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Band 85

Quarterium-Zyklus


Die Alysker

Der Alysker suchte den kosmischen Applaus


Roman Schleifer



Was bisher geschah Hauptpersonen des Romans
Es herrscht Krieg! Die alliierten Kräfte der Saggittonen, Akonen und der Geheimorganisation USO kämpfen gegen das dorgonische Kaiserreich und das Quarterium um die Freiheit der estartischen Galaxien.

Mitte 1306 NGZ sieht die Situation alles andere als gut aus – fast alle Galaxien ESTARTUs stehen unter der Kontrolle des Quarteriums und der Dorgonen, außerdem droht MODROR nun auch seine Klauen nach der Lokalen Gruppe auszustrecken.

Fernab davon erfahren Atlan und seine Gefährten die phantastische Geschichte eines uralten, kosmischen Volkes. Erzählt von jemandem, der seit 190 Millionen Jahren lebt: Ihr Anführer Eorthor berichtet über DIE ALYSKER …
Eorthor – Der Alysker im Wandel der Zeit.

Atlan – Der Arkonide hört die Geschichte der Alysker.

Die Alysker

Damals … vor 190 Millionen Jahren

Dreißig Minuten bis zur Katastrophe!

Ihr werdet scheitern! Ihr alle!

Wütend und frustriert blickte sich Eorthor im Kontrollraum um. Da saß sie, die Elite der alyskischen Wissenschaft, starrte in ihre Hologramme, überprüfte ihre Kontrolldateien, rechnete Wahrscheinlichkeiten aus und klammerte sich an ihre Arroganz der Unfehlbarkeit. Was für Idioten!

Ihr sterbt, weil ihr nicht auf mich hört!

»Abschirmung einwandfrei!«

Pharlap, die selbsternannte Koryphäe für siebendimensionale Mathematik, tippte auf einige Sensoren an seinem Pult. Seit er ein kniffliges Problem des Projekts gelöst hatte, hielt er sich für genial und hatte die Position des Koordinators innerhalb des Kontrollraums übernommen.

Eorthor lächelte gequält. Er hatte dieses knifflige Problem an einem Nachmittag in der Grundschule gelöst. Und dieser unfähige Pharlap hatte heute Morgen nur geschnauft, als Eorthor seine Wissenschaftskollegen auf den Ableitungsfehler hingewiesen hatte, der das Projekt zum Scheitern bringen würde.

Alle hatten sie ihn ausgelacht. Ausnahmslos!

Sogar Enomina, seine Lebensgefährtin, die sich gerade am Hinterkopf kratzte. Warum hatte nicht einmal sie ihm geglaubt – heute und gestern? Ihre Antwort klang noch immer in seinen Ohren: »Eorthor, es ist lächerlich zu behaupten, dass eine winzige Abweichung in einer Nebenzahlenkolonne das Experiment zum Scheitern bringt! Jeder wird dich morgen auslachen, wenn du es erzählst! Ich übrigens auch! Schließlich bist du erst …«

Mit einem Fausthieb hatte er die Tischplatte gespalten, sich umgedreht und war gegangen. Er hasste es, wenn sie auf sein Alter anspielte! Vor allem, weil sie wusste, wie empfindlich er bei diesem Thema reagierte. Er konnte schließlich nichts dafür, dass er mit 999 Jahren ein Jahr zu jung war! Da half es auch nicht, dass ihn alle als Jahrmillionengenie handelten! Sie sollten ihm glauben und dieses Projekt auf der Stelle abbrechen, um den Fehler zu beheben.

Nargul, der neben ihm an Kontrollpult lehnte, legte ihm die Hand auf die Schulter. »Es wird alles gut gehen.«

»Sieh dir den Ableitungsfehler noch einmal an.« Eorthor rang mit sich. »Bitte!« Das letzte Wort presste er regelrecht durch die Lippen. Bis zum heutigen Tag hatte er noch nie um etwas gebeten. Alle beugten sich seinem Willen.

Bevor Nargul antworten konnte, nickte Gyshm dem Obersten Ratssprecher zu. »Deine Sorge ist unberechtigt, Eorthor.«

Mühsam beherrschte sich Eorthor. Gyshm, der außer Beziehungen nichts vorzuweisen hatte, kannte nicht einmal den Unterschied zwischen sechs- und siebendimensionaler Homöomorphie. Wenigstens hatte dieser Schwachsinnige eine Position inne, auf der er keinen Schaden anrichten konnte.

Natürlich lächelte auch Gemay ihn mitleidig an. Ein einziges Mal hatte Eorthor mit ihr zusammengearbeitet – zusammenarbeiten müssen! – und da hätte er sie am liebsten umgebracht. So viel Inkompetenz suchte ihresgleichen. Ganz zu schweigen von der Langsamkeit ihrer Gedanken. Bis sie ein Problem analysiert hatte, löste Eorthor zehn.

Rodrom hob den Kopf und schielte zu ihm und Nargul in die Empore. Er hatte als einziger die Berechnungen von Eorthor angefordert, aber sie vermutlich doch nicht geprüft, sonst säße er nicht hier. Eorthor schätzte ihn als kompetenten Gesprächspartner in wissenschaftlichen Fragen. Rodrom war eine Art Allroundgenie. Sein Privatleben hingegen … Gerüchte sprachen von einer ausgeprägten Liebe für sadistische Spiele.

Auffordernd blickte Eorthor Nargul an. Der Alysker setzte zum Sprechen an, doch ein Geräusch verhinderte seine Antwort. Der fettleibige Uestir ächzte lautstark, als er sich bückte, um seinen Schreibstift vom Boden aufzuheben. Wäre es nach Eorthor gegangen, hätte er den Fettwanst in hohem Bogen aus dem Team geworfen. Er hatte selten einen derart opportunistischen Alysker wie Uestir erlebt. Seine einzige wirkliche Fähigkeit bestand darin, sich selbst ins rechte Licht zu rücken und sich demjenigen anzubiedern, der die Macht verteilte.

Wie konnte ausgerechnet diese Generation von Stümpern den Schlusspunkt unter die Jahrhunderttausende dauernde Forschungsarbeit setzen?

»Eorthor«, sagte Nargul, »wir haben dir heute Morgen zugehört, deine Argumente geprüft und sind zu der Ansicht gekommen, dass diese Minimalabweichung den Erfolg weder negativ beeinflussen noch schmälern wird.«

Eorthor hätte ihn wegen des beschwichtigenden Tonfalls, den er sich im Beisein aller erlaubte, am liebsten geohrfeigt. Er unterdrückte einen Wutanfall. Seine Finger krallten sich zwar in die Oberschenkel, doch der Schmerz war besser, als hier die Beherrschung zu verlieren. Die Demütigungen am Morgen hatten ihm vollkommen genügt.

»Und schon gar nicht«, fuhr Nargul fort, »wird der von dir aufgezeigte Fehler das Projekt zum Scheitern bringen!«

»Bald wirst du dir wünschen, das nie zu mir gesagt zu haben!«

Noch zwanzig Minuten!

Eorthor fragte sich, was die Kosmokraten nach dem Fehlschlag unternehmen würden. Immerhin hatten die Mächte hinter den Materiequellen die Alysker nicht aus Jux und Tollerei mit diesem Projekt beauftragt. Vier Jahrhunderttausende hatte das verlässlichste Wissenschaftsvolk an der Lösung des Auftrags gefeilt. Einem Auftrag, der den Rahmen des Normalen sprengte. Niemand im Universum hätte diese Aufgabe lösen können – nicht einmal die Algorrian. Daher war für die Kosmokraten alles andere als ein Erfolg undenkbar. Wobei sich Eorthor unsicher war, ob Misserfolg in ihrer Diktion überhaupt existierte.

In wenigen Minuten würden sie sich mit der Tatsache abfinden müssen, dass die Alysker versagt hatten. Weil in einer – im Vergleich zum Gesamtprojekt – winzigen Formel ein minimaler Ableitungsfehler enthalten war, dessen Auswirkung schrecklich sein würde. Und weil er, Eorthor, es nicht geschafft hatte, seine Kollegen von der Konsequenz und vom Verschieben des Projektstarts zu überzeugen.

War es also seine Schuld?

Sicher nicht! Was konnte er dafür, dass keiner der intelligentesten und angesehensten Wissenschaftler in der Lage war, seine Gedanken und Berechnungen nachzuvollziehen? Was konnte er dafür, dass Lyta nur mit einer abwertenden Handbewegung auf seine Ausführungen reagiert hatte? Oder dass Auro den Kopf geschüttelt hatte: Die Formel sei zu unwichtig, als dass sich ein Fehler überhaupt bemerkbar machen, geschweige denn auswirken würde.

Noch zehn Minuten!

Eorthor fluchte gedanklich. Über sich, dass er den Fehler nicht früher entdeckt hatte. Über seine Kollegen, die sich auf ihr Alter und ihre Erfahrung verließen, anstatt ihm, dem Gewinner sämtlicher Wissenschaftspreise des letzten Jahrzehnts, eine wirkliche Chance zu geben. Und er fluchte wegen seiner Lebensgefährtin.

Noch fünf Minuten!

Eorthor sah den Fehler, der das Experiment zu Fall bringen würde. Er war so unscheinbar, dass ihn die Wissenschaftler in all den Jahrhunderttausenden übersehen hatten. Alle bis auf ihn.

Noch vier Minuten!

Eorthor blickte zum Obersten Ratssprecher und räusperte sich. »Es ist noch nicht zu spät! Sieh wenigstens du es dir noch einmal an. Bitte!«

Gegenwart

Ich zog Roggle an seiner Nackenhaut empor, hielt ihm meine Faust unter das Kinn des linken Kopfes und ignorierte sein lauter werdendes Winseln.

»Verflucht! Antworte, oder ich prügle es aus dir heraus!«, herrschte ich ihn an.

Tarts, mein alter Ausbilder aus Jugendzeiten, hätte seine Freude an mir gehabt. Sowohl am kompromisslosen Tonfall wie auch am harten Gesichtsausdruck.

Denise Joorn ignorierte beides. Sie starrte an mir vorbei, genau wie die anderen Gefährten. Sogar Tolot schloss das mittlere Auge. Also war er verblüfft oder verwundert! Ein seltener Moment im Leben eines Haluters, noch dazu eines Unsterblichen. Was spielte sich in meinem Rücken ab, das selbst einen Icho Tolot irritierte?

Fallen lassen oder langsam umdrehen, riet mein Extrasinn.

Nicht sehr hilfreich.

Ich ließ Roggle los, wandte mich um und verstand den Blick meiner Gefährten. Der Mann – humanoid, spitzohrig, großgewachsen, hager, braune, lange Haare mit grauen Schläfen – stand nicht einfach nur, er »thronte« vor unserem Gefängnis.

Seine Präsenz war körperlich spürbar, legte mir nahe, einen Schritt zurückzuweichen. Doch ich verweigerte ihm diesen Sieg. Ich kannte Lebewesen mit solch einer Ausstrahlung, hatte in meinem langen Leben einige von ihnen getroffen. Sie alle verband eine Schwachstelle: Grenzenlose Arroganz, gepaart mit der Gewissheit der Überlegenheit.

Damit konnte ich umgehen.

»Ah, gut, dass du kommst!«, rief ich ihm zu. »Ich bestelle ein Steak, medium versteht sich, mit Pommes, längsgegrillt, wenn es nicht zu viel Mühe macht, und eine extra große Portion gemischten Salat. Bei letzterem hast du freie Hand. Was nehmt ihr, Leute?« Sie starrten mich an. Sogar Icho Tolot zweifelte an meinem Verstand. Ich erkannte es an seinem offenen Mund.

Der Zweck heiligt bekanntlich die Mittel. Und da der fremde Humanoide schnaufte, hatte ich ins Schwarze getroffen.

»In einer Stunde seid ihr tot!«, sagte er mit heller Stimme.

Er meinte es ernst, kein Zweifel. Daran änderte weder der freundliche, leicht gelangweilte Tonfall noch das sympathische Lächeln etwas. Doch ich hatte nicht vor, auf diesem Eisklumpen weit weg von der Heimat zu sterben.

»Du scheinst der erste zu sein, mit dem man vernünftig reden kann!« Ich trat einen Schritt vor. Unsere Blicke trafen sich. »Mein Name ist Atlan und …«

»Ich weiß!«, unterbrach er mich. »Und exakt deswegen weigere ich mich, dir in Begleitung dieses Verräters zu begegnen!«

Daher wehte also der Wind! Dennoch stellte ich mich dumm.

Und dämlich. Das kannst du am besten!

»Langsam, langsam. Erstens protestiere ich dagegen, dass unsere Gespräche belauscht werden und zweitens: welchen Verräter?«

Wortlos zeigte er links an mir vorbei und ich blickte kurz hinter mich.

»Der?« Ich spielte die Verwunderung perfekt. Der Spitzohrige nickte, während ich mich am Kinn kratzte. »Sicher?«

»Ja!«

»Deswegen willst du uns töten?«

Er nickte.

Das wird schwieriger als gedacht! Andererseits: Von Roggle hast du bis jetzt nichts erfahren!

»Wir wissen nichts von einem Verrat. Der Kleine ist uns mehr oder weniger in die Hände gefallen.«

»Lassen wir diese Spielchen! Genießt eure letzte Stunde!«

Er wandte sich in Richtung Ausgang. Offenbar hatte er sich lange genug mit dem Fußvolk beschäftigt. Der Energievorhang der Zelle verdunkelte sich bereits, als ich ihm hinterherrief: »Die Unsterblichkeit ist ein Fluch, nicht wahr, alter Mann?«

Er blieb stehen, kam zurück. Ein Schatten huschte über sein Gesicht, der mir mehr sagte als jedem anderen. Knapp vor der wieder durchsichtig gewordenen Zellenwand stoppte er.

»Woher?«, flüsterte er.

»Ein Gleicher erkennt den Gleichen!«

Der Fremde bellte ein paar fremde Worte in sein Armbandinterkom und der Energievorhang erlosch.

»Diese zwei«, er deutete auf Alaska und Tolot, »tragen ebenfalls einen Chip der Hohen Mächte!«

Die letzten Wörter sprach er in einer Mischung aus Ehrfurcht und Verachtung. Der Grund war zu klären.

»Exakt! Verrätst du uns deinen Namen?«

Statt zu antworten, schritt er an mir vorbei. Ich unterdrückte den Impuls, ihn als Geisel zu nehmen. Ein Mann wie er ging nicht ohne Absicherung in die Höhle des Löwen, die sich mittlerweile in eine Art Wohnzimmer verwandelt hatte. Er setzte sich in einen der gemütlich aussehenden Sessel, langte nach einem am Tisch stehenden Glas und nippte an der goldgelben Flüssigkeit. Ich warf mich ihm gegenüber auf die Couch und wartete.

»Mein Name ist Eorthor«, sagte er. Seine Stimme klang nun wesentlich weicher und angenehmer. »Ich bin der Oberste Ratssprecher der Alysker – seit einhundert Millionen Jahren!«

Roggle winselte, als er den Namen hörte.

Ich lehnte mich zurück. Es würde spannend werden.

Und lange dauern!

Damals … vor 190 Millionen Jahren

Noch eine Minute!

Eorthor drehte sich zur Digitaluhr. Ihre Ziffern brachten dem Volk der Alysker den Moment des Versagens näher. Und falls sein Volk Glück hatte, starb es und ersparte sich die Scham der Unfähigkeit.

»Fünf. Vier. Drei. Zwei. Eins!«

Retag, der Exekutivleiter, gab das Zeichen zum Projektstart. So wie jeder der einhundertachtzig Anwesenden blickte Eorthor in das Haupthologramm und damit auf die kleine weiße Kugel, die zwischen dem achten und neunten Planeten des Systems im Raum hing, gehalten durch zwei Projektoren, die ihre Energie direkt aus dem Raum zwischen fünfter und sechster Dimension bezogen. Die vakuumgefüllte Kugel veränderte Farbe und Größe. Binnen Bruchteilen von Sekunden blähte sie sich auf und wurde Ausgangspunkt eines Zeugungsprozesses, der in der Geschichte des Universums einmalig war.

Zeitgleich drängte sich etwas in Eorthors Geist, wischte sein Bewusstsein hinweg und riss ihn hinaus ins All, bis er vor der Energiekugel zum Stillstand kam.

Freude. Leben. Genugtuung.

Dann plötzlich Verwunderung. Schmerz.

Der Fehler, dachte er, macht sich bemerkbar.

Schreie. Grenzenloser Schmerz.

Zwei Extreme bildeten sich – Hass und Liebe – und dann kehrte Eorthor übergangslos in den Kontrollraum zurück. Er sah, wie sich die Verantwortlichen entspannten, offenbar, weil sie die von den Sonden gelieferten Daten positiv stimmten. Sie lachten, klopften triumphierend auf die Konsolen.

Zu früh, meine Lieben. Viel zu früh, dachte Eorthor. Schließlich kannte er den Verlauf des Experiments. Er, das cholerische Genie, hatte es vorausgesehen und berechnet. Und Fehler waren für ihn ein Fremdwort. Fehler passierten anderen, nicht ihm.

Prompt blinkten rote Warnsensoren. Sie hätten überhaupt nicht vorhanden sein dürfen. Doch sie waren da und zeigten die Fehler an. Wie vorhergesagt. Von ihm, dem Jahrmillionengenie.

In einigen Gesichtern seiner unfähigen Wissenschaftskollegen bildeten sich Stirnfalten. Erste Fehlermeldungen poppten in den Überwachungshologrammen auf.

Wo ursprünglich eine in allen Farben schillernde Blase im All entstehen hätte sollen, waberte der Weltraum. Überschlagsblitze zuckten aus der Kugel, erreichten ungeahnte Ausmaße und rissen den Hyperraum auf. Einer dieser Blitze schlug in den neunten Planeten und zerstörte ihn mit einer Leichtigkeit, als habe Gott mit den Fingern geschnippt. Eorthor wusste als Einziger die Schönheit der Explosion zu würdigen. Immerhin stammte sie von dem winzigen Ableitungsfehler, der ihnen dieses beeindruckende Schauspiel bot: faszinierend und tödlich.

Eorthor hätte nicht sagen können, wie lange die Gewalten tobten, aber irgendwann verschwand die Kugel. Einfach so. Sie hinterließ einen Asteroidengürtel und fassungslose Wissenschaftler.

Jeder von ihnen ging anders mit der Verzweiflung um. Pharlap wälzte sich schreiend am Boden, Gyshm hämmerte gegen sein Pult und Rodrom griff sich an die Kehle, röchelte und brach zusammen. Gemay hingegen sprang auf und rannte mit ganzer Kraft gegen die Wand. Es knirschte beim Aufprall. Vermutlich hatte sie sich die Nackenwirbel gebrochen.

Eine Unfähige weniger!

Andere saßen reglos vor ihren Konsolen und starrten, ihres Stolzes beraubt, in die Luft. So wie Enomina. Eorthor unterdrückte den Wunsch, sie zu trösten. Sie hatte nicht auf ihn gehört, es war ihr Problem. Ansonsten registrierte er die Ausbrüche der Wissenschaftler emotionslos. Jede Häme war sinnlos vergeudete Lebensenergie. Der Preis würde ein schrecklicher sein. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Kosmokraten auf die Unfähigkeit der Alysker reagierten.

Eorthor wandte sich zu Nargul, der in seinem Sessel zusammengesunken war. Anklagend deutete er mit dem Finger auf ihn.

»Du hättest es stoppen können, Vater!«

*

Das blaue Walzenschiff materialisierte zwischen dem sechsten und siebten Planeten. Als habe es alle Zeit des Universums, steuerte es langsam und gemächlich Alysk an, den dritten Planeten des Systems. Über der Hauptstadt Alyskia verharrte es.

Eorthor verdrängte die Bilder aus dem Bewusstsein. Seit zwei Tagen schwebte die Walze des Kosmokratenboten über der Hauptstadt, ohne auf Funkanrufe zu reagieren. Im Gegensatz zu seinen Kollegen beschäftigte er sich nicht mit den Spekulationen über den Grund des Schweigens.

Vor einer Stunde hatte Cairol den telepathischen Befehl erteilt, die Häuser zu verlassen. Alle Alysker säumten seither die Straßen und warteten Schulter an Schulter.

Eorthor war umgeben von den wichtigsten Projektmitgliedern, die sich nicht feige durch Selbstmord der Verantwortung entzogen hatten.

Die Sommersonne hatte bereits den Zenit erreicht, es war warm. Vom Park, der den Platz der Ahnen umgab, strömte der Duft der Blumen in Eorthors Nase. Unter anderen Umständen wäre es direkt idyllisch gewesen.

An der blauen Walze öffnete sich eine Schleuse, aus der Cairol schwebte. Er sank aber nicht zu Boden, sondern verharrte knapp zwei Meter über der Menschenmenge in der Luft.

Eine Machtdemonstration par excellence, dachte Eorthor und fragte sich, ob der so menschlich wirkende Roboter Gefühle sein Eigen nannte.

»Die Kosmokraten sind enttäuscht!« Jedes Wort von Cairol schmerzte körperlich. »Schwer enttäuscht!«

Rund um Eorthor gingen die Alysker zu Boden. Sie schrien, stöhnten, keuchten, winselten und verstummten. Einige richteten sich unter Schmerzen auf. Nur Eorthor blieb verschont. Warum?

»Soeben sind vierhundertfünfzig Millionen Alysker gestorben«, erklärte Cairol mit sachlicher Stimme.

Eorthor schluckte. Menschenleben zählten nichts im Kampf der Ordnung gegen das Chaos.

»Den restlichen fünfzig Millionen schenken die Kosmokraten die Unsterblichkeit, um ewig über den Fehlschlag nachzudenken, den sie verursacht haben.«

Hatte der Gesandte tatsächlich Unsterblichkeit gesagt? Und hatte er damit wirklich ewiges Leben gemeint? Irgendwo musste ein Haken sein!

»Bevor ich es vergesse«, ergänzte Cairol und streckte die Hand aus, »ihr hättet auf ihn hören sollen!«

Eorthor fühlte, wie etwas in sein Bewusstsein eindrang und ihm ein unsichtbares Lächeln der Anerkennung schenkte. Es war, als ob er ins Rampenlicht des Universums gezerrt wurde und ihm alle zujubelten. Er fühlte ihren Applaus.

Das Gefühl verringerte sich, als sich die Schleuse hinter Cairol schloss und die Walze in das Weltall raste. Nun erinnerte es Eorthor an eine Art Hintergrundrauschen. Der Wissenschaftler schüttelte sich und zwang sich zu klarem Denken. Cairol war weg, während das Gefühl blieb. Warum auch immer! Er hatte wahrlich genug Zeit, es zu analysieren.

Vierzig Meter vor ihm erhob sich sein Vater aus dem Staub und kam mit hängenden Schultern auf ihn zu.

»Sohn, es tut mir leid, dass ich nicht auf dich gehört habe.«

Eorthor wischte die Entschuldigung mit einer Handbewegung beiseite. Seit zwei Tagen hörte er von allen Projektbeteiligten nichts anderes. Diese kriecherische Unterwürfigkeit war eines Alysker unwürdig. »Immerhin sind wir jetzt unsterblich!«

Nargul lächelte milde und legte ihm die Hand auf den Arm.

