen Thesen zu Cau Thon auch in den Wahnsinn und verunsicherte mich. Er sprach immer wieder davon, dass Cau Thon ein Abgesandter aus der Hölle sei. Er assoziierte die Tätowierung auf der Stirn von Cau Thon mit der Zahl des Teufels. 666!

Was für ein Schwachsinn. Und doch, auch das trug zu meinem Unwohlsein bei. Ich war verunsichert. Ich wünschte mir, niemanden von ihnen wiederzusehen, doch eine innere Stimme sagte mir, dass ich mich darauf nicht verlassen sollte.