»Eorthor, die Unsterblichkeit ist die grausamste Strafe …«

»Nicht für mich!« Er schüttelte die Hand seines Vaters ab. »Alle Rätsel des Universums warten darauf gelöst zu werden! Von mir!«

»Bitte, Eorthor, du weißt nicht, was du …«

»Denk an Cairols Worte: ›Ihr hättet auf ihn hören sollen!‹« Eorthor schlug ein paar Mal mit dem rechten Zeigefinger auf die Brust seines Vaters. »Lerne aus deinen Fehlern und folge dem Rat der Kosmokraten, die mich anerkannt haben!«

Er drehte sich um und ließ seinen Vater zurück. Er hatte Wichtigeres zu tun, als sich mit einem Verlierer zu beschäftigen.

Damals … vor 148 Millionen Jahren

»Eorthor, wir brauchen deine Hilfe!«

Sein Vater beugte sich zu dem Aufnahmesensor. Offenbar wollte er damit die Wichtigkeit seiner Worte unterstreichen. Die steile Falte auf der Stirn zeigte Eorthor, dass er beunruhigt war. Also würde Eorthor ihm zumindest fünf Minuten zuhören und nicht sofort auf die »Aus-Taste« drücken.

»Hm!«

Mehr bedurfte es nicht, um seinen Vater zu ärgern.

»Junge, diesmal kommst du mir nicht davon! Diesmal werde ich es nicht akzeptieren, dass du deinem Volk die kalte Schulter zeigst! Diesmal nicht!«

Nargul war laut geworden. Er schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Eorthor hob die Augenbraue. Wutausbrüche passten nicht zu seinem Vater. So etwas war sein Metier.

»Svart!«, brüllte sein Vater. »Eorthor, ich akzeptiere heute keine deiner arroganten Behauptungen, in denen du mir zum millionsten Mal sagst, dass wir deinen Hinweis auf den Berechnungsfehler ignoriert haben. Und Cairols Spruch interessiert mich auch nicht!«

Eorthor schwieg und zählte die Zornesadern am Hals des Obersten Ratsprechers. Dann sah er demonstrativ an Nargul vorbei. Er musterte das neue Hologramm in dessen Arbeitszimmer, das die Galaxis von oben zeigte.

»Du sitzt auf deinem Mond und siehst auf dein Volk hinunter«, polterte sein Vater weiter. »Einem Mond, auf dem du deine Forschungen – unkontrolliert – betreiben kannst! Wir haben dich zum Obersten Wissenschaftssprecher gewählt und dir seit der Katastrophe alles gegeben, was du gefordert hast! Wir haben dafür nie etwas von dir verlangt! Es ist deine Pflicht …«

»Du vergisst die neuen Forschungsergebnisse, die ihr dank mir verwerten könnt.«

»Wäre ja noch schöner, wenn du sie für dich behalten würdest!«

Eorthor blickte auf eine Zahlenreihe, die rechts neben dem Hologramm seines Vaters vom Zentralcomputer projiziert wurde. Es genügte vollkommen, Nargul nur einen Bruchteil der Aufmerksamkeit zu widmen. In all den Millionen Jahren hatten sie ähnliche Gespräche unzählige Male geführt – mit identischem Ergebnis. Eorthor verweigerte jede Hilfe. Er ließ seinem Vater die »Freude« daran. Es war die einzige Art der Kommunikation, die zwischen ihnen noch existierte, das letzte Ritual zwischen Vater und Sohn.

»Es ist deine Pflicht, sage ich, dass du diesmal etwas für dein Volk tust!«

»Ich habe unserem Volk die Heimat gerettet!«, entgegnete Eorthor und erinnerte seinen Vater an eine Leistung, die er gern verdrängte. Nachdem das gescheiterte Experiment das Schwerkraftgefüge von Jianxiang und ihrer drei Schwestergalaxien zerstört hatte, raste die Heimat, wie die Galaxis in der Sprache der Ahnen hieß, auf den gemeinsamen Schwerpunkt der vier Galaxien zu. Nur Eorthors Genie war es zu verdanken, dass Jianxiang nach einer Millionen Jahre dauernden Forschung und Umsetzung aus dem Todesrennen ausgeschieden und verankert worden war.

»Dafür haben wir dir oft genug gehuldigt!«, wischte sein Vater den Einwand beiseite. »Außerdem betrifft es dich persönlich!«

Eorthor horchte auf. Diese Masche war neu.

»Mich?«

»Ich halte hier ein Blatt Papier in den …«

»Komm zur Sache!«

»Enomina ist verschwunden!«

Eorthor lachte.

»Ich habe dir schon unzählige Male gesagt, dass mir diese Frau gleichgültig ist! Warum bezweifelst du das?«

»Sie hat dir einen altertümlichen Abschiedsbrief hinterlassen. Einen sehr persönlichen!«

»Und?«

»Erinnerst du dich noch an euer gemeinsames ›Projekt‹, diese Bombe?«

»Bombe?«

Jetzt hatte sein Vater seine ungeteilte Aufmerksamkeit und seine Neugier geweckt. Offenbar hatte er sich auf dieses Gespräch gewissenhaft vorbereitet. Zu gewissenhaft! Eorthor fluchte innerlich.

»Sie schreibt von einem Geheimprojekt, das sie vollendet hat. Klingt für mich, als hättet ihr vor einem Problem kapitulieren müssen.«

Der Unterton in der Stimme war nicht zu überhören. Eorthor wich dem Blick seines Vaters nicht aus, schwieg aber.

»Sie will die Bombe zünden, um mit dir vereint zu sein!«

»Wie originell!«

Nargul sprang aus dem Sessel und ging im Raum hin und her. »Erinnerst du dich?«

»Dunkel!« In Wirklichkeit hatte er die Theorie, der sie nachgegangen waren, längst aus seinen Erinnerungen hervorgekramt. Enomina und er hatten an einer siebendimensionalen Bombe gearbeitet. Ein sechsdimensionales Ableitungsproblem hatte die theoretische Vollendung gestoppt. »Was hat sie geschrieben?«

»Später! Sie ist seit zwanzig Tagen verschwunden!«

»Bleiben zehn Tage, bevor die zweite Strafe der Kosmokraten wirkt und sie sich verwandelt.«

»Exakt. Neben dem Abschiedsbrief hat sie eine Animation der Bombenwirkung beigelegt …«

»Lass mich raten: Wenn sie zündet, existiert im Umkreis von mehreren Millionen Lichtjahren keine Galaxie mehr.«

Sein Vater nickte.

»Waren irgendwelche Unterlagen angeschlossen? Berechnungen oder dergleichen?«

»Leider nicht. Spezialisten versuchen ihren Computer zu knacken.«

»Zieh die Leute ab. Ich erledige das!«

Nargul bekam große Augen.

»Nicht, dass wir uns falsch verstehen!«, kam ihm Eorthor zuvor. »Es interessiert mich, ob sie das Problem genauso gelöst hat wie ich!«

»Du meinst … du hast diese Bombe auch gebaut?«

»Ich habe sie in Aufbau und Wirkungsweise verfeinert.«

Es war eine glatte Lüge. Seit jenen weit entfernten Tagen hatte er sich nicht mehr damit beschäftigt.

»Manchmal bist du mir unheimlich!«

»Nur manchmal?«

Statt eine Antwort zu geben, massierte sich sein Vater die Nasenwurzel. Ein trügerisches Zeichen!

»Es gibt einen Haken!«, analysierte Eorthor.

»Als ich dem Rat vorgeschlagen habe, dich mit der Sache zu betrauen, haben die Mitglieder nur zugestimmt, wenn du mit einem Team arbeitest. Du kannst drei Alysker aus einer Liste von Spezialisten wählen!«

Eorthor glaubte, sich verhört zu haben. Doch sein Vater projizierte eine Liste von Namen.

»Erstens arbeite ich allein, zweitens nur mit den Besten und drittens bestimme ich, wer zu den Besten gehört.«

Nargul bedachte ihn mit einem Blick, den Eorthor in seiner Kindheit allzu oft gesehen hatte: Immer, wenn sein Vater ihm eine Forderung nicht erfüllen konnte.

»Widerstand zwecklos?«, hatte er dann gefragt und so tat er es auch diesmal. Und sein Vater nickte.

»Spannend. Der Rat riskiert die Zerstörung von vier Galaxien?«

»Sie haben mich überstimmt!«

Nach ein paar Sekunden Stille, in denen Eorthor überlegt hatte, sagte er: »Gut. Drei Spezialisten meiner Wahl – gleichgültig, ob sie auf der Liste sind oder nicht. Der Rat soll sie vereidigen, wenn er darauf besteht.«

»Ich werde es ihnen sagen.« Nargul blickte Eorthor in die Augen. »Danke!«, sagte er und schaltete ab.

*

Eorthor sprang aus dem Sessel, der durch den Schwung nach hinten sauste und erst vom Glastisch gestoppt wurde. Er knurrte abwärts in Richtung Konsole, drehte sich um und drosch mit der Hand in den Holzkasten, den er Enomina vom Planeten Uhlur mitgebracht hatte. Das Holz knirschte, und obwohl es leicht nach innen und wieder zurück federte, hielt es seinem Schlag stand. Eorthor ging in die Hocke und kratzte sich am Kinn. Seit einer halben Stunde versuchte er das Passwort zu Enominas Computer zu knacken. Vergebens.

»Was hast du genommen, Schwarzlocke?«, murmelte er, während ihm sein Bewusstsein ihr Bild lieferte. Sie lehnte an einer Palme in einer Bucht eines unbewohnten Planeten. Sie hatten diesen Planeten durch Zufall entdeckt und ihn als ihr Liebesnest auserkoren. Sobald sie sich nach Einsamkeit sehnten, hatten sie sich dorthin zurückgezogen.

Er sah ihr Gesicht und blickte in ihre grünen Augen, die ihn sogar in seinen Gedanken in den Bann zogen. Ihre schwarzen, schulterlangen Haare wehten im Wind und kontrastierten mit ihrer blütenweißen Haut. Was immer sie unternahm, sie wurde nicht braun. Ihre erste gemeinsame Nacht fiel ihm ein und er schmunzelte, als er daran dachte, wie er sie beim Küssen ihrer Brüste geneckt hatte. Obwohl sie der Natur nicht nachgeholfen hatte, war ihm ein »Die Chirurgie ist weit gediehen. Man sieht die Operationsnarben überhaupt nicht.« entschlüpft, worauf sie eines ihrer Beine abrupt angezogen hatte. Er verzog das Gesicht, als er sich den Schmerz in Erinnerung rief.

Er kehrte zur Computerkonsole zurück, auf dem sie ein Holo aus alten Tagen aufgestellt hatte. Mit einer kurzen Handbewegung fegte er den Miniprojektor zu Boden und folgte der Flugbahn mit seinen Blicken. Er ging zum Glastisch, der auf einem eisernen, auf dem Rücken liegenden Bären ruhte, und hob den Abschiedsbrief hoch.

Eorthor, mein Schatz!

Es fällt mir schwer diesen Brief zu schreiben – selbst nach den unzähligen Millionen Jahren! Welch eine Zeitspanne!

Sie bedeutet nichts, sobald Gefühle im Spiel sind. Und in diesem Brief geht es nur um Gefühle. Um meine … um deine … um unsere, Eorthor!

Ja, du hast richtig gelesen!

Es geht um unsere Gefühle! Die Gefühle, die uns verbinden und uns auch immer verbinden werden!

Und wenn du ehrlich zu dir bist, empfindest du so wie ich!

Ich, Eorthor, ich fühle dich! Du bist in meinen Gedanken, meinem Herzen und meinem Leben. Du bist ein Teil von mir, genauso wie ich ein Teil von dir bin! Uns verbindet ein unsichtbares Band. Ewig!

Und nichts und niemand wird daran etwas ändern.

Selbst den Tod werden wir überwinden. Er mag sich unsere Körper holen, aber unsere Seelen … unsere verschmolzenen Seelen wird er nicht bekommen. Weil wir gemeinsam so viel Kraft, Stärke und Liebe entwickeln, dass er sich seine knochigen Finger an uns verbrennen wird.

Nach unserem Tod, mein lieber Eorthor, werden wir vereint durch das Universum wandern und all die Wunder des Kosmos erleben. Und unsere Seelen werden Liebe und Vertrautheit dort säen, wo derzeit noch Angst, Hoffnungslosigkeit, Kummer und Frust regiert. Wir werden dem Kosmos das geben, womit er uns ausgestattet hat: unsere Liebe zueinander.

Eorthor, lächelst du jetzt?

Ja, du tust es! Ich spüre, dass du lächelst. Jenes herzhafte, warmherzige, liebevolle und vertraute Lächeln, wie nur du es zusammenbringst. Ich danke dir für dieses Lächeln, das du mir schenkst. Ich spüre, wie es meinen Geist und meine Seele berührt.

Eorthor, es tut so gut, dich lächeln zu sehen!

Ach, Eorthor, ich möchte noch einmal in dein Gesicht und in deine Augen sehen. Und ich möchte, dass du mir jenes Lächeln schenkst, dass nun in deinem Gesicht steht!

Weil ich weiß, was du empfindest, wenn du mich anlächelst. Und ich finde deine Gefühle für mich wundervoll. Und das macht es für mich umso schöner, dass ich in mir für dich dieselben Gefühle empfinde. Eorthor, mein Schatz, danke, dass du diese Gefühle in mir auslöst. Ich stelle mir vor, wie wir uns aneinanderschmiegen, alles um uns vergessen und uns auf unsere Gefühle für einander konzentrieren.

Eorthor, ich wünsche mir, dass die letzten Millionen Jahre nie existiert hätten. Ich wünsche mir, ich würde an dich gekuschelt aufwachen und erleichtert feststellen, dass alles ein Alptraum war.

Es war eine wunderschöne Zeit. Warum musste es so enden, wie es geendet hat?

Eorthor, ich hole diese Zeit zurück!

Ich werde uns vereinen – diesmal für ewig!

Erinnerst du dich an unser gemeinsames Geheimprojekt aus der Schulzeit? Ich habe es theoretisch und praktisch zu Ende gebracht. Und ich werde die Bombe zünden, damit wir endlich wieder eins sind!

Weil ich dich liebe, Eorthor!

Eorthor strich sich nachdenklich über seine Haare. Noch einmal las er die letzte Zeile und horchte in sich hinein. Während er das Blatt losließ, um es zum Tisch zurücksegeln zu lassen, fand er keine Gefühle für seine ehemals große Liebe mehr. Selbst die Erinnerungen an sie waren nahezu verblasst und kamen nur schleppend zurück. So wie die Ausflüge, die sie zu ihrem Liebesnest unternommen hatten.

Eorthor stutzte. Er kannte ihr Passwort!

Verärgert, dass er so lange dafür benötigt hatte, schlug er sich gegen die Stirn, bückte sich und hämmerte es in die Sensoren.

Als im Hologramm »Passwort akzeptiert« verschwand, zeigte ihm das Vibrieren seines Multifunktionsarmbandes, dass ihn jemand sprechen wollte. Nargul!

Eorthor bestätigte und sah eine Sekunde später in das projizierte Gesicht seines Vaters.

»Wie kommst du voran?«, fragte Nargul anstelle eines Grußes.

»Ich bin drin! Und du?«

»Catin und Xaria haben zugesagt. Viscount hat sich geweigert!«

»Er hat sich geweigert?« Eorthor konnte es nicht glauben. »Er weiß, dass ich ihn angefordert habe?«

Nargul nickte. »Der Pilot ist in den Flitterwochen und an keinem Auftrag interessiert. Originalzitat: ›Nicht einmal, wenn es um die Rettung des Universums ginge.‹«

Aus Eorthors Mund drang ein Seufzen.

»Muss ich also auch das selbst erledigen …«

Sein Vater zuckte mit den Achseln, bevor Eorthor die Verbindung unterbrach. In dem anderen Holo lagerten Enominas Dateien. Eorthor hatte nie verstanden, wie sie sich in diesem kreativen Chaos zurechtgefunden hatte. Zum Glück half ihm die Suchfunktion.

Sekunden später analysierte er ihre Lösung für das Problem, das sie damals zur Aufgabe gezwungen hatte.

»Nicht schlecht, Schwarzlocke«, murmelte er und lehnte sich im Sessel zurück. Allerdings hatte sie nur die zweitbeste Lösung gefunden. Nach dem Gespräch mit Nargul hatte Eorthor sofort die alten Unterlagen herausgekramt und nach fünfzehn Minuten einen perfekten Lösungsweg parat. Enomina hatte die Schwachstelle auf weniger elegante Art umgangen. In einer anderen Datei betrachtete er den Prototyp, den sie gebaut hatte. Es war ein viereckiges Gerät von der Größe eines Polsters. Niemand hätte darin die tödlichste Waffe in der Geschichte der Alysker vermutet. Zündete man die Bombe, veränderte sie die Gravitationskonstante im Umkreis von zehn Millionen Lichtjahren. Alles würde binnen Sekunden zusammenstürzen und in einem riesigen Schwarzen Loch vergehen. Durch einige Modifikationen der Ursprungspläne hatte er die Wirkung verbessert: auf zwanzig Millionen Lichtjahre. Die zehn Millionen Lichtjahre genügten jedoch bereits, um die Heimatgalaxis der Alysker auszulöschen.

Eorthor transferierte alle Daten in seinen Computer und löschte sie dann von Enominas Rechner. Er streckte sich. Jetzt würde er sich um Viscount kümmern.

*

Eorthor kniete hinter einem der Sträucher vor Viscounts Villa. Das Nachtsichtgerät half ihm, die Dunkelheit zu durchdringen. Eine dichte Wolkendecke verdeckte beide Monde. Der Wetterbericht hatte mit fünfzigprozentiger Wahrscheinlichkeit Regen prognostiziert. Seit neuestem ließ die Wetterkontrolle die Alysker gern im Unklaren über das tatsächliche Wetter. Eorthor war es egal. Nichts würde ihn aufhalten.

Er überbrückte die letzten Meter zur Terrassentür und öffnete sie mit seinem Einbruchswerkszeug. Leise schlich er über den Holzboden und danach die Treppe hinauf. Das Schlafgemach der beiden Frischvermählten lag im ersten Stock. Geräuschlos schlüpfte er ins Zimmer. Viscount und Inceda, seine Gattin – die dreitausendachthundertsiebenundvierzigste – schliefen tief und fest. Eorthor zog seine Waffe, zielte auf Inceda. Das Singen des Paralysators drang sekundenlang an sein Ohr, dann verstaute er die Waffe im Schulterhalfter.

Er ging zu Inceda, holte eine Injektionsspritze hervor und injizierte ihr ein Mittel. Dann stellte er sich ans Ende des Bettes und entsicherte seine Waffe. Er riss Viscount die Decke weg, aktivierte die Beleuchtung und schlug ihm gegen den Oberschenkel.

Mit einem Schmerzenslaut wachte Viscount auf. Er blinzelte ob der Helligkeit. »Was zur Hölle …?«

»Bleib ruhig«, riet ihm Eorthor und deutete mit dem Kopf auf seine Waffe, die genau zwischen die Beine des Liegenden zeigte. Viscount verharrte mit halb aufgerichtetem Oberkörper. »Ich habe gehört, du folgst meinem Ruf nicht?«

Viscount nickte zögernd, dann begehrte er auf: »Ich bin in den Flitterwochen! Und ich lasse mich von deiner Waffe nicht …«

Das letzte Wort ging im Zischen der Strahlwaffe unter. Viscount sprang regelrecht in Richtung Polster, um dem heißen Strahl zu entgehen, der ein Loch in das Bett brannte.

»Wie du siehst, habe ich einen nervösen Finger«, erklärte Eorthor und lächelte. »Wenn dein Psychogramm stimmt, dann schätzt du deine Genitalien! Und vergiss nicht, du hast es mit mir zu tun: Eorthor, der Verrückte! Der Unberechenbare! Der Choleriker!«

Viscount starrte zwischen der rot glühenden Abstrahlmündung, dem Loch im Bett und seinen Beinen hin und her.

»Ich warte auf eine Antwort auf meine erste Frage!«

»Eorthor … ich meine, verehrter Eorthor, ich …«

»Habe ich dir schon gesagt, dass ich Schleimer hasse?«

Viscount hob beschwichtigend die Hände. »Ich bin soeben zur Überzeugung gekommen, dass es im Interesse unseres Volkes ist …«

»Habe ich dir schon gesagt, dass ich Lügner hasse?«

»Es ist in meinem Interesse, dass ich dich auf deine Mission begleite«, sagte Viscount hastig.

»Das hört sich schon viel besser an!« Ein Wink mit der Waffe genügte und Viscount stieg aus dem Bett. »Falls du dich fragst, warum deine reizende Göttergattin unser kleines Gespräch nicht kommentiert: Ich habe sie paralysiert.«

»Aha.«

»Übrigens habe ich ihr ein Mittel aus meiner Forschungsreihe für schleichende Gifte injiziert. Am Ende wird Inceda als lallende Bettnässerin dahinvegetieren. Ich sage dir das, damit du während der Reise nicht auf dumme Gedanken kommst!«

Viscount kratzte sich an der Wange. »Du hast mich endgültig überredet! Wo geht es hin? Und wen muss ich töten?«

»Niemanden! Ich benötige deine Fähigkeit.«

»Meine fliegerische?«

»Die andere! Die geheime!«

»Oh! Dann bin ich noch gespannter, wo es hingeht!«, sagte Viscount und zog sich sein Freizeitgewand an.

»Ich habe mir erlaubt, deiner Gattin in einer kurzen Infodatei deinen überhasteten Aufbruch zu erläutern!«

Vor Viscount entstand ein Hologramm, in dem er zu seiner Frau sprach.

»Du verstehst etwas von Computerfälschungen. Alle Achtung!«, sagte er, nachdem die Aufzeichnung geendet hatte. »Ich« – er lachte kurz und laut, was in Eorthors Ohren wie das Meckern einer pukerischen Ziege klang – »erzähle etwas vom Wohl unseres Volkes und der Rettung für unsere Galaxis! Was meine ich genau?«

»Du erfährst alles auf meinem Schiff! So wie die anderen!«

»Die anderen?«

»Später! Packe eine Reisetasche und dann fliegen wir zu meiner Forschungsstation. Du hast drei Stunden, um dich mit dem Schiff vertraut zu machen. Um halb sieben fliegen wir los!«

*

Eorthor betrat den Hangar durch eine der Seitentüren. Dreißig Meter vor ihm parkte die SMIS, sein kugelförmiger Spezialraumer. Es war jedem Schiff dieser Galaxis mindestens um den Faktor Fünf überlegen, egal in welchem Bereich. Der Raumer, ein Eigenbau, war – wie so vieles hier auf dem Forschungsmond – geheim. Bis zum heutigen Tag hatte nur er davon gewusst. Nun teilten drei Personen dieses Wissen. Viscount, der sich seit drei Stunden mit dem Raumer beschäftigte, Catin, die blonde Psychologin und Xaria, die großgewachsene Hyperphysikerin. Die beiden Frauen unterhielten sich vor dem Raumer und warteten auf ihn. Der humanoide Roboter, der sie vor knapp zehn Minuten in den Hangar gebracht hatte, bewachte sie unauffällig.

»Ich sehe, ihr habt euch schon bekannt gemacht«, sagte er und bemerkte, dass Viscount aus der Schleuse der SMIS trat.

»Eorthor, so kann ich nicht arbeiten! Dein Computer verweigert jede zweite Antwort. Und abgesehen …«

Er registrierte die beiden Alyskerinnen und stockte.

»Oh, meine Damen, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt! Mein Name ist Viscount und ich …«

»Bin frisch verheiratet«, fiel ihm Xaria ins Wort.

Viscount, der damit offenbar nicht gerechnet hatte, blieb wie angewurzelt stehen.

»Du hast in den letzten vierzig Millionen Jahren dafür gesorgt, dass sich jede alyskische Frau vor dir in Acht nimmt. Du führst nicht nur die Heirats-, sondern auch die Scheidungsstatistik an.«

»Oh, die Frauen wollen immer heiraten! Und ich kann einer Frau keinen Wunsch abschlagen«, sagte Viscount, der seine Verdutztheit überwunden hatte.

»Darum hast du dich auch den Frauen von anderen Planeten zugewandt«, unkte nun auch Catin. »Vermutlich haben sie dich angefleht!«

Viscount nickte eifrig.

Eorthor amüsierte sich über diese offizielle Variante des Zusammenlebens, der seit einiger Zeit ein Teil der Alysker frönte.

»In einem Interview vor knapp vierhunderttausend Jahren hat er geprahlt, dass er schon mit mindestens einer Frau aus jedem Volk der Galaxis geschlafen hat«, erwähnte Catin.

»Und alle haben sie mir gedankt!«

Eorthor hörte sich das Wortgeplänkel einige Minuten lang an, dann unterbrach er die drei.

»Es reicht! Ihr könnt an Bord weitermachen! Viscount, deine Zugangsbeschränkung ist in Teilbereichen aufgehoben! Setz dich in den Pilotensessel und halte dich bereit, jederzeit einzugreifen!«

»Einzugreifen?«

»Das Schiff fliegt selbst!«, antwortete Eorthor. Zu den Frauen gewandt sagte er: »Ihr zwei seht euch innen um! In vier Stunden treffen wir uns in Konferenzraum A!«

*

Die drei Alysker blickten ihn gespannt und erwartungsvoll an. Obwohl das Schiff seit vier Stunden seinem Ziel entgegenflog, war ihnen der Grund der Reise unbekannt.

»Unsere Aufgabenstellung ist simpel. Wir müssen eine Bombe finden und sie entschärfen. Versagen wir, existieren im Umkreis von zehn Millionen Lichtjahren nur mehr Quantenfluktuationen.«

Jeder der drei Alysker reagierte anders. Viscount lachte und lehnte sich im Sessel zurück, während er gleichzeitig mit der rechten Hand auf den Tisch klopfte. Catin streichelte ihren Hals und schien zu überlegen. Xaria hingegen bewegte sich nicht, sondern sah ihn weiterhin interessiert an.

»Zehn Millionen Lichtjahre?«, wiederholte Viscount. »Auf welcher Basis funktioniert diese Bombe?«

»Halb sechs- und halb siebendimensional.«

»Niemand in der Galaxis ist in der Lage, so eine Bombe zu bauen … außer … äh … wir«, sagte er und lehnte sich nach vorne. »Oder besser gesagt: Du!«

Eorthor unterdrückte ein Lächeln und behielt sein ausdrucksloses Gesicht bei.

»Ich und eine … Bekannte haben die theoretischen Grundlagen für diese Bombe aus Spaß in der Schulzeit entworfen.«

»Aus Spaß …? Mann!«

»Diese Bekannte hat die Theorie in die Praxis umgesetzt und ist mit dem Prototyp von Alysk abgereist.«

»Dann suchen wir also die Frau!«, warf Catin ein.

»Die Bombe. Sie ist gefährlicher!«

»Wer ist diese Frau?«

»Ihr Name ist Enomina. Sie ist hochgradig depressiv und todessüchtig.«

»So verwirrt kann sie nicht sein, wenn sie diese Bombe gebaut hat«, warf Viscount ein.

»Gibt es ein Abschiedsholo?«

Eorthor aktivierte den Projektor und über dem Tisch entstand ein Hologramm. Es zeigte Enomina, die an einer Konsole lehnte. Die Haare hingen ihr wirr über das Gesicht. Kaum hatte sie einzelne Strähnen bei Seite gewischt, fielen sie wieder nach vorne.

»Es ist vollbracht!«

Sie kicherte.

»Ich habe mit meinem Geist die Grenze erreicht und sie dank einer Vision überschritten. Als Lohn winkt mir der Triumph, meinem Volk geholfen zu haben!«

Enomina unterstrich mit den Händen ihre Sätze.

»In der Vision habe ich gesehen, wie ich die Grenze neutralisiere. Und nach dieser Vision habe ich auch den Heilsbringer konstruiert!« Sie straffte sich. »Und mit dem Heilsbringer erlöse ich mein Volk von den Qualen, die es seit dem Kosmokratenfluch erleidet.«

Die Aufzeichnung endete und das Hologramm löste sich auf.

»Die hat einen Knall!«

»Viscount, du bist nicht qualifiziert, darüber zu urteilen«, wies ihn Catin zurecht. »Diese Frau steht offenbar unter sehr hohem Stress …«

»Mir egal, wie du es als Psychologin schönredest. Für mich hat die Alte einen Knall! Und da ich auch nach knapp fünfzig Millionen Jahren nicht vorhabe zu sterben, werden wir sie aufhalten und die Bombe entschärfen. Eorthor, wo finden wir sie? Und sag mir jetzt nicht, dass wir die ganze Galaxis nach ihr absuchen müssen.«

»Eine wichtige Frage haben wir noch nicht gestellt«, sagte Xaria. »Wann ist sie verschwunden?«

Die Unsterblichkeit war nicht das einzige Geschenk der Kosmokraten. Blieb ein Alysker länger als dreißig Tage seinem Heimatplaneten fern, verwandelte er sich in einen Ylors. In diesem nicht umkehrbaren Zustand wurden die Alysker ausschließlich von einem Trieb beherrscht: zu töten. Bis man die ganze Tragweite des Problems erkannte, hatten Millionen zu mordlustigen Monstren verwandelte Alysker die Galaxis überschwemmt. Sie fielen über die anderen Intelligenzen her und säten Chaos. Die intelligenten Alysker bildeten schließlich Suchkommandos und fingen ihre ausgerasteten Artgenossen in mühevoller Arbeit ein. Von den vierzehn Millionen Ylors wurde die Hälfte beim Versuch, sie zu fangen, getötet, während der Rest auf dem siebten Planeten ihr Dasein fristete. Seit jener Zeit achteten die verbliebenen sechsunddreißig Millionen Alysker peinlich genau darauf, nach spätestens dreißig Tagen zu ihrem Planeten zurückzukehren. Nach einem Mindestaufenthalt von wiederum dreißig Tagen konnten sie wieder ihrer Reiselust frönen. Obwohl sich alle Wissenschaftler dieses Problems angenommen hatten, konnten sie die Abwesenheitsfrist von Alysk nicht verlängern.

»Uns bleiben neun Tage, bevor sie sich in eine Ylors verwandelt.«

»Und wo finden wir sie innerhalb dieser Frist?«

»Ich weiß, wo sie ist.«

»Woher? Im Abschiedsholo hat sie nichts erwähnt!«

»Ich weiß es! Das muss euch genügen!«

*

»Da wären wir!«, kommentierte Viscount den Eintritt in das Sonnensystem. Er lümmelte zwei Meter vor Eorthor, der in der Mitte der halbkugelförmigen Zentrale im Kommandantensitz Platz genommen hatte. Catin und Xaria saßen jeweils links und rechts neben Viscount.

Im Haupthologramm manifestierte sich ein animiertes Schema der Planetenläufe um den Roten Riesen. Gleichzeitig lieferte der Hauptcomputer die wichtigsten Informationen wie Umlaufzeiten, Durchschnittstemperaturen und Vegetationszonen.

Eorthor kannte all diese Daten. Neu war ihm, dass sich auf dem in Frage kommenden vierten Planeten intelligentes Leben entwickelt hatte. Der Computer klassifizierte es auf Entwicklungsstufe D, also innerhalb des Atomzeitalters.

»Klasse! Wie sollen wir Enomina unter all diesen Wesen finden?« Viscount spielte auf die Bevölkerungszahl von neun Milliarden an. »Sie kann praktisch überall sein!«

»Es wird unsere Aufgabe sein, sie zu entdecken!«

»Ist die Bombe im aktivierten Zustand zu orten?«

»Nur Millisekunden nach der Zündung!«, antwortete Eorthor auf Xarias Frage.

»Wie war das? Warum gibt es von ihr keine Individualimpulse, Eorthor?«

Viscount war von seinem Pilotensessel aufgestanden und lehnte sich mit dem Gesäß an die Rückenstütze.

»Weil sie sie vor Jahrhunderttausenden gelöscht hat!«

»Und es ist niemandem aufgefallen?«

»Doch! Mir, gestern!«

Eine Fluchtirade war die Folge. »Wieso bist du so sicher, dass sie hier ist?«, fragte er weiter.

»Ich gebe dir dieselbe Antwort, wie in der Besprechung: Ich weiß es eben!«

»Das befriedigt mich nicht!«

»Das ist dein Problem!«

Catin räusperte sich und trat zwischen die beiden Männer. »Ich habe mich dem von Eorthor zur Verfügung gestellten Psychogramm von Enomina gewidmet. Meiner Meinung nach hat sie diesen Planeten bewusst als ihre letzte Station ausgesucht. Es muss eine Verbindung zwischen ihr und diesem Ort geben.«

»Ich bin zu einem identischen Ergebnis gekommen!«, pflichtete ihr Eorthor bei und schlug die Beine übereinander. »Fahr fort.«

»Ich wette, dass sie den Planeten regelmäßig besucht, die Zivilisation möglicherweise gelenkt und freundschaftliche Beziehungen zu einigen Bewohnern aufgebaut hat!«

Viscount betrachtete die Darstellung der Humanoiden im Hologramm. »Vielleicht auch mehr als Freundschaft. Immerhin sehen sie uns ähnlich. Wie nennen sie sich?«

»Pohper.«

»Welche Rückschlüsse lassen sich aus dem Funkverkehr über die Strukturierung der Gesellschaft ziehen?«, fragte Eorthor den Hauptcomputer.

»Eine typisch atomare Gesellschaft. Zwei Machtblöcke stehen sich gegenüber, sowohl in militärischer wie auch in politischer Ausrichtung.«

»Erfolgreich kann Enomina nicht gewesen sein«, kommentierte Viscount die politische Lage auf dem Planeten.

»Der Atomkrieg konnte ein paar Mal nur äußerst knapp verhindert werden«, fuhr der Computer fort, »aber seit ein paar Monaten gibt es Tendenzen der Entspannung.«

Im Hauptholo zeichnete der Computer die Einflussgebiete der beiden Blöcke ein. Sie lagen sich geographisch genau gegenüber: einer auf der Nordhalbkugel, der andere auf der Südhalbkugel.

»Ihre Sympathie gilt sicher dem demokratischen Machtblock!«, vermutete Catin.

Viscount lachte. »Ganz nach dem Motto: Wenn ich schon den Planeten in die Luft jage, dann möchte ich vorher bei jenem Volk verweilen, das mir sympathischer ist?«

»So in etwa.«

»Also suchen wir auf der Südhalbkugel.«

Der Raumer schwenkte in einen Orbit ein. Automatisch suchte der Computer nach Enominas Schiff. Es war leichter aufzuspüren als die Alyskerin. Nach der zweiten Umkreisung wurden die Ortungsgeräte der SMIS fündig.

»Sie hat das Schiff versenkt und dann zerstört. Vom Schiff ist nichts als eine unförmige Masse übrig«, kommentierte Viscount die Ergebnisse.

»Wenn man vom Standort ihres Raumers ausgeht, stimmen unsere Vermutungen. Sie ist innerhalb des demokratischen Blocks!«

Eorthor wusste es besser, schwieg aber. Er hatte nicht vor, sie in seine Pläne einzuweihen.

»Wir haben neun Tage – wie teilen wir die Suche auf?«, fragte Xaria.

»Lasst uns die verschiedenen Zentren des Machtblocks ansehen und überlegen, welches davon Enomina angezogen haben könnte.«

»Und dann gehen wir nach unten und schnappen sie uns!«

*

Er war allein im Schiff. Viscount, Catin und Xaria gingen auf dem Planeten verschiedenen Hinweisen nach. Jeder konzentrierte sich auf eine andere Stadt. Offiziell forschte er ebenfalls nach Enomina. Er hatte sogar darauf bestanden, sich als erster mit dem Fiktivtransmitter abstrahlen zu lassen. Doch nach fünf Minuten im Schatten eines der Hochhäuser hatte er sich an Bord des Schiffes zurückholen lassen.

Nun saß er in der Zentrale und wartete auf eine Erfolgsmeldung des Computers. Es stimmte, dass es Enomina gelungen war, ihre Individualimpulse aus dem Zentralrechner von Alysk zu löschen. Ihn hatte sie damit nicht ausgetrickst, da er eine Kopie besaß. Es war eine seiner eisernen Regeln, alles zu archivieren. Schließlich konnte man nie wissen, ob man es nicht noch einmal benötigen würde. Und die Vergangenheit wie auch die Gegenwart gaben ihm recht.

»Zielobjekt lokalisiert«, meldete der Zentralcomputer. Im Hologramm zeigte der Rechner zuerst eine Übersicht über das Gebiet, in dem sich Enomina befand, zoomte dann näher, bis er ihren exakten Aufenthaltsort wiedergab. Die Kamerafelder des Raumers richteten sich auf den Punkt und zauberten Enomina in Echtfarben in das Hologramm inmitten der Zentrale.

Sie lag im Bett eines Hotelzimmers und schien zu schlafen. Zumindest legten das die Daten der Analysegeräte nahe, die dank der hochstehenden Technik der Alysker selbst auf diese Entfernung alles registrierten, was Eorthor interessierte.

»Träumst du schon von deiner Existenz als Ylors?«, fragte er in Richtung des Hologramms. Kurz überlegte er, ob er ihr einen geheimen Besuch abstatten sollte, entschied sich jedoch dagegen. Es genügte ihm, sie im Hologramm zu betrachten.

»Verlier sie nicht!«, befahl er dem Zentralrechner und deaktivierte das Holo. Ein unnötiger Befehl, da er das Programm selbst geschrieben hatte. Aber gelegentlich gefiel er sich in unlogischen und irrationalen Anweisungen.

Vor Eorthor aktivierte sich ein anderes Holo, welches von dem Roten Riesen ausgefüllt wurde. Allerdings arbeitete der Computer mit einem Spezialfilter, um die Korona auszufiltern. Die Sonne war ein weißer Gasball, der von Sonnenflecken durchzogen war. Etwas anderes erregte Eorthors Aufmerksamkeit. Ein winziges Viereck zog einsam seine Bahnen um die Sonne. Selbst die alyskischen Spezialortungsgeräte an Bord der SMIS hatten es nur aufgrund der typischen siebendimensionalen Ausstrahlung dingfest gemacht. Enomina hatte sich nicht die Mühe gemacht und ihre Bombe abgeschirmt – ganz im Gegensatz zu Eorthor. Seine Bombe wäre von niemandem ortbar gewesen, von Kosmokraten und Chaotarchen einmal abgesehen.

Die Zahlenkolonnen, die in einer Spalte an der rechte Seite des Hologramms nach unten liefen, sprachen Bände. Er konnte die Bombe von hier entschärfen. Er seufzte. Wie üblich war Enomina nur halbherzig bei der Sache gewesen. Vermutlich hatte sie beim Bau der Bombe ständig an ihn gedacht.

»Emotionen!«

Er stieß das Wort wie einen Fluch aus und widmete sich erneut der Bombe. Binnen Minuten stellte er den Deaktivierungscode zusammen, verschob ihn innerhalb des Rechners zu den Funkgeräten und verharrte über der Abstrahltaste. Er überlegte, ob er sich den Spaß erlauben sollte, gemeinsam mit Viscount die Bombe manuell zu entschärfen. Da Viscount knapp vor Ablauf der Frist für genug Heiterkeit sorgen würde, verwarf er die Idee.

Er drückte den Sensor und die Impulse jagten hinaus ins All. Wenige Sekunden später las er die Bestätigung der Deaktivierung am Display. Fesselfelder griffen nach der Bombe und holten sie an Bord. Sie passte gut in den Geschichtsraum seiner Forschungsstation.

Eorthor deaktivierte das Programm und blickte auf die Uhr: Noch drei Stunden bis zur Rückkehr seiner Gefährten. Nun, er würde sich zu beschäftigen wissen.

*

»Das Abschiedsholo ist eine Fälschung!«

Catin wunderte sich über sich selbst. Sie stand hier, die Fäuste an den Hüften, und beschuldigte den großen Eorthor der Manipulation. Der Alysker lag mit nacktem, verschwitztem Oberkörper auf der Übungsbank und stemmte unsichtbare Gewichte.

»Woher hast du die Narbe, die deine rechte Augenbraue halbiert hat?«

Irritiert schüttelte sie den Kopf. »Es ist keine Narbe«, antwortete sie. »Mir wachsen dort keine Haare.«

Eorthor erhöhte die Gewichte um einige Kilos und drückte sie in die Höhe. »Wieso glaubst du, dass das Holo gefälscht ist?«, fragte er, bevor er die Gewichte langsam zum Kinn und wieder nach oben führte.

»Sie ist verschwunden und hat keinen Anhaltspunkt hinterlassen. Also musst du von ihr selbst den Zufluchtsort kennen!«

Eorthor deaktivierte die aus verdichteter Schwerkraft bestehenden Gewichte mittels Zuruf. Er setzte sich auf, neigte seinen Oberkörper in ihre Richtung und verschränkte gleichzeitig die Arme vor der Brust. Die Art, wie er sie ansah, irritierte sie. Sie blinzelte, fühlte sich plötzlich klein und unterlegen.

Reiß dich zusammen! Nur weil ich mit meinen vier Millionen Jahren gegen seine fünfzig Millionen fast ein Embryo bin, gebe ich nicht klein bei.

Sie räusperte sich. »Es gibt eine Diskrepanz zwischen den Geschichtsdateien in deinem Rechner und den offiziellen Daten.«

»Wie ist Viscount im Bett?«

Sie starrte ihn an. Was sollte das jetzt?

»Redet er da auch so viel wie sonst? Oder schweigt er verbissen?« Eorthor drückte seinen Rücken gerade. »Nicht, dass wir uns falsch verstehen. Solange die Arbeit nicht darunter leidet, könnt ihr an Bord machen, was ihr wollt.«

Catin merkte, wie sie rot anlief und kam sich dabei wie ein kleines Mädchen vor. Sie wusste nicht, was sie ihm antworten sollte.

»Stört es dich nicht, dass du seine dreimillionste Nummer – oder bei welchem Stand er sich derzeit befindet – bist? Hast du es nötig, dich mit einem verheirateten Frauenhelden wie ihm abzugeben?«

Catin grinste verlegen. Wie kam sie zum Ausgangsthema zurück?

»Enomina war deine Freundin!«, platzte sie heraus und ärgerte sich. Ihren im Vorfeld zurecht gelegten Redeaufbau konnte sie damit vergessen.

Langsam und lautstark atmete Eorthor aus, um genauso geräuschvoll einzuatmen.

»Du hast Enomina verstoßen.« Catin bekam wieder Mut. Gegen Eorthor musste man aufs Ganze gehen und zur Sache kommen. Langes Gerede brachte nichts.

»Verstoßen?« Eorthor öffnete die Augen und lachte laut. »Steht das wirklich so in den offiziellen Quellen? Ist das nicht etwas zu … hm … nah am Betrachter? Zu subjektiv für eine Geschichtsaussage?« Kurz schien er in Gedanken zu kramen. »Nach ein paar tausend Jahren hatten wir unterschiedliche Auffassungen vom Funktionieren einer Beziehung.«

»Das Holo war persönlicher, oder?«

»Dieser Planet war einmal unser … Rückzugsort.«

Sie verstand.

»Damals gab es noch keine Einheimischen, die Buchten waren frei von Ölverschmutzung, das Wasser türkisblau und die Luft smogfrei.«

»Und die Liebe vorhanden.«

Catin hätte sich am liebsten für diese Bemerkung geohrfeigt. Sie war ihr herausgerutscht und jetzt war es zu spät. Wortlos legte sich Eorthor auf die Liege, stemmte ein paar Gewichte und sprang dann auf. Catin trat einen Schritt zurück. Eorthors Haltung jagte ihr Angst ein. Seine Schultern waren nach vorne geneigt, seine Hände zu Fäusten geballt und seine Nasenflügel gebläht. Bildete sie es sich ein oder ging sein Atem stoßweise?

»Ich habe mir soeben selbst gratuliert«, sagte er in einem Tonfall, dass es ihr kalt über den Rücken lief. Sie verdammte ihre Spontaneität. Irgendwann würde sie dafür büßen – auch wenn sie damit in ihrem vier Millionen Jahre zählenden Leben bis jetzt auf der sicheren Seite gewesen war. Würde diese Glückssträhne heute zu Ende sein?

Sie zuckte, als seine rechte Hand unerwartet nach vorne schoss und beruhigte sich sofort wieder. Eorthor hielt ihr die offene Handfläche hin.

»Du hast wohl gedacht, ich schlage dich«, kommentierte er ihre defensive Körperhaltung. »Keine Angst, Blondlocke, wenn ich das will, merkst du es erst, nachdem du aus der Bewusstlosigkeit aufgewacht bist.«

Er hatte recht. Nicht umsonst gehörte er zu dem kleinen Kreis der Personen, die das Symbol des Kriegers am rechten Oberarm eintätowiert hatten. Eorthor war der Meisterschüler von Shaojun, dem Obersten Kriegssprecher und Philosophen der Alysker. Alle zehntausend Jahre traten die Besten gegeneinander an, und Eorthor hatte jedes Duell für sich entschieden.

Zögernd ergriff sie seine Hand.

»Ich habe gewusst, warum ich dich ausgewählt habe! Du erhältst den Abschiedsbrief im Original. Vielleicht findest du meine Exfreundin damit schneller!«, sagte er, ließ ihre Hand los und ging an ihr vorbei in Richtung Ausgang.

»Eorthor«, rief sie und er blieb tatsächlich stehen und drehte sich um. »Was machst du, wenn wir sie gefunden haben?«

Anstelle einer Antwort grinste Eorthor sie kurz an und verließ den Fitnessraum. Catin fröstelte. Sie wollte nicht in Enominas Haut stecken.

*

»Wenn ihr hier vor die Hunde gehen wollt, gerne! Ich werde es nicht!« Viscount blickte den beiden Frauen entgegen. Catin glaubte in seinen Augen so etwas wie Kampfeslust zu bemerken. »Wir sind neunundzwanzig Tage von Alysk getrennt und suchen nach dieser verdammten Bombe. Uns bleiben zwölf Stunden, bevor wir uns alle in mordlüsterne Ylors verwandeln! Acht benötigen wir zum Rückflug nach Alysk, bleiben also vier!«

Sie saßen in einem der Konferenzräume, während Eorthor schlief. Zumindest hatte das der Rechner auf eine entsprechende Frage geantwortet.

»Was willst du tun? Meutern?« Catin sah Viscount neugierig an.

»Irgendetwas, das uns nach Hause bringt!«

»Und das wäre?«, mischte sich auch Xaria in das Gespräch ein. »Dass wir etwas unternehmen müssen, steht außer Zweifel. Eorthor macht keine Anstalten, nach Alysk zurückzukehren, obwohl auch er von der Verwandlung in einen Ylors betroffen wäre!«

»Versuchen wir unser Wissen zusammenzufassen …«

»Ein ehemaliger Kampfpilot und Bombenspezialist, eine Psychologin und eine Hyperphysikerin. Und alle drei wurden von Eorthor persönlich ausgewählt und angefordert, um bei dieser Rettung von drei Galaxien mitzuhelfen. Bis jetzt jedoch erfolglos! Was sagt uns das?« Viscount setzte zu einer Kunstpause an. »Wir sitzen in der Svartis! Alle!«

»Wenn mich das Reisebüro nicht vermittelt hätte …«, kommentierte Xaria.

»Hä?«

»Insiderwitz!«

»Bitte nur konstruktive Vorschläge!«, schränkte Viscount lächelnd ein. Wenigstens hatte er seinen Galgenhumor nicht verloren. Catin wertete das als gutes Zeichen. Viscounts polterndes Auftreten täuschte gewaltig. Er dachte nach, bevor er handelte.

»Was ich nicht verstehe, ist, warum die Bombe nicht gezündet hat! Wäre ich Enomina, hätte ich sie entweder vor meiner Verwandlung in eine Ylors hochgejagt oder knapp danach.«

»Fehlzündung?«, warf Xaria ein.

»Wenig wahrscheinlich. Obwohl sie keine so brillante Wissenschaftlerin wie Eorthor ist, ihren Selbstmord wird sie schon sorgsam geplant haben. Selbst, wenn sie zu dem Zeitpunkt bereits verwirrt war.«

»Orientieren wir uns an Eorthors Verhalten«, meldete sich Catin zu Wort. »Ich beobachte ihn seit unserer Konferenz. Er ist – so wie du, Viscount – fünfzig Millionen Jahre alt. Und da er den Auftrag angenommen hat, hängt er genauso am Leben wie wir alle!«

»Vor allem, da es der erste offizielle Auftrag ist, den Eorthor für sein Volk erledigt!«

»Da wertest du seine Beweggründe falsch, Xaria. Glaub mir, es gibt keinen egoistischeren Alysker als Eorthor. Wenn ich daran denke, wie er sich nach der Katastrophe aufgeführt hat …« Viscount schüttelte den Kopf. Catin erinnerte sich an die Geschichtsaufzeichnungen. Eorthor war einfach widerlich gewesen. Arrogant, überheblich und egozentrisch. Und er hatte sich nicht geändert.

»Wir haben noch nicht geklärt, warum er so ruhig auf den Ablauf der Frist reagiert?«

»Möglicherweise aus demselben Grund, warum wir keine mordende Enomina in den Nachrichten des Planeten finden!«

»Weil es sie nicht gibt?«, führte Xaria den Gedanken von Catin zu Ende.

»Es müsste sie aber geben«, erinnerte Viscount und nippte an seinem Getränk. »Andererseits ist es bei der hohen Mordrate auf Pohps unmöglich, einen mordenden Ylors herauszufiltern.«

Nach Ablauf von Enominas Frist hatten sie sich in den Funksprüchen der Polizei auf ungewöhnliche Morde konzentriert. Nach einer Woche hatten sie frustriert aufgegeben, da sie Pohpers als Täter der abartigsten Delikte identifiziert hatten. Zum Beispiel goss ein Pohper Säure in die Schädel seiner Opfer, um ihnen auf diese Weise das Böse auszutreiben. Ein anderer zerstückelte die Leichen und aß sie auf.

»Was, wenn es die Dreißig-Tage-Frist der Kosmokraten nicht mehr gibt? Was, wenn sie nur ein temporäres Phänomen war?«

»Und Eorthor um dieses Faktum weiß.«

»Warum sollte es keine Frist mehr geben?«

»Gegenfrage, Viscount: Wann war der letzte Ylors-Fall?«

»Kunststück! Seit wir davon wissen, passt jeder höllisch auf, innerhalb von vier Wochen nach Alysk zurückzukehren!«

»Übertriebene Vorsicht schadet manchmal auch!«

»Um ehrlich zu sein, ich habe keine Lust, Versuchskaninchen zu spielen und festzustellen, dass du unrecht hattest!«, antwortete er.

Catin erwiderte sein Lächeln.

»Worauf wartet Eorthor?«, fragte Xaria ihre beiden Gefährten.

Sie spielte auf etwas an, das Eorthor kurz nach Ablauf von Enominas Frist in der Zentrale gesagt hatte. Auf Fragen nach dem Grund hatte er nicht geantwortet. Sie mussten sich mit seinem einfachen »Wir warten« begnügen.

»Wer kann das wissen?« Catin zuckte mit den Achseln.

»Genug gelabert! Ich wecke Eorthor und frage ihn direkt. Alles andere ist Zeitverschwendung!« Viscount sprang auf. »Kommt ihr mit?«

Xaria erhob sich und Catin folgte ihr. Hintereinander überwanden sie die zwei Ebenen zu den Schlafräumen.

»Öffne die Tür! Es ist wichtig!«, verlangte Viscount vom Zentralrechner, der ihm gehorchte.

Durch das Halbdunkel erkannte Catin, dass Eorthor sie offenbar erwartet hatte. Er saß auf dem Bett, in jener Meditationspose, die er schon im Fitnessraum eingenommen hatte. »Ich habe euch früher erwartet!«, sagte er und überraschte sie damit. »Habt ihr schon Angst, dass ihr euch in Ylors verwandelt?«

Seine Stimme löste in ihr erneut diese Gänsehaut aus. Sie fröstelte.

»Uns bleiben noch elf Stunden bis zur Ablauf der Frist! Machen wir uns auf den Heimflug!«, schleuderte ihm Viscount entgegen.

»Ist es nicht egal, wo du stirbst? Hier kannst du wenigstens noch versuchen, den Schaden für dein Volk abzuwenden, selbst wenn du dabei umkommst!«

Keiner wusste darauf eine Antwort.

»Fragt euch, wie sehr ihr euer Volk liebt. Fragt euch, ob ihr für euer Volk sterben würdet!« Eorthor stand vom Bett auf, als das Licht anging.

Jetzt erst sah Catin, dass er nackt war. Ihr Bemühen, ihm nur ins Gesicht zu sehen, blieb erfolglos. Sie schluckte.

Eorthor ging an ihnen vorbei – leicht wippend –, öffnete eine kleine Kiste und drehte sich zu ihnen um.

»Hier! Fangt!«

Kleine Phiolen flogen durch die Luft. Fast hätte Catin ihre nicht gefangen.

»Nehmt es, dann verdoppelt sich die Frist. Und jetzt lasst mich schlafen!«

Alle drei marschierten wortlos aus der Kabine.

*

Enomina lehnte gegen eine Palme und blickte in Richtung der untergehenden Sonne. Ihre schwarzen Haare wehten im Wind, genau wie die Palmenblätter über ihr. Sie trug eine schlichte Kombination, die ihre Figur betonte. Eorthor fragte sich, ob sie an ihre erste gemeinsame Nacht in dieser Bucht dachte. Die Sonne hing genauso blutrot strahlend über dem türkisblauen Meer wie damals. Auch der blütenweiße Sand hatte sich nicht geändert, was ihn nicht wunderte. Fünfzig Millionen Jahre bedeuteten nichts in einer Planetengeschichte.

Enomina grub mit dem rechten Fuß im Sand und warf ihn in unregelmäßigen Abständen in die Höhe. Zumindest erkannte Eorthor keinen Rhythmus. Er deaktivierte den Tarnschirm. Für sie musste es aussehen, als schäle er sich aus der Luft.

Sie kniff die Augen zusammen, als glaube sie an eine Fata Morgana, doch dann akzeptierte sie offenbar seine Echtheit, da sie sich von dem Baumstamm löste.

»Eorthor!«, rief sie und kam ein paar Schritte auf ihn zu.

Er sah sie nur an und bewegte sich nicht.

»Eorthor!«, wiederholte sie. »Der Fluch … er ist vorbei!«

Er seufzte. Ihre Leichtgläubigkeit und ihr allzu schnelles Urteil über bestimmte Situationen hatte ihren Geist immer schon begrenzt.

»Und die Bombe hat auch – wie durch ein Wunder – nicht gezündet!«, ätzte er.

Sie blieb stehen und stierte ihn an.

»Hast du etwa …«

»Sieh dir das alles an!«, rief er und drehte sich einmal im Kreis. »Alles hier ist veränderbar, alles beeinflussbar. Ein brillanter Geist kann neue Pflanzen erschaffen, Welten umformen, Sonnen vernichten, Energie aus dem Weltall abzapfen und damit Teile des Alls zerstören. Man benötigt dazu nur Intelligenz, den unbeugsamen Willen, niemals aufzugeben, und den Mut, Grenzen zu überschreiten.«

Sie nickte langsam. Ob sie auch verstand, was er meinte, bezweifelte er.

»Ich, Enomina, bin so ein brillanter Geist! Ein einziges Mal habe ich mich den Gesetzen gebeugt und wir beide wissen, was danach passiert ist. Damals habe ich mir geschworen, mich nie wieder aufhalten zu lassen. Weder von meinem Volk noch von irgendwelchen anderen Mächten. Selbst von den Kosmokraten nicht! Und schon gar nicht von so einer verfluchten Nutte wie dir!«

Ihr starrer Blick irritierte ihn.

»Und ich entscheide, wann ich meinem Leben und dem meines Volkes ein Ende setze!«

»Aus dir spricht der Hass!«, sagte sie leise und kam einen weiteren Schritt näher. Jetzt waren ihre Augen klar. Er wich nicht zurück.

»Ich hasse dich nicht! Denn Hass bedeutet negative Emotionen und ich habe keine Gefühle für Personen, die mir nichts bedeuten. Enomina, ich sehe dich an und fühle nichts. Du gehörst zu meinen Erinnerungen und ich habe durch dein Fehlverhalten gelernt, mit meinen Gefühlen umzugehen. Ich habe gelernt, hinter die Fassade der Leute zu sehen und ihnen die Maske herunterzureißen.«

»Du hast mir immer noch nicht verziehen!«

»Es gibt nichts zu verzeihen! Ich habe deinen Vertrauensmissbrauch zur Kenntnis genommen und meine Gefühle für dich getötet. Und danach warst du kein Teil meines Lebens mehr! Selbst diesen Auftrag habe ich nur angenommen, weil ich mich für die Bombe interessiert habe.«

»Ich habe ein Problem gelöst, an dem du gescheitert bist!«

Eorthor schloss für eine Sekunde die Augenlider.

»Oh, ich neige mein Haupt in Demut vor dir! Wie lange hast du benötigt, um die Lösung zu finden?«

»Einen Monat!« Deutlich hörte er den Stolz, der in ihrer Stimme mitschwang.

»In Gedanken knie ich vor dir! Nachdem mir mein Vater von deinen Todesabsichten erzählt hat, habe ich mir die Unterlagen herausgesucht und hatte die Lösung in fünfzehn Minuten. Und sie war nicht so umständlich wie deine. Abgesehen davon, dass meine Bombenvariante einen Wirkungsbereich von zwanzig Millionen Lichtjahren hat.«

»Wenn wir dich, das Jahrmillionengenie, nicht hätten!«

Eorthor musste lachen! »Du bist ironisch? Ausgerechnet du, die von mir am meisten profitiert hat? Ich habe dir stets geholfen und deine Fehler ausgebessert. Aber du hast mich im Stich gelassen, mich nicht unterstützt und dich auf das eine Jahr, das du älter bist, herausgeredet! Und als wäre das alles nicht genug, hast du mich dann auch noch betrogen!«

»Du hast mich eingeengt!«

»Weil ich auf Vertrauen gepocht habe? Weil ich dich gebeten habe, mich nicht zu verletzen? Weil …«

Eorthor stockte mitten im Satz und sah auf das Chronometer.

»Ich beende dieses sinnlose Wortgeplänkel, da du ohnehin nicht genügend Zeit hast, es zu Ende zu führen.«

Sie verstand ihn nicht.

»Ich lasse dir nämlich die Freude, doch noch zu einem Ylors zu werden!«

»Du hast mir zuerst nicht zugehört! Der Fluch existiert nicht mehr! Ich habe mich nicht verwandelt, obwohl ich vor knapp zwei Monaten von Alysk abgeflogen bin!«

Eorthor lachte und näherte sich ihr. »Ohne mich, mein Schatz, wärst du schon längst ein Ylors!« Der gefährliche Unterton in seiner Stimme ließ sie einen Schritt zurücktreten. »Knapp vor unserer … nennen wir es Meinungsverschiedenheit … habe ich dir ein Serum injiziert, das die Zeit verlängert, die du von Alysk fernbleiben kannst!«

»Du hast …« Die Falten auf ihrer Stirn zeigten ihm, dass es dahinter arbeitete. Vermutlich überlegte sie, welche Chancen ihr die letzten fünfzig Millionen Jahre entgangen waren, weil sie nichts davon gewusst hatte.

»Warum hast du es mir nicht gesagt?«

»Es gab in jener Zeit bedeutendere Themen zwischen uns als meine wissenschaftlichen Erfolge. Abgesehen davon hast du mich just an dem Tag betrogen, als ich dir davon erzählen wollte.«

Sie schwieg und hing offenbar ihren Gedanken nach.

»Weißt du, was ich an dieser Bucht immer geliebt habe?«, fragte er sie und drehte sich um.

»Mich?«

Ihre Antwort ignorierend ging er zum Wasser und sah gleichzeitig in die bereits halbuntergegangene Sonne. Er kniete nieder und schlug mit der flachen Hand ein paar Mal gegen das Wasser, das seine Schuhe umspielte. Er wandte sich um.

»Das Rot der Sonne kontrastiert so schön mit dem Türkis des Meeres. Es sieht so aus, als würde jeden Augenblick etwas Dramatisches passieren.« Nach einer kurzen Kontrolle der verbleibenden Zeit, fuhr er fort. »Bald ist es so weit!«

Enomina antwortete nicht, sondern starrte ihn nur an.

»In exakt … warte …«, wieder folgte ein Blick auf das Chronometer, »zwei Minuten und zehn Sekunden läuft deine Frist ab!«

»Welche Frist?«

»Meine Blume …«

»Nenn mich nicht so!«, brüllte sie.

»… meine Blume, du hast mir nicht zugehört.« Eorthors Stimme troff voll Zynismus. »Ich sagte, ich habe dir etwas injiziert, das die Frist verlängert. Von Aufheben war keine Rede. Ich könnte zwar auch das, aber ich glaube an die Selbstbestimmung des Individuums!«

Sie verstand, was er meinte. Er erkannte es an ihrer verkrampften und eingesunkenen Körperhaltung.

»Wie gewonnen, so zerronnen! Es ist nicht schön, enttäuscht zu werden. Ich darf mich selbst zitieren: Alles ist nur eine Frage der Erwartungshaltung!« Erneut sah er auf die Uhr. »Noch eine Minute. Hast du dir schon ausgemalt, wie die Veränderung im Inneren vor sich geht? Ich meine, wir kennen alle die Bilder der Alysker, die sich zu Ylors verwandeln. Äußerlich werden nur die Gesichter zu Fratzen. Wie mag es wohl in der Psyche sein …?«

Eorthor warf mit der rechten Schuhspitze Sand in die Luft, um ihn dann spielerisch wegzukicken.

»Ein wenig beneide ich dich um diese Erfahrung, meine Blume. In dreißig Sekunden weißt du mehr als ich. Daher ist es mir ein Vergnügen, jemanden kennenzulernen, der mehr weiß als ich!«

»Eorthor, wie kannst du nur so …«

»… gefühllos sein?« Er lächelte. »Erinnerst du dich, was ich dir am Beginn unserer Partnerschaft gesagt habe?« Da sie nicht antwortete, fuhr er fort: »Enomina, habe ich gesagt, Enomina, einmal kannst du mich verarschen. Ein zweites Mal wirst du dir wünschen, nie geboren worden zu sein – irgendwann. Dieser Tag ist nun gekommen. Aber du wolltest ohnehin sterben. Also tu es!«

Im Geiste zählte er die Sekunden herunter.

»Übrigens: Du hast dich in deinem Abschiedsbrief getäuscht!«

Sie blickte ihn mit großen Augen an.

»Ich habe nicht gelächelt!« sagte er, eine Sekunde bevor ihre Zeit abgelaufen war. Er machte sich bereit und betrachtete jede ihrer Bewegungen. Sie keuchte, als sich ihre Gesichtszüge zu verändern begannen. Ihre Finger krallten sich um einen imaginären Gegenstand. Sie wankte zwei Schritte vorwärts, stoppte, fiel beinahe zu Boden und stieß einen Schrei aus, der die Vögel aufschreckte. Sich laut beschwerend stiegen sie in die Luft und kreisten über der Bucht. Enomina schrie erneut auf, zerriss gleichzeitig das Oberteil ihrer Kombination und wankte weiter vorwärts. Eineinhalb Meter vor Eorthor blieb sie stehen, richtete sich auf und sah ihn gehetzt an. Als er den Wahnsinn in ihren Augen erkannte, prüfte er seine Gefühle.

Nichts.

Gerade noch rechtzeitig schoss seine Faust nach vorne, als sie auf ihn zusprang. Es knackte, als er ihren Kehlkopf traf und ihn brach. Enomina fiel nach hinten und schlug mit dem Rücken auf dem Boden auf. Sie röchelte.

Eorthor spürte kein Verlangen, sich zu ihr hinab zu beugen. Er senkte nur seinen Arm und betrachtete seine ehemalige große Liebe. Im letzten Röcheln glaubte er seinen Namen zu hören. Dann schloss sie die Augen. Für immer.

Damals … vor 100 Millionen Jahren

»Eorthor, ich danke dir, dass du mich so kurzfristig empfängst!«

»Shifu Shaojun, es tut mir leid, dass ich dir nicht die volle Aufmerksamkeit bieten kann. Aber ich habe in dieses Experiment vierhundert Jahre Vorbereitungzeit gesteckt.«

»Bitte, Eorthor, es beschämt mich, wenn du mich Meister nennst!« Freundschaftlich tätschelte ihm Shaojun, der Oberste Kriegssprecher und Philosoph der Alysker den Rücken. »Du bist mir gleichwertig, wenn nicht sogar überlegen.«

»Meister, ich werde nie dein Niveau erreichen«, entgegnete er, während er den Versuchsablauf im Auge behielt. Im Hologramm, welches das Experiment verzögerungsfrei und in Echtfarben wiedergab, entfaltete die Sextadimenergie ihre Wirkung. »Möchtest du etwas trinken? Der Servoroboter bringt es dir!«

Shaojun machte mit der Hand ein Zeichen der Dankbarkeit. Deutlich spürte Eorthor, dass ihn etwas bedrückte. Er musste seinen ehemaligen Meister dafür nicht einmal ansehen. Das Vital-Energiefeld, das den drahtigen Mann umgab, war anders als sonst.

»Was führt dich zu mir?«, fragte Eorthor. »Deine Stimme enthielt im Holo Anzeichen von Sorge und Trauer.«

»Das Volk der Alysker musste heute einen schweren Verlust hinnehmen!« Shaojun seufzte deutlich hörbar. Sogar seine sowieso tiefe Stimme klang noch tiefer als sonst.

So hatte ihn Eorthor zuletzt erlebt, als die einzelverwahrten Ylors überraschend an einer Seuche gestorben waren. Trotz ihrer Mordlüsternheit hatte Shaojun in ihnen Alysker gesehen und sie betrauert, ganz im Gegensatz zu Eorthor. Er selbst hatte ihren Tod immer begrüßt.

»Es betrifft auch dich, Eorthor!«

In letzter Sekunde unterdrückte Eorthor ein Lachen. Es wäre seinem Lehrmeister gegenüber unhöflich gewesen.

Warum er Shaojun immer noch so viel Respekt entgegenbrachte? Gut, der Mann war eine Art Vater für ihn gewesen. Während Eorthor seinen eigenen Vater, Nargul, von Kindesbeinen an manipulieren und um den Finger wickeln konnte, hatte er sich Shaojuns Respekt erst verdienen müssen.

»Dein Vater ist gestorben!«

Eorthors Schmerz verebbte so schnell, wie er gekommen war. Er hatte Unausweichliches schon immer rasch akzeptiert. Das zeichnete ihn aus. Während andere noch Trübsal bliesen, löste er bereits das nächste Problem.

»Wie stirbt ein Unsterblicher, der nicht sterben kann – weder durch sich selbst noch durch einen anderen Alysker?«

Die Kosmokraten hatten den Alyskern nicht nur die Unsterblichkeit geschenkt. Kein Alysker konnte Selbstmord begehen oder einen anderen Alysker ermorden. Einige Alysker, die nach Millionen von Jahren ihres Lebens überdrüssig waren, mussten am eigenen Leib erfahren, dass sie eine unüberwindbare Hemmschwelle besaßen.

»Es war ein Unfall!«

»Ein Unfall. Aha!« Dank der Kosmokraten starb man auf Alysk nur durch Unfälle. Es gab keinen anderen Weg.

Eorthor konzentrierte sich auf die letzten Sekunden des Experiments, das so verlief, wie er es sich vorgestellt hatte. Er rieb sich die Hände, deaktivierte das Hologramm und wandte sich Shaojun zu. Der Meister, in der Sprache der Ahnen Shifu genannt, trug seine blütenweiße Kombination. Am rechten Oberarm prangte das Symbol des Kriegers, ansonsten war sie schmucklos. Eorthor wusste, dass Shaojun es auch am Arm tätowiert hatte. So wie er selbst auch. Die typischen langen Haare der Alysker trug er zu einem Zopf geflochten, der ihm über die rechte Schulter hing. In seinen blauen Augen lag Trauer.

»Lass uns etwas trinken! Zu Ehren meines Vaters, des großen Mannes der Alysker!«

Shaojun zeigte nicht, ob er über die emotionslose Reaktion verwundert war. Sie gingen aus dem Labor, folgten mehreren Korridoren und gelangten in einen luxuriös ausgestatteten Freizeitraum.

»Foladischen Mortog?«

Shaojun nickte und stellte sich an die Panoramascheibe, von der aus man auf Alysk hinuntersah. Eorthors Forschungsstation befand sich auf Smis, dem größten Mond von Alysk. Niemand wusste, welche Experimente Eorthor dort ausführte. Niemand kannte den Aufbau der Station. Er hatte die Pläne dafür selbst entworfen, die Bauroboter eigenhändig programmiert und danach alle Aufzeichnungen gelöscht. Im Volksmund nannten sie Smis auch den unheimlichen Mond. Eorthor störte sich nicht daran. Im Gegenteil: Er fand es nützlich, sich den Ruf des exzentrischen Wissenschaftlers erworben zu haben. So hielten sich die Alysker von ihm fern und er hatte seine Ruhe.

Er trat zu seinem alten Lehrmeister, schüttelte das Glas, um die Eiskugeln zum Klirren zu bringen und blickte ebenfalls auf Alysk hinab. Smis zog gerade über den Südkontinent hinweg. An den dicht verzweigten Lichtflecken erkannte man die großen Städte, in denen man sich nicht um die Nacht kümmerte.

»Auf Nargul, den Obersten Ratssprecher der Alysker!«, sagte Eorthor und hob sein Glas.

»Auf deinen Vater«, antwortete Shaojun und berührte leicht das Glas seines ehemaligen Schülers.

Während Shaojun nur kurz an der hellvioletten Flüssigkeit nippte, leerte Eorthor das Glas in einem Zug.

»Ich habe dir etwas mitgebracht!«, sagte Shaojun und öffnete eine Hyperraumblase. Jeder Alysker nutzte diese uralte Technik zur Aufbewahrung und zum Transport von Gegenständen.

»Es ist mir eine Ehre, dir im Namen deines Vaters das Asukal, den Sternenbewahrer, zu überreichen!«

Eorthor nahm das Schwert in die Hände und zog es aus der Scheide. Der goldene Farbton zeigte ihm, dass die Klinge mit Carit überzogen war. Mit ihm hatte Nargul vor Jahrmillionen gegen den Chaotarchen SAMORGH gekämpft und das Experiment erst ermöglicht.

Eorthor verneigte sich vor Shaojun und legte das Schwert auf den Glastisch. Er würde es später zu den anderen Schwertern geben.

»Du weißt, was nach dem Tod deines Vaters auf dich zukommt?«

Eorthor verbarg seine Verwunderung nicht. Er neigte seinen Kopf vor Shaojun und kniff die Augenbrauen zusammen.

»Eorthor! Bitte!« Shaojun hob verzweifelt die Arme. Die Eiskugeln in seinem Glas stießen aneinander und erzeugten mehrere helle Töne. »Auch wenn du dich mit Unwichtigkeiten wie Regeln unseres Volkes nie lange aufgehalten hast, so solltest du wissen, wer dem Obersten Ratssprecher nachfolgt!«

Während Eorthor versuchte, die Nachfolgeregel aus dem Gedächtnis zu kramen, ließ er sich auf die Couch fallen und lehnte seinen Rücken an die Seitenlehne. »Hilf mir!«, forderte er feixend seinen ehemaligen Lehrmeister auf. Er genoss die wenigen Momente, in denen er Shaojun ärgern konnte.

»Nach unseren Gesetzen wird der Oberste Wissenschaftssprecher automatisch zum Obersten Ratssprecher. Also du, Eorthor!«

Eorthor war – zum dritten Mal in seinem langen Leben – sprachlos. Er starrte Shaojun an als wäre er ein Ylors.

»Das … das … ist jetzt nicht dein Ernst, oder?«

Anstelle einer Antwort nippte Shaojun an seinem Mortog.

»Es ist dein Ernst«, sagte Eorthor und sprang auf. Er brauchte Bewegung. »Was ist mit der Wahl?«

»Die ist pro forma!«

»Dieses Gesetz ist hundert … ach was zig Millionen Jahre alt. Warum leben wir nach so altertümlichen Regeln?«, fragte Eorthor, als er an der anderen Seite des Zimmers angekommen war. Er marschierte erneut in Richtung Panoramascheibe.

»Weil sie sich bewährt haben«, antwortete Shaojun mit einem Schulterzucken. »Eorthor, du hast damals auf eben jene Gesetze gepocht, damit wir dich zum Obersten Wissenschaftssprecher küren. Es wird dir nichts anderes übrigbleiben, als nun diesem Gesetz zu folgen.«

»Und wenn ich zurücktrete?«

»Kein Rat kann von seinem Posten zurücktreten. Entweder man wird abgewählt oder man … nun, man stirbt.«

Eorthor trat gegen die Couch, fühlte sich dadurch aber nicht besser. »Es muss, svart noch mal, einen Ausweg geben! Shaojun, du kennst mich so gut wie kein anderer und weißt, dass ich mit diesem Verwaltungskram nicht umgehen kann. Warum glaubst du, habe ich mich zum Obersten Wissenschaftssprecher küren lassen? Eben, weil ich dann nicht mehr fragen musste. Als Oberster Wissenschaftssprecher konnte ich machen, was ich wollte!«

»Ich weiß«, sagte Shaojun mild. Er trank den Rest seines Mortogs und stellte das Glas auf den Tisch. »Du magst dich nicht für die Idealbesetzung halten und vermutlich hast du damit auch recht. Aber, Eorthor, du hast etwas, was dich seit Millionen von Jahren auszeichnet: Deinen unbeugsamen Willen, alles zu schaffen, was du dir vornimmst.«

Eorthor versetzte der Couch einen weiteren Tritt, während Shaojun auf ihn zu kam und ihm die Hände auf die Schultern legte. »Eorthor, du wirst auch diese Aufgabe meistern. Vertraue auf die Zuversicht deines alten Lehrers!«

Eorthor nickte automatisch, obwohl er nur halb zugehört hatte. Sein Geist suchte nach Wegen, dem Posten des Obersten Ratssprechers zu entgehen.

Es musste einen Ausweg geben!

Es gab immer einen!

Währenddessen löste Shaojun die Hände von Eorthors Schultern, wandte sich dem Ausgang zu und blieb davor stehen. »Ich habe mich um die Beerdigung deines Vaters gekümmert. Ich hoffe, es war in deinem Sinne!«

»Du weißt, wo Vater beerdigt werden wollte?«

»Neben seiner Robha.«

»Wann ist die Beisetzung?«

»Morgen, zehn Uhr Vormittag.«

Auf seinen innergalaktischen Reisen hatte Eorthor feststellen müssen, dass die meisten Völker eine Beerdigung als gesellschaftliches Ereignis zelebrierten. In langen Schlangen folgten Verwandte und Bekannte dem Sarg und geleiteten so den Verstorbenen zur letzten Ruhestätte. Gleichzeitig nahmen sie von dem Toten Abschied.

Die Alysker handhabten den Tod eines der ihren anders. Niemand begleitete den Sarg oder gruppierte sich um das Grab. Da die Alysker Friedhöfe mieden, wurden die Toten von Robotern beerdigt. Jeder Alysker trauerte individuell um den Verstorbenen und allein. Schon gar nicht gab es nach einem Begräbnis Mahlzeiten. Leichenschmaus hatte es eines der Völker in der Galaxis genannt. Eorthor verdrängte den Gedanken an diesen seltsamen Brauch.

»Wie ist er gestorben?«

Shaojun sah kurz an ihm vorbei und richtete dann den Blick wieder auf seinen ehemaligen Schüler.

»Ein Überschlagsblitz.«

Vater hatte gelegentlich riskante Experimente durchgeführt. Die Wahrscheinlichkeit sprach dagegen, dass immer alles glatt verlief. Und die Wahrscheinlichkeit siegte am Ende immer.

»Danke, Meister Shaojun, dass du mir die Nachricht vom Tod meines Vaters überbracht hast.«

»Nichts zu danken, Meister Eorthor.«

Der alten Tradition der Kämpfer folgend, legten sie die Fäuste in vierzig Zentimeter Abstand vor der Brust aneinander und verneigten sich zum Abschied.

*

Er hasste es, hier zu stehen.

Inmitten all der Alysker, die ihn umgaben und die eine derart feierliche Stimmung verbreiteten, dass ihm schlecht wurde.

Am meisten hasste er sich selbst, weil er keine Lösung gefunden hatte, dem Amt des Obersten Ratssprechers zu entgehen.

Zuerst hatte er vergeblich meditiert, dann getobt und sich zuletzt die Fäuste am Sandsack blutig geschlagen.

Es hatte alles nichts genützt.

Also war er heute auf den Zushan, den Berg der Ahnen, hinaufgestiegen – mit nichts anderem bekleidet als einem togaähnlichen Gewand, wie vor ihm alle Könige, Präsidenten und schließlich die Ratssprecher. Da die Wetterkontrolle Sommertemperaturen von an die neunundzwanzig Grad vorhergesagt hatte, war er bereits zeitig am Morgen losmarschiert. Sehr zum Ärger der anderen Ratssprecher. Ihren Aussagen zu Folge war es Brauch, den Berg der Ahnen exakt um Mittag zu besteigen.

Damit stießen sie bei Eorthor auf taube Ohren. Er hatte sich mit den Ratsgesetzen auseinandergesetzt, sie studiert, sie zerpflückt und sie von allen Seiten beleuchtet. Er konnte sie zitieren.

Seine Ratskollegen hatten schnell gemerkt, dass die Gerüchte über ihn stimmten. Wer sich mit ihm anlegte, zog den Kürzeren. Vor allem, wenn Behauptungen unter Berufung auf obskure Bräuche aufgestellt wurden, die in keinem Ratsgesetz zu finden waren.

Wenn sie darauf bestanden, dass er das Oberhaupt von Alysk wurde, dann würde er sie in den Allerwertesten treten. Ganz nach dem Gesetz, versteht sich.

Er blickte hinab ins Tal.

Wenigstens war die Aussicht die Wanderung wert. Unter ihm lag Biyunhu, der See der grünen Jade, mit seinen kilometerlangen Stränden. Umschlossen war der größte Binnensee des Kontinents von einem Naturpark mit herrlichen Wäldern.

»Oh, großer Geist, der den Kosmos durchzieht und alle Lebewesen miteinander verbindet, wir stehen heute vor dir, um dich zu bitten, einen Mann aus unserer Mitte anzuerkennen. Stärke ihn, oh großer Geist, auf dass er dienen kann, seinem Volk dienen kann.«

Am liebsten wäre Eorthor dem Zeremonienmeister Enhil an die Gurgel gegangen. Aber er beherrschte sich. Er würde sich durch diese uralte, traditionelle Zeremonie quälen. Niemand hatte ihm erklären können, warum ein Volk von Wissenschaftlern eine Krönungszeremonie ihr eigen nannte, deren Ursprung mehrere hundert Millionen Jahre zurücklag. In einer Vergangenheit, in der die Alysker noch nichts vom kosmischen Kampf zwischen Kosmokraten und Chaotarchen wussten. Und auch nichts von dem großen Auftrag, an dem sie letztendlich gescheitert waren. Davon hatten jene Alysker nichts geahnt, die noch auf Pferden durch das Land zogen und Burgen erbauten.

Enhil hob den Schwertgurt vom Polster, schob die Toga beiseite und legte ihm den Gurt an. Die beiden spitzen Schwerter symbolisierten das Volk der Alysker und den Geist des Kosmos.

»Niemand kann von glücklicher Hand regieren, wenn er nicht seine Kraft aus dem Kosmos ableitet«, sprach Enhil den überlieferten Text.

Als erstes schaffe ich diesen Unsinn ab!

Der Wunsch war Vater des Gedankens. Die Krönungszeremonie bildete eines der zentralen Elemente der Ratsgesetze. Im Rat hätte sich niemals eine Mehrheit gefunden, um dieses Zeremoniell abzuändern, geschweige denn abzuschaffen.

Mach schon!

Wie im Gesetz vorgeschrieben, streckte Eorthor seine rechte Hand aus und Enhil steckte ihm den Ratsring an den Finger. Der Ring bezeichnete die Einheit des Ratssprechers mit seinem Volke und dem Kosmos. Als letztes der Insignien reichte ihm Enhil das goldene Zepter.

»Trage dies, um mit der Weisheit des Kosmos zu richten!«

Ich ramme dir das Ding gleich ins Herz!

Äußerlich blieb Eorthor ausdruckslos, so wie die Ratssprecher vor ihm. Er hatte sich jeden Ratssprecher, jeden Präsidenten und jeden König vor ihm angesehen, von dem es Aufzeichnungen gab. Keiner von ihnen hatte jemals gelächelt. Vermutlich lastete die Bürde des Amtes so schwer auf ihren Lippen.

Enhil ging zu dem Felsvorsprung, der wie ein Sprungbrett in den zwei Kilometer weit entfernten See wirkte und rief: »Es ist vollbracht. Es lebe unser Oberster Ratssprecher!«

Diesen Satz sprach er in alle vier Himmelsrichtungen. Als er zum Plateau zurückkehrte, wiederholten ihn alle anderen Ratssprecher.

Eorthor wartete, bis Enhil an ihm vorbeigegangen war und beschritt nun ebenfalls das Trampolin, wie er es für sich nannte. Langsam drehte er sich zu den Ratsmitgliedern um, die einen Halbkreis bildeten.

»Es lebe unser Volk!«, sagte er und schloss damit die Zeremonie ab. In einigen Gesichtern erkannte er Rührung. Er konnte es kaum glauben.

»Nimmt mir jetzt jemand diesen Mist ab!«

Alle Ratssprecher bis auf Shaojun erschraken. Sein Meister blickte ihm direkt in die Augen. Eorthor glaubte so etwas wie Tadel zu erkennen. Es war ihm egal. Die Gesetze sagten nichts darüber, wie der Oberste Ratssprecher nach der Zeremonie zu agieren hatte. Also machte er, was er wollte.

Da ihm keiner der Ratssprecher zu Hilfe kam, warf er das Zepter einfach in die Menge. Und siehe da, sie reagierten. Am eifrigsten Enhil, der das Zepter mit der einen und den Gürtel mit der anderen Hand auffing.

Was für Kleingeister, dachte Eorthor, stapfte an ihnen vorbei und ließ wie beiläufig den Schwertgurt fallen. Den Ring behielt er am Finger. Schließlich stand es so in den Gesetzen.

*

Eorthor betrachtete seine Fingernägel. Nach zwei Stunden voll sinnloser Vorträge hatte er keine Lust mehr, seine Langeweile zu verbergen. Die »Gesellschaft zur Verlangsamung der Zeit« feierte ihre fünfzigmillionenjährige Existenz und er als Oberster Ratssprecher hatte bei solchen Feierlichkeiten seine Aufwartung zu machen.

Zu Beginn seiner Amtszeit war er in schöner Regelmäßigkeit mit den Ratsmitgliedern wegen seines Repräsentationsverhaltens aneinandergeraten. Er lehnte es ab, seine kostbare Zeit mit Empfängen zu verschwenden. Überhaupt hatte er einiges geändert. Was sein Vater noch der Tradition zuliebe gemacht hatte, endete ausnahmslos mit seinem Amtsantritt.

Er orientierte sich ausschließlich an den Gesetzen und hatte mit seinen Verweisen darauf seine Ratskollegen mehrere Male zur Verzweiflung getrieben. Die Schreiduelle im Rathaus waren längst in die Geschichte der Alysker eingegangen und legendär. Einem Künstler hatten sie sogar als Grundlage für ein Theaterstück gedient.

Mittlerweile hatte man sich im Rathaus arrangiert. Man ließ ihm seine Freiräume für die Forschungen und im Gegenzug spielte er das Oberhaupt, so gut es ihm die Gesetze vorschrieben.

Und dazu gehörten leider auch solche Veranstaltungen.

»Wenn Widerspruchsfreiheit die minimale Bedingung ist, unter der Symbole passive Bedeutung annehmen, dann ist ihr Komplement, der Begriff der Vollständigkeit, die stärkstmögliche Bestätigung dieser passiven Bedeutung.«

Früher wäre er jedem, der solche Banalitäten in einem Vortrag zum Besten gab, an die Gurgel gegangen. Doch nach mehreren Jahrmillionen hatte er gelernt, Banalitäten zu ertragen. Diese Zeiten boten ihm gute Gelegenheiten, um zu meditieren. Allerdings genügten ihm hierfür zwei Stunden.

Eorthor betrachtete die unterhalb der Redetribüne sitzenden Festgäste. In den ersten zehn Reihen hatte sich die Prominenz aus Kultur und Wissenschaft versammelt, um den philosophischen Bemühungen der »Gesellschaft zur Verlangsamung der Zeit« zu huldigen.

Shaojun als Oberster Kriegssprecher und Philosoph saß neben Azim, dem Obersten Kultursprecher. Auch wenn Shaojun einen interessierten Gesichtsausdruck zur Schau stellte, erkannte Eorthor, dass der Meister meditierte. Sobald sich Eorthor konzentrierte, konnte er sehen, wie Shaojun die Energie in seinem Körper verdichtete, sie losließ und wieder zusammenzog.

Eorthors geschärfte Sinne zogen sich vom Meister zurück. Er wollte ihn nicht stören.

»Ich danke euch!«

Der Redner beendete seinen Vortrag und Eorthor schickte ein Stoßgebet in den Kosmos, während er pflichtbewusst applaudierte.

»Faszinierende Gedanken, nicht wahr«, flüsterte ihm Trazon, der Vorsitzende der Gesellschaft, ins Ohr. Eorthor stimmte kopfnickend zu. Es war Qual genug, dass er sich eine Laudatio einfallen hatte lassen müssen, um die Besonderheit der Feierlichkeit zu würdigen.

Ihm graute bereits jetzt vor dem Galadinner und dem dazugehörenden Smalltalk. Ein weiterer Wissenschaftler – laut Programm hieß er Pyrent – betrat die Bühne und stellte sich hinter das Rednerpult. Mit etwas Glück bot dieser Vortrag interessante Aspekte.

»Werte Festgäste«, begann Pyrent, während Eorthor einen Schluck aus seinem Glas nahm. »Ticken wir noch richtig?«

Fast hätte sich Eorthor ob der provokanten Aussage verschluckt. Er unterdrückte ein Räuspern und sah sich die Gesichter der Alysker im Saal an. Auch sie reagierten ähnlich verwundert.

»Man sollte meinen, dass ein Volk mit einer hundert Millionen Jahre alten Geschichte genügend Zeit hätte. Weit gefehlt. Selbst wir eilen … nein, hetzen durch die Zeiten. Die Beschleunigung dominiert längst Bereiche unseres Lebens, die es nicht dominieren sollte. Wir unterwerfen uns einem Beschleunigungsdruck, der sich gegen den Organismus richtet. Obwohl wir wissen, dass wir unseren Körper nicht gegen seine Eigenzeit schneller einstellen können.«

Pyrent schwieg, um Sekunden später fortzufahren: »Dabei ist die Zeit unschuldig! Nicht sie bringt uns an den Rand des Zusammenbruchs, sondern das Tempo ist der Sünder! Wir alle besitzen unsere eigenen Zeiterfahrungen. Wir alle haben erlebt, wie die Zeit dahinrast, wenn wir ein Experiment überwachen oder wie sie davonfliegt, wenn wir uns unseren Liebsten widmen. Und es ist eine Binsenweisheit, dass wir uns am besten ohne Zeitdruck regenerieren, indem wir die Uhr und die Termine ignorieren, die uns einengen. In diesen Momenten zählt der Augenblick, die Qualität und nicht die Quantität des Erlebten.«

Pyrent schwieg. Da Eorthor nur seinen Rücken sehen konnte, nahm er lediglich an, dass Pyrent seinen Blick über die Menge gleiten ließ.

»Überprüfen wir unsere eigenen verinnerlichten Geschwindigkeitsnormen und unsere Einstellung im Umgang mit der Zeit! Suchen wir unser individuelles Zeitmaß, um souverän Zeitregie zu führen. Denn eigene Zeitregie bedeutet gesteigerte Lebensqualität. Sobald wir externen Einflüssen die Regie über unsere Zeit überlassen, kommen wir permanent in Situationen, in denen wir sagen müssen, dass wir keine Zeit haben. In Wahrheit, liebe Festgäste, ist es exakt umgekehrt: Die Zeit hat uns!

Stellen wir uns diesem Beschleunigungsdruck entgegen und ziehen wir uns bewusst zurück! Suchen wir einen Ort, an dem wir uns besinnen und unser Tempo selbst bestimmen. Einen Ort, an dem wir Zeit verlieren können. Wo wir bewusst die Zeit fließen lassen, um dort zu unserer angeborenen Eigenzeit zurückzukehren.

Zeit ist nicht etwas, was ein Chronometer anzeigt: Zeit korreliert mit unserem Bewusstsein. Bereits unsere Ahnen haben diesem Umstand semantisch Rechnung getragen, in dem sie zwei Zeitbegriffe schufen: Zhuguan Shijian und Keguan Shijian.

Ersteres bezeichnet die äußere, immer gleichförmig verlaufende Zeit, die sogenannte exakte oder objektiv messbare Zeit. Ist man diesem Zeitbegriff unterworfen, so bedeutet es Fremdsteuerung!

Man funktioniert, eingebettet in die zu Verfügung gestellte Zeit und versucht alles darin zu komprimieren. Gefangene in diesem System kämpfen gegen Zeitmangel oder fühlen, dass die Zeit gegen sie kämpft.«

Wieder setzte Pyrent eine Kunstpause. Vermutlich um seinen Zuhörern Zeit zu geben. Eorthor fragte sich im Stillen, ob der Vortragende damit nicht genau jenen Beschleunigungsdruck erzeugte, gegen den er wetterte. Schaffte er mit diesem willkürlich gewählten Zeitintervall, den er zur Verarbeitung seiner These vorgab, nicht genau jenes Zeitgefängnis, das er verteufelte?

»In dem Begriff Keguan Shijian, werte Festgäste, manifestiert sich die ungleich ablaufende, innere oder subjektive Zeit, die auf der Gefühlsebene entsteht. Dort versucht jeder Organismus das angemessene, richtige Zeitmaß zu finden. Jenen organischen Rhythmus von Ruhe und Aktivität, der bewusst geplante Ruhezeiten enthält. Diese Individuen leben in der Zeit und haben auch die Zeit, die sie benötigen. Sie arbeiten mit der Zeit, da sie sich exakt in ihrem Mittelpunkt befinden. Sie ruhen sozusagen in ihrer Eigenzeit!

Ich überlasse es jedem Einzelnen, darüber zu urteilen, in welcher der beiden Zeiten er sich Zeit seines Lebens befindet.

Wichtig ist mir, herauszustreichen dass wir beide Zeitauffassungen benötigen. Allerdings müssen wir sie in Balance halten und uns je nach Notwendigkeit für eine Zeitkomponente entscheiden. In unsere freie Zeit darf sich nicht die externe Zeit einschleichen. Dann hetzen wir selbst in unserer Freizeit von Termin zu Termin und verdrängen unsere Eigenzeit, wodurch Geist und Körper in letzter Konsequenz auseinanderdriften.

Wer also, und ich komme damit zur zentralen Aussage dieser Rede, wer also seine Eigenzeit leben und erleben will, muss die volle Verantwortung für seine Zeit übernehmen, muss den Zeitgenuss des Keguan Shijian über die unabänderlichen Zwänge des Zhuguan Shijian stellen und beide sinnvoll in sein Leben integrieren.«

Er hielt kurz inne.

»Wer bei der Suche nach seiner individuellen Zeit fündig wird, wird nicht unbedingt andere Dinge tun. Er wird sie anders tun als am Beginn seiner Suche. Er wird den Weg der Langsamkeit beschreiten, dort wo er angebracht ist und ihn alsbald zu schätzen wissen. Er wird einen Zeit-Individualismus entwickeln, der zu einem wesentlichen, wenn nicht sogar zum zentralen Element der eigenen Lebensqualität wird. Und er wird letztendlich eine Immunantwort gegen die überall in mannigfaltigen Verkleidungen lauernden Zwänge entwickeln, die sich am besten mit folgendem Satz zusammenfassen lassen: Leben Sie schneller, dann sind Sie früher fertig! Und er wird den Zwängen mit vollster Überzeugung entgegentreten und sie durch seine innere Einstellung beschämen und letztendlich vertreiben!

Zum Abschluss möchte ich noch ein Lebensmotto in den Raum werfen und hoffe, dass es alle annehmen: Leben wir die langsame Zeit!

Danke!«

Pyrent nahm seine Redeunterlagen und trat einen Schritt zurück, während im Saal der Applaus einsetzte. Eorthor klatschte ebenfalls in die Hände und dachte an einen zentralen Punkt der Vereinsstatuten: Die Mitglieder der Gesellschaft zur Verlangsamung der Zeit verpflichten sich zum Innehalten, zur Aufforderung zum Nachdenken dort, wo blinder Aktivismus und partikulares Interesse Scheinlösungen produziert.

Pyrent trat vom Rednerpult zurück, verharrte, wankte und brach zusammen. Für einen Moment schienen alle Personen im Saal den Worten von Pyrent Folge zu leisten: Sie verlangsamten die Zeitzwänge, suchten ihre Eigenzeit, fanden sie und reagierten auf den Zusammenbruch von Pyrent. Einige reckten die Hälse, andere sprangen aus den Sesseln auf und der Rest sorgte für das unvermeidliche Gemurmel im Saal.

Trazon lief zu Pyrent. Alysker links und rechts von ihm folgten seinem Beispiel. Eorthor selbst erhob sich langsam. Er nahm sich an Pyrents Worten ein Beispiel und agierte in seiner Eigenzeit. Was sollte Pyrent schon Großartiges passiert sein? Mehr als ein Schwächeanfall konnte es nicht sein. Im schlimmsten oder im besten Fall hatte er seine Zeit sosehr verlangsamt, dass er sich nicht mehr auf den Beinen halten konnte.

»Pyrent ist tot!«

Dieser Satz, von Trazon hektisch ausgestoßen, verwandelte die Halle in einen Ort des Chaos. Eorthor entdeckte den einzig positiven Aspekt: Das Galadinner samt Smalltalk war abgesagt.

*

»Du hast das autorisiert?«

In der tiefen Stimme des hageren Alyskers schwang ein scharfer Unterton mit. Er war es gewohnt, Befehle zu geben. Eine Frage aus seinem Mund duldete in der Beantwortung keinen Aufschub.

Der klein gewachsene Mann mit den neumodisch weiß gefärbten Haaren vor ihm, ebenfalls ein Alysker, zuckte zusammen und senkte den Blick.

»Es war vor achthundert Jahren, Shifu!«

»Nenn mich nicht so!« Mit einer kaum wahrnehmbaren Bewegung schlug er zu und brach ihm die Nase. Der wimmerte, taumelte und verdeckte sein Gesicht mit den Händen. Blut sickerte zwischen seinen Fingern hindurch und tropfte zu Boden.

»Bitte …«

»Hör auf zu flehen! Es ist eines Alyskers unwürdig!«, sagte Shaojun und neigte sich nach vorne. »Warum hast du die Richtlinien nicht beachtet?«

»Ich … ich weiß es nicht mehr!«, antwortete der Weißhaarige und trat einen Schritt zurück.

»Du erinnerst dich nicht mehr?« Mit zwei Schlägen schickte er den kleineren Mann zu Boden. »Was seid ihr nur für eine Generation?«, fragte er und trat in den Unterleib des anderen Alyskers. »Weißt du, was ich in Momenten wie diesen hasse?«

Der Angesprochene wimmerte.

»Dass kein Alysker einen anderen Alysker töten kann!« Er wandte sich an den dritten Mann. Sein Nicken genügte und der Nicht-Alysker drückte ab. Der Strahl aus der Waffe traf den am Boden liegenden Mann exakt zwischen die Augen und durchtrennte die Gehirnhälften.

»Was ich immer sage: Die nach der Katastrophe Geborenen sind verweichlicht, degeneriert und nichts wert! Es ist eine Schande!«

Der Mann antwortete nicht.

»Lass seinen Tod durchsickern und verkünde, dass ich solche Nachlässigkeiten nicht dulde!«

Er wandte sich zum Gehen, blieb aber vor der Tür noch einmal stehen. »Und erinnere deine Leute an die uralte Vereinbarung: Die Alysker sollen zu ihrem letzten Zeitpunkt allein sein!«

*

Eorthor saß vor der Panoramascheibe. Unter ihm verschwanden die letzten Sonnenstrahlen hinter Alysk, da der Mond von ihm gesehen nach unten wanderte.

Gestern war Pyrent beigesetzt worden, von einem Roboter, wie es bei den Alyskern Brauch war. Der Tod des Wissenschaftlers hinterließ bei Eorthor einen fahlen Nachgeschmack. Der sofort angeforderte Medoroboter hatte Herzversagen diagnostiziert. Für einen Unsterblichen, den nichts töten konnte, stellte Herzversagen so ziemlich die unwahrscheinlichste Todesart überhaupt dar.

Aber der Roboter hatte nicht gesagt, wie es zum Herzversagen gekommen war. Es kostete seinem Rechner nur wenige Sekunden, die Ereignisse während der Feier abzurufen. Im Holo beendete Pyrent seine Rede, trat vom Pult zurück und lag Augenblicke später am Boden. Dann rannten die Alysker wie aufgescheuchte Jirzeln um ihn herum. Die Aufzeichnung verschwand und Eorthor starrte in das Symbol des Zentralcomputers von Alysk.

»Erneute Wiedergabe!«, verlangte er. »Zeitlupe und Zoom auf die Augen!«

Der Rechner folgte seinen Anweisungen. Eorthor hatte sich nicht getäuscht. Wenige Augenblicke, bevor Pyrent zu Boden ging, zeigte er zwei verschiedene Gesichtsausdrücke: Erstaunen ging in Erkennen über. Und als letzte bewusste Reaktion lächelte er, als sei er glücklich, sterben zu können.

Eorthor fragte Pyrents Lebenslauf ab. Der Philosoph hatte ein für Alysker durchschnittliches Leben hinter sich. Geboren vor achtzig Millionen Jahren, also weit nach der Katastrophe, hatten ihn seine Eltern und die Gesellschaft behutsam auf die Unsterblichkeit vorbereitet. Früh hatte sich sein Interesse an Philosophie herauskristallisiert. Seine Fähigkeiten hatten jedoch nicht gereicht, um in Meister Shaojuns Philosophieschule aufgenommen zu werden. Der Grund interessierte Eorthor nicht. Er überflog die wissenschaftlichen Erfolge des Verstorbenen und kam zu dessen Todestag.

Unfalltod stand in der Datei. Ohne Querverweis oder Hinweis auf die tatsächliche Todesursache.

Eorthor wechselte auf den Rechner des Rates, in dem sich für die Öffentlichkeit nicht zugängliche Daten befanden. Pyrents Datei war mit der offiziellen identisch – bis auf eine einzige Ausnahme! Bei Unfalltod existierte ein Querverweis. Er gab dem Computer den Befehl, diesen Verweis zu öffnen.

»Zugriff verweigert!«

Eorthor traten fast die Augen aus den Höhlen. Er schüttelte den Kopf, um diese plötzliche Sehschwäche zu vertreiben und las noch einmal den Text:

»Zugriff verweigert!«

»Sonst geht es dir gut, oder?«, schnauzte er das Hologramm an. Er war der Oberste Ratssprecher! Er besaß einen Überrangbefehlscode! Warum ignorierte der Rechner diese Tatsache?

In einem zweiten Hologramm rief er die Daten seines Vaters auf. Und auch hier bekam er das Wort »Unfalltod« zu lesen. Und erneut verweigerte der Computer ihm den Zugriff.

»Das … das …!«

Eorthor war fassungslos. Ihn ärgerte gar nicht so sehr, dass sein Überrangbefehl nicht funktionierte. Ihn wurmte, dass ihn das System nicht als ranghöchsten Zugriffsberechtigten anerkannte. Ihn, den Obersten Ratssprecher. Schließlich gab es niemanden über ihm in der Gesellschaft der Alysker!

»Nicht mit mir, mein Freund!«, schimpfte er in das Holo und schlug beide Fäuste zusammen. Innerhalb weniger Sekunden aktivierte er ein selbstgeschriebenes Programm, das Sperren wie jene umging, untergrub oder aushebelte. Bald erhielt er die Erfolgsmeldung. Der Ratsrechner gab die gewünschte Information frei.

Neben den Wörtern »Todeswunsch genehmigt« las er ein Datum, das achthundert Jahre in der Vergangenheit lag. Der Name, der unterhalb des Textes eingetragen war, warf ihn beinahe aus der Couch. Er musste ihn dreimal lesen, um es zu glauben.

Eorthor holte die Datei seines Vaters zurück in das Hologramm und fand dort denselben Eintrag, mit einem anderen Datum.

Eorthor sprang auf und wanderte im Raum umher. Seine ursprüngliche Frage war noch unbeantwortet. Woran war Pyrent wirklich gestorben?

Er stellte sich vor die Panoramascheibe und blickte auf den Hauptkontinent von Alysk. Es war Nacht. Und der Mann, der ihm die Frage nach der Todesursache beantworten konnte, lag drei Meter tief unter der Erde.

Dieser Umstand war schnell geändert. Eorthor spürte, wie eine kindliche Angst in ihm hoch kroch und vertrieb sie. Es war lächerlich, dass er sich überhaupt damit auseinandersetzen musste. Er hatte sich noch nie um irgendwelche Bräuche gekümmert und schon gar nicht um Tabus. Auch wenn es sich – so wie hier – um das größte Tabu der Alysker handelte: den Tod.

Er ging in eines seiner Labore und hantierte an einem der Geräte. Nachdem er den Zahlencode eingegeben hatte, berührte er den Startsensor. Energieumformer liefen an und speisten die Endgeräte.

Die Luft flimmerte vor Eorthor und dann lag der Sarg mit Pyrents Leiche auf dem Untersuchungstisch. Ein paar Erdbrocken fielen zu Boden, während der Roboter den Deckel mühelos aufbrach. Eorthor trat näher. In Pyrents Gesicht stand dasselbe Lächeln wie im Moment seines Todes. Mittlerweile hatte der Roboter dem Toten Blut abgezapft und es an das Analysegerät weitergereicht.

Der Fiktivtransmitter beförderte den Sarg zurück in das Grab. Eorthor gab eine weitere Ziffernfolge in das Bedienteil des Transmitters ein. Sekunden danach sah er auf den Sarg seines Vaters.

Auch diesmal überlegte er nicht. Der Roboter hob spielerisch den Deckel. Von Narguls Körper war nur noch das Skelett erhalten. Doch der Computer würde in den Haaren oder in den Fingernägeln genügend Anhaltspunkte für die Todesursache finden. Eorthor fühlte nichts, als er in den Totenkopf seines Vaters blickte. Es kümmerte ihn nicht, dass er ein Tabu gebrochen hatte, an das andere Alysker nicht einmal in ihren Albträumen dachten.

Der Roboter verschloss den Sarg und sein Vater kehrte an seine letzte Ruhestätte zurück.

Eorthor lehnte sich an eine Konsole und las das Ergebnis, das soeben in einem Hologramm vor ihm entstand. Für ihn war es kein Zufall, dass der Wissenschaftler exakt nach seiner Rede zusammengebrochen war. Und sein Verdacht bestätigte sich. Pyrent war an einem Gift gestorben, das sich langsam im Körper ausbreitete und dann blitzschnell tötete. In Anbetracht des Tatherganges hatte jemand extrem präzise gearbeitet. Man benötigte Spezialwissen, um dieses Gift sozusagen auf die Minute genau anzuwenden. Der Mörder hatte nur den Fehler begangen, ein Gift zu verwenden, das man nachweisen konnte.

Die Todesursache seines Vaters ließ sich nicht aufgrund der entnommenen Probe feststellen, sondern aufgrund der Bildaufnahmen, die von Nargul geschossen worden waren. Er hatte sich das Genick gebrochen.

Also doch ein Unfall?

Eorthor hatte sich nie für den exakten Unfallhergang interessiert. Das würde er nachholen. Und danach würde jemand Schwierigkeiten bekommen. Svart große Schwierigkeiten!

*

Irgendwo musste es die Aufzeichnungen geben. Eorthor war sich dessen so sicher, wie er den Ausgang des Experiments vor Jahrmillionen vorhergesehen hatte. Sein Vater hatte mit zunehmendem Alter alles dokumentiert, was er Tag für Tag machte. Nicht dass Nargul sich ihm anvertraut hätte, dazu war ihr Verhältnis zeitlebens zu distanziert gewesen. Nein, Eorthor hatte ihn überrascht und zufällig gehört, wie sein Vater eine Art Tagebuch führte.

Und dieses Tagebuch galt es zu finden!

Eorthor verwette seine Unsterblichkeit, dass sich darin Hinweise auf den Tod des Vaters finden ließen. Soweit er die Umstände recherchiert hatte, sprach alles für einen geplanten Unfall. Jetzt schon von einem Mord zu sprechen, schien ihm zu voreilig. Obwohl sein Vater offenbar gegen ein anderes Wesen gekämpft hatte.

Eorthors Blick fiel auf den Privatcomputer seines Vaters, der in seinem Arbeitszimmer in die Einrichtung integriert war. Obwohl in den Hyperfeldern des Computers nichts verloren ging, brauchte er dort gar nicht erst suchen. Sein Vater hätte nie etwas Persönliches dort abgespeichert.

Also befanden sich seine Aufzeichnungen an anderer Stelle. Nur wo?

Eorthor drehte sich einmal im Kreis. Die Villa seines Vaters besaß zwölf Zimmer pro Stockwerk, nicht zu reden vom Keller, dem Dachboden und dem Gartenhaus. Die Statuen im Garten zu ignorieren war zwar Luxus, aber irgendetwas musste sich Eorthor für den Schluss aufheben. Sein Vater konnte den Speicherchip überall versteckt haben.

Eorthor stapfte vom Arbeitszimmer ins Wohnzimmer. Auch wenn das Haus seit Millionen von Jahren leer stand, pflegten und hegten die Servoroboter jeden Winkel des Anwesens. Im Stillen beglückwünschte sich Eorthor dazu, es behalten zu haben. Auch wenn es pure Sentimentalität war, jetzt zahlte es sich aus. Besser gesagt, wenn er den Chip in den Händen hielt.

»Wo hast du ihn versteckt?«, fragte er laut und betrachtete das Gemälde, das seinen Vater zeigte und über dem Kamin hing. Obwohl Nargul es gehasst hatte, ließ er es seiner Frau zuliebe hängen. Selbst nach ihrem Tod, ein Jahr vor der Katastrophe. Danach hatte sein Vater nie mehr geheiratet, geschweige denn eine Geliebte gehabt.

»Kein Sex für Millionen von Jahren. Ob das gut für Körper und Geist ist?«, sinnierte Eorthor und pochte auf die Lehne der Couch. Das Bild des Vaters über dem Kamin reagierte nicht. Die braunen Augen wirkten wachsam, während der Mund zu einem dezenten Lächeln verzogen war. Die schwarzen Haare trug er offen. Sie reichten ihm knapp über die Schultern.

Eorthor blickte durch die Terrassentür in den Garten. Vielleicht sollte er doch mit den Statuen beginnen. Er ging in den Garten. Vor der Nachbildung Segthes, dem großen Zeitphilosophen aus der Ära vor der Katastrophe, blieb er stehen. Er wusste, dass sein Vater die Schriften Segthes’ verschlungen und seine Gedanken verinnerlicht hatte. Irgendetwas sagte ihm, dass er hier fündig werden würde.

Er konzentrierte sich, leitete Teile seiner Lebensenergie in den Arm und komprimierte sie in der Faust. Er holte Luft, stieß einen Schrei aus und gleichzeitig schnellte sein Arm nach vorne. Mühelos durchschlug er den Brustkorb des Philosophendenkmals.

»Na bitte!«

Am Gesäßboden lag ein kleiner Speicherchip. Eorthor nahm in an sich und eilte zurück ins Haus. Der Hauscomputer dunkelte nach einem Zuruf die Scheiben ab und ein Hologramm entstand inmitten des Raumes.

*

»Guten Abend, Nargul!«

Ich sah von meinen Unterlagen auf und erinnerte mich an unseren Termin. Er war mir entfallen, was aufgrund der Arbeit, die vor mir auf dem Tisch lag, auch kein Wunder war.

»Shifu«, begrüßte ich ihn in der Sprache der Ahnen. Er lächelte und wir reichten uns die Hände. »Nimm Platz«, sagte ich, während ich die Foliensätze auf drei Stapeln zusammenschob. »Was führt dich zu mir?«

»Nargul, ich besuche dich heute halb offiziell«, begann er und verlieh den Wörtern durch ihre unterschiedliche Betonung ein seltsames Gewicht. Er hatte schon immer verstanden, seine tiefe Stimme einzusetzen. »Ich benötigte deine Hilfe für unser Volk!«

Also nichts Neues, dachte ich, da ich als Oberster Ratssprecher ständig mit Hilfegesuchen überhäuft wurde. Allerdings wandte sich nicht jeden Tag ein Alysker von des Shifus Bedeutung an mich.

»Unserem Volk ist es seit dem … hm … Geschenk der Kosmokraten vergönnt, bis ans Ende des Universums zu leben. Für mich persönlich ist es eine Herausforderung, der Zeit ein Schnippchen zu schlagen und nicht vor ihr zu kapitulieren!«

Ich stimmte ihm mit einem Nicken zu.

»Nicht alle aus unserem Volk teilen diese Auffassung«, fuhr der andere fort. »Vor allem jene, die beim Experiment mitgearbeitet haben, sehen oft keinen Sinn mehr darin, die Zeit totzuschlagen.«

Auch ich kannte die verschiedenen Strömungen innerhalb der alyskischen Gesellschaft. Alles kam, ging und wiederholte sich. Ein endlos währender Zyklus.

»Es ist verständlich und auch nachzuvollziehen, dass einige das Ende ihres Daseins herbeisehnen. Die Kosmokraten haben dem einen Riegel vorgeschoben!«

Ich beugte mich nach vorn und legte die gefalteten Hände auf den Schreibtisch vor mir. »Sie haben unsere Hemmschwelle der Selbsttötung so hoch gelegt, dass sie kein Alysker überschreiten kann. Und ich denke, dass jeder mindestens einmal versucht hat, sie zu überwinden.«

Mein Gast nickte. »Ich habe es – aus rein wissenschaftlichen Gründen – in einer Meditation versucht. Ich wurde abgewiesen und zurückgeschleudert.« Er schwieg und schien in Gedanken zu kramen.

»Wenn selbst du, Shifu, es mit Hilfe der Meditation nicht erreichst …« Bewusst ließ ich den Satz offen.

»Ärgerlich aus Sicht eines Kämpfers ist auch, dass die Kosmokraten uns daran hindern, andere Alysker zu töten.«

Ich verstand, was er meinte.

»Keine Krankheit kann uns zu Fall bringen, weder Bakterien noch Viren! Nichts, was dieser Planeten hervorbringt, kann uns gefährlich werden!«

»Uns können nur Nicht-Alysker töten!«

»Exakt. Selbst wenn ich will, dass mich ein anderes Wesen tötet, ich könnte es ihm nicht sagen! Auch hier gibt es eine Sperre!«

»Die Wesen hinter den Materiequellen haben an alles gedacht«, sagte ich und seufzte. »Sie haben für die perfekte Rache gesorgt!«

Mein Gast lächelte und neigte seinen Oberkörper nach vorne. »Nicht an alles!«

Ich war verwundert. Was meinte der Shifu?

»Der freie Geist findet Auswege aus jeder noch so aussichtslosen Situationen. Er bricht letztendlich aus jedem Gefängnis aus!« In seinen Augen zeigte sich eine wilde Entschlossenheit. Jene Entschlossenheit, die im Kampf über Leben oder Tod entschied. Ich wusste, auf welcher Seite mein Gast immer gestanden hatte und immer stehen würde.

»Da ich für die Selbstbestimmung des Individuums eintrete, habe ich mich mit der Beschränkung der Kosmokraten nie anfreunden können. Ich habe sie zähneknirschend akzeptiert, bis ich eines Tages im Freundeskreis in eine Diskussion verwickelt wurde. Und ich wurde nachdenklich! In jeder freien Minute habe ich mich mit dem Thema auseinandergesetzt, es zerpflückt und darüber meditiert.« Kurz blitzte so etwas wie Triumph in seinen Augen auf. »Und ich fand eine Lösung!«

Gespannt wartete ich.

»Um die Lösung auszuführen, benötige ich deine inoffizielle Hilfe!«

»Und zwar?«

»Es gibt so gut wie keine Todesfälle auf Alysk – bis auf ein paar Unfälle alle hunderttausend Jahre! Es könnte passieren, dass diese Zahl zukünftig deutlich steigt.«

»Moment! Du willst Unfälle hervorrufen?«

»So ähnlich. Wenn du heute zu mir sagen willst, dass ich dich töten soll, so wird es nicht funktionieren. Du kannst diese Aufforderung – aufgrund deiner Hemmschwelle – nicht einmal aussprechen. Aber du kannst sagen, dass du sterben willst! Und du kannst sogar sagen, wie du sterben willst. Alles kein Problem. Nur an der Umsetzung hapert es!«

»Und du hast einen Weg gefunden?«, fragte ich ungläubig.

Der Shifu nickte. »Hier kommt eine neue Komponente ins Spiel: Nicht-Alysker!«

Ich konnte mich nur verhört haben. »Nicht-Alysker?«, wiederholte ich fassungslos.

»Es ist einfach. Du schreibst, dass und wie du sterben willst, gibst mir den Zettel und ich leite es an einen Nicht-Alysker weiter, der deinen Wunsch erfüllt!«

»Das ist Mord!«

»Das, mein lieber Oberster Ratssprecher, hängt vom Standpunkt des Betrachters ab. Meine Kontaktleute sehen es als Geschäft!«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich möchte deine Bitte nicht hören! Ich kann ihr – im Interesse unseres Volkes – nicht zustimmen! Niemals!«

»Das Einzige, um das ich dich bitte, ist ein Steigen der Unfallstatistik zu negieren! Darin erschöpft sich deine Aufgabe!«

»Dem kann ich nicht zustimmen!«

Der Shifu schenkte mir ein gütiges Lächeln. »Nargul, deine Antwort ist von Emotionen geleitet, die eine schlechte Entscheidungsbasis darstellen!« Er stand auf. »Wir sind unsterblich! Wir haben alle Zeit des Universums. Deine Entscheidung eilt also nicht.« Er wandte sich zum Gehen. »Überlege reiflich und teile mir deinen Entschluss mit!« Grußlos verließ er den Raum. Ich starrte ihm nach, unfähig zu denken.

*

Eorthor spielte mit dem Krönungsring am Finger, während er darauf wartete, dass alle Ratsmitglieder ihre Plätze einnahmen. Die außerplanmäßige Sitzung hatte ihn aus seinen Recherchen gerissen.

Nachdem sich auch Fuzzi, der Sportsprecher, gesetzt hatte, sprach Eorthor die einleitenden Worte: »Werte Ratsmitglieder! Ich eröffne hiermit die 80.428.839ste außerordentliche Sitzung des Alyskischen Rats. Der Kosmos gebe uns die Kraft für die richtigen Entscheidungen.«

Seine Ratskollegen antworteten ebenso traditionell: »Es möge beginnen!«

Damit erschöpften sich die gesetzlichen Vorgaben für die Ratsversammlung, bis auf den Satz, dass eine Ratsversammlung in gesitteter und zivilisierter Form stattzufinden habe und dem alyskischen Geiste würdig sein sollte. Was und wie auch immer die Ahnen diese Gesetzesformulierung verstanden hatten.

Genauer wurden die Gesetze erst wieder beim Ende einer Ratsversammlung. Jede Sitzung hatte der Oberste Ratssprecher mit den Worten Nach reiflicher Überlegung und mit Hilfe des Kosmos ist es vollbracht! zu beenden.

»Ich erteile Uestir das Wort, auf dessen Initiative diese außerordentliche Versammlung stattfindet.«

Uestir stemmte sich aus dem Sessel, räusperte sich und breitete die Arme aus. Für Eorthors Geschmack benahm sich der Fettwanst die letzten drei Millionen Jahre etwas zu theatralisch. Seine ohnehin schon an Länge kaum zu überbietenden Reden waren dadurch nahezu unerträglich.

Eorthor rutschte im Sessel nach vorne und nahm seine Schlafposition ein, wie er sein Hinlümmeln nannte.

»Werter Oberster Ratssprecher, werte Ratsmitglieder!«

Natürlich drehte sich Uestir nach links und rechts, damit ihn auch jeder in den halbkreisförmig angeordneten Sesselreihen sehen konnte. Dabei ignorierte er das lebensgroße Hologramm, das in die Mitte des Raumes projiziert und von jedem Ratsmitglied gesehen wurde. Eorthor seufzte innerlich. Er konnte diesen Opportunisten nicht ausstehen. Uestir hatte sofort nach der Katastrophe die Konsequenzen gezogen, war vom Exekutivleiter Retag abgerückt und ins Lager der Kritiker übergelaufen. Seit Jahrmillionen hielt er sich im Kreis der Mächtigen, auch wenn er nur den unbedeutenden Posten des Obersten Informationssprechers innehatte.

»Ich wende mich heute an euch, um etwas Ungeheuerliches zu berichten!«

Seiner Körpersprache nach zu urteilen, war er aufgebracht. Aber was besagte das schon bei einem Mann, der sich wie ein Blatt im Wind drehte, um nur ja nicht auf dem Boden aufzuschlagen?

»In unserer Mitte befindet sich ein Alysker, der unsere Gesetze getreten hat, als seien sie Staub unter seinen Füßen!«

Eorthor verschob seine meditativen Übungen um fünf Minuten. Vielleicht wurde es doch interessant.

»Er ist brachial in den Ratsrechner eingedrungen, hat ohne Rücksicht auf die Privatsphäre darin herumgeschnüffelt. Noch ist das Unheil, das er angerichtet hat, nicht abschätzbar!«

Dieser Bastard sprach von ihm, Eorthor! An Meditation war nicht mehr zu denken.

»Damit noch nicht genug hat er ein Verbrechen verübt, für das es kein Wort in unserer Sprache gibt. Ich musste Anleihen in einer fremden Sprache nehmen, um ein Wort für das Verbrechen zu finden. Er hat mehrere Exhumierungen vorgenommen!«

Eorthor richtete sich im Sessel auf. Woher wusste dieser Mistkerl davon? Dass er es selbst herausgefunden hatte, bezweifelte Eorthor. Uestir musste glücklich sein, wenn er am Morgen alleine zur Toilette fand. Wem diente er als Strohmann? Eorthor blickte rasch in die Gesichter seiner Ratskollegen. Keiner von ihnen verriet sich.

»Exhumieren«, fuhr Uestir fort und betonte jeden Buchstaben des Wortes, »bedeutet, dass er die Leichen von Alyskern ausgegraben und untersucht hat.«

Stille.

Durchbrochen von einem Raunen, das anschwoll.

Dann Tumult. Chaos.

Die Sprecher sprangen auf. Nichts hielt sie mehr in ihren bequemen Sitzen.

»Ungeheuerlich!«

»Wer ist dieser Schandfleck eines Alyskers?«

»Wer ist es?«

»Spann uns nicht auf die Folter! Sag es!«

Sie schrien durcheinander, während sich Uestir in der Aufmerksamkeit suhlte. In diesen Augenblicken war er der Star. War er der Mittelpunkt des Universums.

Eorthor musste ihn nur kurz ansehen und wusste, wie er sich fühlte. Wichtiger als dieser Wurm war jedoch, dass ein einziger Ratssprecher sich nicht in das allgemeine Chaos hineinziehen ließ: Shaojun. Er lümmelte entspannt in seinem Sessel und amüsierte sich über die Reaktion seiner Ratskollegen.

Eorthors und Shaojuns Blicke trafen sich und Eorthor wusste, wem Uestir als Strohmann diente. Es war wie ein Schlag in die Magengrube! Sein Lehrmeister, sein Vaterersatz wollte ihm an die Gurgel? Warum?

War er der Shifu, von dem sein Vater berichtet hatte? Zuzutrauen wäre es dem alten Fuchs!

»Es ist …«, sagte Uestir, drehte sich in Eorthors Richtung und hob langsam den Arm. Als er ihn ausgestreckt hatte und es so still war, dass man selbst das Schnaufen von Lyta nicht mehr hörte, fuhr er fort: »Eorthor!«

Eorthor änderte nichts an seiner Haltung. Er saß aufrecht im Sessel und beobachtete seine Ratskollegen, die vor ihren Sitzen standen. Außer einem geringschätzigen Lächeln zeigte er keine Reaktion. Er konzentrierte seinen Blick auf Uestir, der nach zwei Sekunden aufgab und wegsah. Gleichzeitig senkte er die Hand. Uestir hatte seinen Zweck erfüllt. Zu mehr war er nicht engagiert worden.

»Was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen, Eorthor?« Retag, der ehemalige Exekutivleiter des Kosmokratenprojekts, war ein fairer Mann.

»Die meisten von uns kennen Uestir aus den alten Zeiten vor und nach der Katastrophe. Ihr wisst um seine Charaktereigenschaften. Urteilt selbst, ob ihr ihm glaubt!«

Eorthor hatte als Ratssprecher genügend Zeit gehabt, die feine Klinge der Diplomatie zu üben. Obwohl er als Mann der klaren Worte sich mit ihr nicht anfreunden konnte, hatte er einiges übernommen – für den Notfall, der nun eingetreten war.

»Es geht hier nicht um Uestirs Glaubwürdigkeit und auch nicht um deine, Eorthor. Ein Ratsmitglied wirft dem Obersten Ratssprecher eine Tabuverletzung vor.« Retag sagte es emotionslos. Er war ein aufrechter, geradliniger Mann. Eorthor schätzte ihn.

»Dann wundere ich mich, warum keiner Beweise von ihm verlangt«, sagte Eorthor so gleichgültig und gelangweilt wie möglich.

Retag nickte und wandte sich an Uestir, der immer kleiner zu werden schien. Am liebsten hätte er sich wohl unter seinem Sessel verkrochen, woran ihn seine Fettleibigkeit hinderte. Hilfesuchend blickte er zu seinem Auftraggeber, der vier Reihen hinter ihm saß.

Shaojun erhob sich.

»Freunde«, begann er und stieg die Stufen hinunter, um in die Mitte des Saales zu gelangen.

Eorthor konzentrierte sich. Aus dem Geplänkel wurde ernst.

»Ihr kennt das Verhältnis zwischen Eorthor und mir!«

Du Mistkerl, dachte Eorthor.

»Eorthor und ich sind wie Vater und Sohn. Wir haben Seite an Seite gegen die Ylors gekämpft, die die Galaxis überrennen wollten. Wir haben zusammen meditiert und sind in Bereiche vorgedrungen, die noch nie ein Alysker erreicht hat. Es wäre also nur natürlich, dass ich ihn aus emotionalen Gründen decke.«

Eorthor wiederholte in Gedanken seinen Fluch. Er wusste, dass er verloren hatte. Shaojun hatte sich vorbereiten können, er nicht. Er stand da, jeder Deckung beraubt. Hilflos.

»Ich bekleide ein Amt, in dem ich – so wie wir alle hier – dem alyskischen Volk verpflichtet bin, unabhängig von Emotionen oder eigenen Vorteilen! Und daher muss ich Uestir leider zustimmen.«

Zum dramaturgisch richtigen Zeitpunkt drehte er sich von den Räten zu Eorthor. »Der Oberste Ratssprecher hat Verbrechen begangen, die eines Alyskers unwürdig sind. Er hat das heiligste Tabu gebrochen! Er hat Leichen geschändet, indem er ihnen Blut abgenommen hat!«

Woher weißt du das, du falsche Schlange?

»Retag, du hast nach Beweisen gefragt!«

»Das war Eorthor«, berichtigte Retag den Obersten Kriegssprecher und Philosophen.

»Es gibt Beweise! Stichhaltige!« Eorthors und Shaojuns Blicke trafen sich. Eorthor las in ihnen wie in einem offenen Buch. Jede Freundlichkeit war aus ihnen gewichen. Sie waren kalt.

»Eorthor hat mit Hilfe eines Fiktivtransmitters die Leiche von Pyrent in seine Forschungsstation geholt!«

Natürlich! Die Emissionen des Fiktivtransmitters. Sie waren lange Zeit nachweisbar! Eorthor hätte sich am liebsten ob dieses Anfängerfehlers geohrfeigt.

»Und auf gleiche Weise auch die Leiche seines eigenen Vaters!«

Das Raunen war wieder da. Die Ratsmitglieder waren fassungslos. Selbst Retag kämpfte mit seinen Gefühlen, bevor er für Ruhe sorgte.

»Eorthor, deine Stellungnahme?«

Er schwieg, ließ den Blick durch den Saal gleiten und fand eine Lösung aus dem Dilemma. »Wenn der alyskische Kriegssprecher und Philosoph von stichhaltigen Beweisen spricht, werden sie wohl stimmen!«

»Du gibst es zu?« Retag konnte die Verblüffung weder in seiner Stimme noch in seinem Gesicht verbergen.

»Das habe ich nicht gesagt! Ich habe gesagt …«

»Bitte, Eorthor«, unterbrach ihn Shaojun. »Verschlimmere es nicht!«

»Ich habe gesagt«, wiederholte Eorthor unbeirrt, »wenn der alyskische Kriegssprecher und Philosoph von stichhaltigen Beweisen spricht, werden sie wohl stimmen!« Er stand auf. »Werte Ratsmitglieder«, sagte er und bemühte sich um einen feierlichen Ton. »Da mir so viel Misstrauen entgegengebracht wird, setzte ich euch hiermit in Kenntnis, dass ich mich als Oberster Ratssprecher zurückziehe.« Mit der Leichtigkeit des Trainierten sprang er aus dem Sessel, schwang sich über die Brüstung und landete direkt vor Shaojun. Der zuckte mit keiner Wimper und war trotzdem kampfbereit. Seine Schultern neigten sich um Millimeter nach vorn.

Eorthor schenkte ihm ein Lächeln und marschierte aus dem Rathaus. Da ihn niemand aufhielt, fragte er sich, wie viele von seinen Ratskollegen die Gesetze verinnerlicht hatten.

*

»Catin, Viscount! Was führt euch zu mir?«

Viscount grinste über das ganze Gesicht, während Catin ihm freundlich zunickte.

»Wenn die Gerüchte stimmen, dann brauchst du Hilfe«, sagte Viscount und stellte sich vor die drehende Hologrammkugel, die den Planeten Alysk zeigte.

»Was erzählt man sich?« Eorthor setzte sich auf die rechte Ecke des Schreibtisches.

»Sie wollen dich absetzen, weil du mehrere Verbrechen gegen die Alysker begangen haben sollst. Sie wollen Uestir zum Obersten Ratssprecher wählen.« Viscount schüttelte entsetzt den Kopf. »Ausgerechnet Uestir, diesen Schleimer!«

Auch Eorthor hatte davon gehört.

»Jeder andere ist mir lieber als der!«

»Sogar ich?«, antworte Eorthor lachend, worauf Viscount die Lippen verzog: »Komm schon, Eorthor, du weißt, was ich von dir halte!«

»Dabei habe ich mir alle Mühe gegeben, dich, Catin und Xaria bei unserer Rettungsmission zu vergraulen!«

»Da siehst du mal, wie erfolgreich du warst!«, mischte sich Catin ins Gespräch ein. »Du bist gar nicht so übel, wenn es gelingt, ein wenig hinter die Maske zu blicken!«

»Bilde dir nur nichts darauf ein«, scherzte Eorthor.

»Was willst du tun?«, fragte Viscount. »Und wie können wir dir helfen?«

»Bevor du antwortest: Sie wollen dir deine Bürgerrechte aberkennen!«

Eorthor nickte langsam. »Ich hätte nicht gedacht, dass Shaojun so weit geht.«

»Shaojun?« Catin und Viscount riefen den Namen des Obersten Kriegssprechers und Philosophen wie auf Kommando gleichzeitig, so dass Eorthor sich ein Grinsen nicht verkneifen konnte: »Ihr seid auch schon zu lange ein Paar!«

Kurz nach der Rettungsmission hatte sich Viscount von seiner damaligen Gemahlin scheiden lassen und war mit Catin eine Beziehung eingegangen, die Millionen Jahre überdauert hatte.

Eorthor erzählte ihnen in Kurzfassung, was er dank der Aufzeichnungen seines Vaters herausgefunden hatte.

»Wusch«, war alles, was Viscount dazu einfiel. Catin hingegen betrachtete die Decke.

»Wie können wir dir helfen?«, fragte Viscount, nachdem er sich gefangen hatte.

»Die Krönung Uestirs ist in acht Tagen, wenn mich meine Informationen nicht täuschen!«

Catin nickte.

»Gut, ich habe folgenden Plan!«, sagte er und weihte Catin und Viscount in seine Überlegungen ein. Als er geendet hatte, kratzte sich Viscount am Kinn und meinte: »Das könnte klappen!«

Eorthor bedachte ihn mit einem gefährlichen Lächeln. »Es wird!«

*

Uestir hatte sich den Berg hinaufgequält – um die Mittagszeit, so wie es der Brauch vorsah. Keuchend gelangte er zum Krönungsplateau des Berges der Ahnen. Der Schweiß rann ihm über das Gesicht und tränkte die Toga, so dass das Gewand an seinem Körper klebte. Besonders originell anzusehen war der kreisförmige Schweißfleck, der sich an der Toga um seine Brustwarzen gebildet hatte. Es sah nicht sehr würdig aus, wie der zukünftige Oberste Ratssprecher vor den Ratskollegen stand. Die schwitzten kein bisschen, da sie ein Gleiter auf den knapp zwei Kilometer hohen Gipfel gebracht hatte.

»Oh großer Geist, der den Kosmos durchzieht und alle Lebewesen miteinander verbindet, wir stehen heute vor dir, um dich zu bitten, einen Mann aus unserer Mitte anzuerkennen. Stärke ihn, oh großer Geist, auf dass er dienen kann, seinem Volk dienen kann.« Enhil, der Zeremonienmeister, waltete gekonnt seines Amtes. Er hob den Schwertgurt vom Polster, schob die schweißdurchtränkte Toga ohne die Miene zu verziehen beiseite und legte Uestir den Gurt an.

»Niemand kann von glücklicher Hand regieren, wenn er nicht seine Kraft aus dem Kosmos ableitet«, zitierte Enhil den überlieferten Text.

»Und was macht ihr jetzt?« Eorthors Ruf ließ sie alle zusammenzucken. Er deaktivierte sein Tarnfeld und wurde sichtbar. Er saß auf einem Stein oberhalb des Plateaus und grinste hämisch auf die Ratskollegen hinunter.

»Wollt ihr gegen die Gesetze verstoßen?« Er schwenkte seinen ausgestreckten Arm von links nach rechts, damit alle den Krönungsring sehen konnten. »Ihr werdet ihm doch nicht ein Duplikat auf den Finger stecken, nur um den Anschein zu wahren? So etwas macht ein rechtschaffenes Ratsmitglied nicht, oder Shaojun?«

Eorthor sprang die fünf Meter, die ihn vom Krönungsplateau trennten, nach unten und landete sicher auf dem glatten Stein.

»Außerdem, meine lieben Ratskollegen, teile ich euch als amtierender Oberster Ratssprecher mit, dass diese Krönung ungültig ist!«

»Sie haben mich gewählt!«, schrie Uestir hinter ihm mit sich überschlagender Stimme.

Eorthor drehte sich um und ging auf ihn zu. Ein scharfer Blick reichte und Uestir trippelte rückwärts. »Pass auf, dass du nicht nach unten fällst!«, empfahl ihm Eorthor. Uestir zuckte zusammen, sah nach hinten und blieb stehen. Er war nur zwei Meter vom Abgrund entfernt.

»Sie können dich nicht wählen, du Idiot! Weil die außerordentliche Sitzung, die du beantragt hast, noch nicht beendet ist! Der Rat tagt immer noch! Weil, mein lieber Uestir«, sagte Eorthor und trat einen Schritt nach vorne, »weil die Gesetze vorsehen, dass der Oberste Ratssprecher die Sitzung mit den Worten ›Nach reiflicher Überlegung und mit Hilfe des Kosmos ist es vollbracht!‹ zu beenden hat.« Mit einer schnellen Bewegung scheuchte er Uestir nach links. »Falls es dir oder sonst jemandem in dem Trubel entgangen ist: Dieser Satz ist nicht gefallen!«

Sie starrten ihn ungläubig an. Sogar Shaojun. Selbst der hatte diese Tatsache übersehen. Eorthor machte noch einen Schritt vorwärts und zwang Uestir, in Richtung der Ratskollegen zurückzuweichen. Uestir trat auf einen Stein, stolperte, fiel und rammte sich eines der beiden Schwerter ins Herz.

»Das nenne ich einen klassischen Unfall!«, kommentierte Eorthor, während einige Ratskollegen dem Schwerverwundeten zu Hilfe eilten. Sie konnten nichts mehr für Uestir tun.

»Also, liebe Ratskollegen, nehmen wir die Sitzung an jenem Punkt wieder auf, an dem ich sie verlassen habe!«, verlangte er und setzte sich auf den Steinboden. »Als erstes gebe ich zu Protokoll, dass eine Krönung ohne die echten Insignien der Macht, also Schwertgurt, Ring und Zepter, ungültig ist! Nachzulesen unter Limb, 28.19. Selbst, wenn Uestir noch am Leben wäre, gälte die Krönung nicht!«

Niemand widersprach ihm.

»Shaojun, ich bitte dich zu wiederholen, was du mir über den Tod meines Vaters erzählt hast. Wie ist Nargul gestorben? Erzähle es bitte allen!«

Shaojun tat ihm den Gefallen nicht. Er wischte die Bitte mit einer Handbewegung beiseite.

»Eorthor, egal was du mit deinem Auftritt hier bewirken willst, es kehrt deine Taten nicht um.« Er hatte seine Stimme gesenkt, als spreche er mit einem kleinen, ungezogenen Kind. »Halte dich an die Gesetze, beende die außerordentliche Sitzung mit den vorgeschriebenen Worten und gib den Krönungsring an Enhil, damit wir den neuen Obersten Ratssprecher küren können!«

Eorthor lachte nur. »Shaojun, du enttäuschst mich auf deine alten Tage. Du warst es, der mir nahegelegt hat, die Gesetze zu studieren, dabei kennst du sie selbst nicht!« Er legte die Hände auf seine Knie. »Der Rat muss zuerst einen neuen Obersten Ratssprecher aus seiner Mitte wählen, bevor ihr ihn küren könnt!«

Sein ehemaliger Lehrmeister seufzte und setzte sich. »Mach dich nur lächerlich«, murmelte er.

»Wo du hingegen Recht hast, ist, dass nichts meine Taten rückgängig machen kann. Ich will sie auch gar nicht rückgängig machen. Ich stehe nämlich zu ihnen. Ich stehe dazu, Tabus gebrochen zu haben. Ja, ich habe Leichen exhumiert!«

Das Raunen hatte Eorthor erwartet. Er wartete, bis es sich gelegt hatte und fuhr fort: »Ich habe es getan, weil ich wissen wollte, wie ein Unsterblicher an einem Herzversagen sterben konnte!«

Diesmal schwiegen die Alysker, die halbkreisförmig um ihn herum standen oder saßen.

»Und weil ich wissen wollte, wieso alle Tode nur mit dem lapidaren Vermerk Unfalltod in den offiziellen Dateien versehen werden! Und warum mir als Oberstem Ratssprecher die Zugriffsberechtigung auf die Unfallstatistiken im Ratsrechner verweigert wurde. Und ihr werdet nicht glauben, was ich trotz aller Hindernisse herausgefunden habe!«

Eorthor beobachte Shaojun. Er saß äußerlich entspannt auf einem der großen Steine. Innerlich machte er sich bereit und konzentrierte seine Energien.

»In den letzten achtzig Millionen Jahren sind insgesamt vierundzwanzig Millionen Alysker ums Leben gekommen. Zehn Millionen davon im Kampf gegen die Ylors, die anderen bei Unfällen!«

Noch erkannten die Ratssprecher keinen Zusammenhang.

»Bei meinen Recherchen fand ich Aufzeichnungen meines Vaters, die mir weiterhalfen und mir den Zusammenhang erläuterten.« Eorthor vergewisserte sich, dass ihm alle Ratsmitglieder die volle Aufmerksamkeit schenkten. »Ein Ratssprecher beschloss vor langer Zeit, sich den Kosmokraten nicht länger zu beugen. Wenn sich ein Alysker töten wollte, nun, dann sollte er es auch tun können. Daran ist nichts auszusetzen. Wäre da nicht die Art, wie dieser Alysker den Fluch der Kosmokraten umgangen hat!«

Eorthor setzte eine Kunstpause, gerade lange genug, um seinen Kollegen die Chance zu geben, das Gehörte zu verarbeiten. »Dieser Ratssprecher hat Nicht-Alysker beauftragt, die Todessüchtigen zu ermorden!«

Raunen. Schreie. Tumult. Doch die Ratsmitglieder beruhigten sich wieder.

»Einer aus unserer Mitte hat Kontakt mit der Hunluan, der mächtigsten Verbrecher-Organisation der Galaxis aufgenommen und hat mit dem Anführer ein Abkommen geschlossen: Morde gegen Technologie!«

Der Schock stand den Alyskern ins Gesicht geschrieben.

»Ihr habt richtig gehört! Die Ergebnisse unserer Forschungen sind in Verbrecherhand gelangt! Wir haben Millionen von Jahren für den technologischen Vorsprung einer galaxisweit tätigen Verbrecherorganisation gesorgt. Während wir uns gewundert haben, warum den Hunluan nicht beizukommen war, hat sich in unserer Hauptstadt der zweitwichtigste Sitz dieser Verbrecherorganisation etabliert, getarnt als Wirtschaftsunternehmen. Von dort aus wurden die Morde und der Technologietransfer organisiert!«

Er fühlte das Entsetzen, das seine Ratskollegen ergriffen hatte.

»Wir, ein friedlich orientiertes Volk, wir, meine Freunde, haben Tod und Verderben über die Galaxis gebracht!«

»Nenn uns seinen Namen!«, forderte Retag.

»Eorthor sagt nicht die ganze Wahrheit!« Shaojun trat nach vorne. »Wir haben keine Waffentechnologie geliefert, sondern nur zivil nutzbare Geräte! Und er verschweigt etwas Wichtiges: Die Selbstbestimmung der Alysker! Jeder soll frei bestimmen, wann es für ihn Zeit ist abzutreten!«

»Nicht durch die Hand eines anderen! Und schon gar keine vierzehn Millionen!«

»Was weißt du vom Elend der Unsterblichkeit? Du, Eorthor, thronst auf deinem Mond und machst, was du willst. Du, Eorthor, schaffst dir neue Herausforderungen! Nicht alle besitzen deine Ausbildung und dein Genie. Sie sind es, die durch die Unsterblichkeit leiden! Kennst du ihre Schmerzen? Kennst du ihre Sehnsucht nach dem Vergessen? Nach der Dunkelheit? Kennst du sie?«

Eorthor nickte.

»Ja, Shaojun, ich kenne sie! Auch für mich bedeutet die Unsterblichkeit an manchen Tagen eine Last!«

»Du bist ein Kämpfer! Ein Kämpfer, den ich geschliffen habe!«

»Nicht nur du!«, schränkte Eorthor sofort ein. »Du hast mich gelehrt, nur im Notfall zu kämpfen und nur als letztes Mittel zu töten.«

Shaojun besaß die Frechheit zu nicken.

»Warum, Shaojun, hast du meinen Vater ermorden lassen?«

Nur das schrille Kreischen eines Vogels störte die Stille des Augenblicks.

»Vielleicht, weil er dir zu nahe gekommen ist?«

»Nargul hat mich unterstützt!«

»Aber nur zögerlich! Als er nach zehn Millionen Jahren erkannte, dass du deine Macht missbrauchst, hat er sich von dir abgewandt und wollte den Rat damit befassen! Du hast es verhindert, indem du ihn hast töten lassen!«

Shaojun schwieg.

»Der Forderung nach Beweisen komme ich gerne nach. Ich habe die Aufzeichnungen meines Vaters gefunden.«

Triumphierend hielt er den Speicherchip in die Höhe. Gemurmel erhob sich von den Rängen.

»Du warst schon immer ein Meister der Datenmanipulation!«, versuchte Shaojun seine Glaubwürdigkeit zu erschüttern.

»Shaojun, lassen wir unsere Privatdiskussion! Es ist nicht wichtig, was ich zu sagen habe. Wichtig ist, wie der Rat über deine Taten urteilt!«

»Und über deine!«

»Ich füge mich dem Ratsspruch zu meinen Tabuverletzungen!« An seine Ratskollegen gewandt, sagte er: »Wer dem alyskischen oder einem anderen Volk unwiderruflichen Schaden zufügt, indem er unerlaubter Weise Wissen weitergibt, dem sind die Bürgerrechte zu entziehen.«

Eorthor behielt Shaojun im Auge.

»Aufgrund der vorgelegten Beweise beantrage ich die Aberkennung der Bürgerrechte für Shaojun!«

Es gab keine schlimmere Strafe für einen Alysker. Der so Bestrafte wurde lebenslänglich von Alysk verbannt.

»Welche Beweise habt ihr gesehen? Welche Beweise hat er vorgelegt?«, fragte Shaojun.

»Verzeih meine Vergesslichkeit, Shaojun!«

Eorthor drückte einen Sensor an seinem Multifunktionsarmband. Dort, wo sich zuvor Eorthor versteckt gehalten hatte, wurde ein männlicher Körper sichtbar. Durch einen weiteren Sensordruck beförderte Eorthor den gefesselten Mann nach unten.

»Darf ich vorstellen: Raut, der hiesige Chef der Hunluan. Er wird euch meine Worte bestätigen.«

Shaojun drehte sich langsam zu Eorthor um. »Es interessiert mich nicht, wie der Rat entscheidet! Mich interessiert vielmehr, wie du gedenkst, gegen mich zu gewinnen?« Er nahm die traditionelle Kampfposition der Alysker ein.

»Keine Ehrbezeugung heute? Die Manieren hast du also auch über Bord geworfen … so wie die Moral!«

Eorthor legte die Fäuste vor der Brust aneinander, verneigte sich und stellte sich Shaojun gegenüber.

»Was ist das für eine Haltung, Tudi?«, fragte Shaojun und benutzte für das Wort Schüler die Sprache der Ahnen.

Eorthor fand es nicht der Mühe wert, darauf zu antworten. Shaojun würde früh genug herausfinden, dass er von anderen Völkern gelernt und so seinen Kampfstil verfeinert hatte.

Sie umkreisten sich. Jeder belauerte den anderen.

»Bitte, Shaojun und Eorthor!«, rief Retag. »Dies ist nicht der Ort, um zu kämpfen. Dies ist der Berg der Ahnen, ein Ort des Friedens!«

Shaojun und Eorthor verständigten sich kurz mit Blicken. Sie ignorierten diesen Einwand. Einer von beiden würde diesen Berg als Sieger verlassen, einer als Besiegter. Es gab keinen anderen Ausweg.

Shaojun machte einen Ausfallschritt, auf den Eorthor nicht reagierte. Damit konnte er einen Schüler mit tausend Jahren Unterricht bluffen, nicht jedoch Eorthor. Mühelos wehrte er den Schlag seines ehemaligen Meisters ab. Blitzschnell setzte er mit der linken nach und ging wieder auf Distanz.

»Du bist gut geworden«, sagte Shaojun und wischte sich das Blut von den Lippen.

Eorthor verneigte sich leicht, weil er hoffte, Shaojun damit aus der Reserve zu locken. Er behielt Recht. Wie eine Dampfwalze raste der Oberste Kriegssprecher und Philosoph auf ihn zu und deckte ihn mit einer ganzen Serie von Schlägen ein. Eorthor ließ sich zu Boden fallen, verdrehte seinen linken Fuß und brachte Shaojun damit zu Fall. Der nächste Schlag von Eorthor ging ins Leere. Shaojun hatte die Stellung gewechselt.

Beide marschierten einmal im Kreis. Als Eorthor mit dem Rücken zum Abgrund stand, sprang Shaojun. Eorthor wartete und ließ sich im letzten Moment fallen. Shaojun segelte über ihn hinweg und verhakte sich mit dem rechten Fuß an seiner Hüfte. Eorthor hebelte Shaojun mit aller Kraft aus, verdrängend, dass er ihn damit zwei Kilometer in die Tiefe beförderte.

Ein langgezogener Schrei durchdrang die Stille.

Eorthor blickte hinab. »Ups«, kommentierte er Shaojuns Fall, um dann seinen ehemaligen Lehrer zu zitieren: »Alles Leben ist ungewiss, nur der Tod bringt Gewissheit!«

Einige Ratsmitglieder waren aufgesprungen und an die Kante des Felsens geeilt. Sie bekamen Shaojuns Körper nur mehr als diffusen Strich zu sehen, der fiel und in den Boden krachte.

»Gibt es noch irgendwelche Unklarheiten, die ich beseitigen könnte?«

Keiner meldete sich.

»Dann ist es mir eine Freude, die außerordentliche Sitzung mit den traditionellen Worten zu beenden: Nach reiflicher Überlegung und mit Hilfe des Kosmos ist es vollbracht!«

Gegenwart

Ich streckte mich und ignorierte das Knacken einzelner Wirbel. Denise Joorn gähnte, während Icho Tolot noch in der gleichen Stellung verharrte, wie zu Beginn der Erzählung. Alaska Saedelaere hatte es sich am Boden bequem gemacht, Roggle schlief und Leopold und de Funés hingen geradezu in den Sesseln. Ich konnte nicht glauben, dass dieser so ruhig wirkende Alysker einmal ein richtiges Ekel gewesen sein sollte.

»Interessante Geschichte«, kommentierte ich. »Allerdings fehlt der kosmische Bezug, Stichwort DORGON!«

»Hast du mir zugehört?« Eorthor richtete sich abrupt auf. Die Erinnerungen schienen seine Lebensgeister geweckt zu haben. Er wirkte elanvoller. »Habe ich gesagt, dass ich mit meinem Bericht schon am Ende bin?«

Ich ignorierte diesen Rückfall in alte Gewohnheiten. »Hast du nicht! Bitte fahre fort!«

»Du forderst kosmischen Bezug?«, fragte er, während ich ihn mir in seiner aktivsten Phase vorstellte. »Sei vorsichtig, was du dir wünscht, du könntest es bereuen«, wurde ich belehrt. Ich schenkte ihm ein imperatorisches Lächeln. Auch ich konnte hochnäsig sein.

»Ich erzähle dir etwas über zwei kosmische Geschwister …«

ENDE

Atlan und seine Gefährten begegneten dem 190 Millionen Jahre alten Alysker Eorthor und erfuhren einen Teil der Geschichte seines Volkes. Nun wird klar, in welch große kosmische Zusammenhänge ihre Leben verstrickt sind. Mehr über das Schicksal der Alysker und der Kosmotarchen DORGON und MODROR schreibt Roman Schleifer in Band 86:

ELYN

DORGON-Kommentar

Whow, welch eine Eröffnung! Unsterbliche, die ihr Alter nach Millionen von Jahren zählen! Wie viele Zivilisationen, wie viele Völker haben sie kommen und gehen sehen? Allein die Frage, ob Unsterblichkeit Segen oder Fluch bedeutet, wenn sie in Jahrmillionen gemessen wird, würde eines philosophischen Disputs würdig sein. Aber wenden wir uns einem näherliegenden Thema zu:

Was für ein Experiment sollten die Alysker für die Kosmokraten durchführen?

Mir drängten sich beim Lesen des Romans einige Schlussfolgerungen auf, die die Machenschaften der Hohen Mächte, ihre wahren Ziele immer fragwürdiger erscheinen lassen. Für mich sieht es ganz danach aus, dass das eigentliche Ziel der Kosmokraten die Durchbrechung der natürlichen Evolution im Zwiebelschalenmodell war, d. h. sie wollten faktisch künstlich für ihren Nachwuchs sorgen. Fragen wir uns einmal, was ein Erfolg der Alysker unter diesen Prämissen bedeutet hätte.

Zuerst will ich nochmals die den Terranern bis jetzt bekannten Fakten hinsichtlich der Evolutionsschritte kurz zusammenfassen, die angeblich in den Hohen Mächten gipfeln:

Ein Volk gibt irgendwann im Laufe seiner Entwicklung die körperliche Existenz auf und existiert auf geistiger Ebene weiter. Aus diesen Geisteswesen entwickelt sich unter unbekannten Umständen und Voraussetzungen, durch Verschmelzung der geistigen Individuen zu einer Einheit, eine Superintelligenz, die eine oder mehrere Galaxien als ihre Mächtigkeitsballung betrachtet. Je nachdem, ob in dieser Entität positive oder negative Charaktereigenschaften überwiegen, entsteht aus ihr, wieder unter absolut unbekannten Bedingungen, entweder eine Materiesenke oder eine Materiequelle. Diese bilden quasi die Keimzelle für den nächsten Evolutionsschritt, der dann entweder zu einem Kosmokraten oder zu seinem negativen Gegenbild, dem Chaotarchen führt.

Bereits hier möchte ich anmerken, dass mir diese Informationen äußerst fragwürdig erscheinen. Die bisher bekannten Handlungen der positiven Kosmokraten zeigen, dass zumindest ihre Auffassung von Moral und Wesenswürde nicht mit der menschlichen Sichtweise vereinbar ist. Im Gegenteil, mir scheint, dass der Unterschied zwischen den Hohen Mächten nicht mit moralischen Maßstäben gemessen werden kann. Für ein Volk macht es keinen Unterschied, ob es im Interesse der Kosmokraten oder der Chaotarchen geopfert wird. Das Ergebnis ist in beiden Fällen gleich: Ein intelligentes Volk wird ausgelöscht!

Ich persönlich melde hier meine Zweifel an, vor allem, da unsere Informationen ausschließlich von den Kosmokraten stammen und somit in meinen Augen absolut unglaubwürdig sind. Ich glaube, dass Perry Rhodan und den Terranern in dieser Hinsicht noch einige unliebsame Überraschungen bevorstehen.

Dass ich so meine Zweifel an den moralischen Zielen der Kosmokraten hege, habe ich bereits versucht darzulegen. Für mich haben sie immer höchst zwiespältige Ziele verfolgt, die meiner Meinung nach nur ihrer eigenen Machterhaltung dienen.

Ich erinnere in diesem Zusammenhang an Si Kitu, die sich über die Kosmokraten folgendermaßen äußerte (Kurt Mahr, PR#1271: »Finale in der Tiefe«):

»Ich bin die Hüterin des Zweiten Gesetzes der Thermodynamik. Die Kosmokraten handeln ihm zuwider, indem sie eine starre Ordnung erschaffen und diese bis ans Ende der Zeit aufrecht erhalten wollen.«

Die Handlungen der Kosmokraten zeigen, dass für sie in erster Linie die Erhaltung ihrer Machtstellung im Vordergrund steht. Für dieses Ziel gehen sie buchstäblich über die Leichen ganzer Völker. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Begründung, die sie für die Manipulation des hyperphysikalischen Widerstandes anführten, die zur so genannten Hyperimpedanz der aktuellen Handlung führte:

… um die Ausbreitung des Lebens, das überhand nimmt, einzudämmen.

Überlegen wir einmal kurz, warum die Ausbreitung des Lebens eine Gefahr für die Kosmokraten darstellt. Aus den bisher bekannten Informationen wissen wir, dass es eine Art kosmischer Evolution gibt, die angeblich in den Materiequellen oder Materiesenken als Vorstufe der Kosmokraten bzw. Chaotarchen gipfelt. Dieses Weltbild ist absolut statisch: auf der einen Seite die positiven Kosmokraten und auf der anderen Seite die negativen Chaotarchen.

Wer sagt uns eigentlich, dass dieses Bild so stimmt?

Was wäre, wenn es noch ganz andere Möglichkeiten der Kosmischen Evolution gäbe, die eben nicht unter der Kontrolle der Dualität von Kosmokraten und Chaotarchen stehen?

Bis jetzt ist die Menschheit nur einer Höheren Macht begegnet, die nicht in diese Dualität passt, nämlich der Mutter der Entropie, Si Kitu. Diese Wesenheit ist in ihren Zielen noch undurchsichtiger als Kosmokraten und Chaotarchen. Allerdings hat sie in ihren Handlungen bereits mehrfach bewiesen, dass sie der Menschheit zumindest nicht feindlich gegenübersteht.

Das aktuelle Ziel der Kosmokraten scheint zu sein, genau diese Möglichkeiten zu verhindern. Denn die Eindämmung des Lebens scheint für mich nur dann einen Sinn zu ergeben, wenn die Kosmokraten eben die Entstehung von Wesenheiten verhindern wollen, die nicht unter ihrer Kontrolle stehen. Es scheint so, dass aus der Vielfalt des Lebens eine Gefahr für die Machtstellung der Kosmokraten entstehen könnte. Und dieser Gedanke bringt uns wieder zurück zum Experiment der Alysker.

Ich glaube, dass die Alysker von den Kosmokraten den Auftrag erhalten hatten, künstlich Materiequellen zu schaffen, quasi als ihre Kinderstube. Der Vorteil läge auf der Hand: Sie wären von der natürlichen Evolution unabhängig und könnten sich ihren eigenen Nachwuchs heranziehen. Und genau dieses für die Kosmokraten so wichtige Experiment ging durch den kleinen Fehler der Alysker schief. Es entstand keine Materiequelle, sondern es war die Geburtsstunde der Entitäten DORGON und MODROR, die völlig außerhalb der Kontrolle der Kosmokraten, sogar außerhalb der kosmischen Evolution stehen. Diese Entitäten verkörpern, praktisch als Zwillings-Brüder, im Falle DORGONs das absolute Gute und im Falle MODRORs das absolute Böse.

Jürgen Freier

GLOSSAR

Eorthor

Der Anführer der Alysker ist ein begabtes Genie, aber auch ebenso arrogant und eitel.

Eorthor, Sohn des Nargul, ist der bedeutendste Alysker. Geboren vor 190 Millionen Jahren, fühlt sich Eorthor stets dazu auserkoren, auf der kosmischen Bühne zu stehen – kosmischen Applaus zu erhalten. Sein Talent und seine außergewöhnlichen Fähigkeiten machen den hochgewachsenen Alysker arrogant und egozentrisch. Er ist von sich so überzeugt, dass er nur noch auf sich selbst hört.

Nach dem Scheitern des kosmischen Projektes und dem Fluch der Kosmokraten, der jeden Alysker relativ unsterblich macht, ist Eorthor verbittert und gibt seinem Volk die Schuld. Im Laufe der Jahrmillionen wird er trotzdem der Anführer der Alysker und sieht sich genötigt, sich mit DORGON zu verbünden. Unter Eorthor entsteht das Kreuz der Galaxien, ein wichtiger Verbündeter DORGONs im Kampf gegen MODROR. Die Alysker entwickeln viel Technologie, darunter auch das UTRANS-System der Kemeten und eine 7-D-Bombe.

Nach vielen Millionen Jahren verliebt sich Eorthor und zeugt schließlich sein Kind Elyn. Nachdem Vater und Tochter endlich zueinander gefunden haben, wird Eorthor menschlicher. Das Kreuz der Galaxien bricht zusammen und die Alysker versinken in der Bedeutungslosigkeit. Dies lässt Eorthor verbittern und abstumpfen. Er träumt immer noch davon, sich auf kosmischer Bühne zu rehabilitieren.

Alysker

Das Volk entstammt dem Galaxienverbund »Kreuz der Galaxien«, beheimatet ist es auf der Welt Alysk in der Galaxie Jianxiang. Die Alysker (der Alysker, die Alyske) sind humanoid und ähneln den Terranern, bis auf wenige Kleinigkeiten: Sie tragen spitze Ohren und haben um Nuancen größere Augen. Ihre Haare sind zumeist lang, gleich ob Mann oder Frau, sie sind dünn und wirken sehr ästhetisch und anmutig. Die Alysker erinnern an Fabelwesen aus terranischen Märchen und Sagen.

Vor 190 Millionen Jahren befinden sich die Alysker auf einem zivilisatorischen Höhepunkt. Als frisches, junges Volk agieren sie im Auftrag der Kosmokraten. Ihre außergewöhnlichen wissenschaftlichen Fähigkeiten zeichnen sie aus. Sie unterstützen die Kosmokraten im Kampf gegen den Chaotarchen NACHJUL.

Der Alysker Nargul führt sein Volk siegreich in die Schlacht. Als Dank erhalten sie einen kosmischen Auftrag, der etwas mit diesem Chaotarchen zu tun hat.

Nargul, der Vater von Eorthor, ist ein Nachfahre des legendären Nargul, der als Vater der Alysker gilt. Er vollendet genau 21.500 Jahre nach dem Sieg des Nargul über NACHJUL das Projekt.

Der Auftrag schlägt aufgrund falscher Berechnungen fehl. Die Auswirkungen sind verheerend.

Die Kosmokraten bestrafen die Alysker. 450 Millionen Alysker werden sofort getötet, 50 Millionen mit dem Fluch der Unsterblichkeit bestraft. Sie sind relativ unsterblich, nicht in der Lage, sich selbst zu töten oder den Befehl einem anderen zu geben. Wenn sie länger als dreißig Tage von ihrer Heimat entfernt sind, verwandeln sie sich in einen Ylors, einen mutierten, entstellten Alysker.

Die Alysker existieren 190 Millionen Jahre in relativer Unsterblichkeit und müssen den Untergang ihres Reiches mitansehen. Sie ziehen sich auf die Eiswelt Alysk II zurück und fristen dort ihr Dasein.

Nargul

Der Ratsführer der Alysker wird vor rund 190 Millionen Jahren geboren. Er ist hochgewachsen, hager und hat langes, graues Haar.

Nargul tritt damit in die Fußstapfen seines Urahns, der den Kosmokraten half, NACHJUL empfindlich zu schlagen, so dass er sich nicht mehr von der Niederlage erholte. Damals begann die Einleitung zum kosmischen Projekt.

Nargul wird 21.500 Jahre nach dem Sieg seines Urahns mit der Vollendung beauftragt. Inzwischen wird Narguls Sohn Eorthor geboren und wächst zu einem talentierten Wissenschaftler heran.

Nargul ließ einen gravierenden Fehler in den Berechnungen zu und hatte damit zu kämpfen, dass er nicht nur das Vertrauen seines Volkes, sondern auch seines Sohnes verloren hatte.

Nargul regierte die Alysker weiter, musste sich aber immer wieder vor seinem Sohn rechtfertigen. Das Verhältnis war angespannt. Schließlich stand Eorthor dennoch zu ihm, was Nargul wenig nützte. Er wurde von seinem Vertrauten Shaojun vor vielen Millionen Jahren ermordet.

Shifu Shaojun

Der Oberste Kriegssprecher und Philosoph der Alysker ist der Kampflehrer und Mentor von Eorthor. Dieser sieht in Shaojun eine Art Vaterersatz. Jedoch lässt sich Shaojun von der Macht verführen und ermordet Eorthors Vater. Als Eorthor dies herausfindet, duelliert er sich mit Shaojun. Dabei stirbt der Oberste Kriegssprecher und Philosoph.


Die DORGON-Serie ist eine nicht kommerzielle Publikation des PERRY RHODAN ONLINE CLUB e. V. — Copyright © 1999-2016

Internet: www.proc.org & www.dorgon.netE-Mail: proc@proc.org

Postanschrift: PROC e. V.; z. Hd. Nils Hirseland; Redder 15; D-23730 Sierksdorf

— Special-Edition Band 85, veröffentlicht am 12.12.2016 —

Titelillustration: Lothar Bauer • Innenillustrationen:

Lektorat: Alexandra Trinley • Digitale Formate: René Spreer